Toni Hartl

WOM


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      Ermana, Walgins Mutter, hatte ihrem Mann allerdings kaum zugehört, als er nach sechs Tagen sinnlos betrunken heimgekehrt war und mit stolzgeschwellter Brust erzählte, wie er in Selmthorn den Bürgermeister höchstpersönlich übers Ohr gehauen hatte.

      In den darauf folgenden Tagen war Walgin nicht müde geworden, von den Erlebnissen der Reise zu berichten. Als er aber bemerkt hatte, dass Nondol etwas eifersüchtig auf „seine Abenteuer“ reagierte, zwang er sich dazu, nicht mehr so häufig darüber zu sprechen.

      Was letztendlich bei dem Handel mit dem Goldklumpen herausgesprungen war, blieb für immer Sepons Geheimnis. Niemand durfte ihn je danach fragen, ohne eine ärgerliche Antwort zu erhalten.

      Alles, was man im Dorf mitbekommen hatte, war die Tatsache, dass Sepon den Wagen voller Werkzeug und Einrichtungsgegenstände nach Hause gebracht hatte. Jede Familie in Grondel hatte eine Axt, eine Säge, ein scharfes Messer, sowie einige Töpfe, Pfannen und noch mehrere andere nützliche Utensilien geschenkt bekommen. Die Freude war seinerzeit so groß gewesen, dass bereits am nächsten Tag ein Fest ausgerichtet wurde, bei dem man sowohl Sepons Glück, als auch seine Großzügigkeit gefeiert hatte.

      Unvermittelt wurde Nondol aus seinen Gedanken gerissen, als sich eine freche Fliege summend auf seinem linken Augenlid niederließ. Er verjagte das lästige Insekt, setzte sich seufzend auf, schlang die Arme um seine angewinkelten Knie und gähnte einmal herzhaft.

      Wie schon so oft genoss er es auch diesmal, in der warmen Jedulsonne (Jedul = Juni) auf der kleinen Lichtung am Rande der Hohen Wand zu sitzen und hinunter zu blicken auf das beeindruckende Tal, das sich am Fuße der Felswand vor ihm erstreckte. Er konnte in diesem Augenblick ja nicht ahnen, wie unfassbar schicksalhaft dieser sonnige, warme Tag für ihn werden sollte.

      Hier oben war er ein König. Ja, hier oben fühlte Nondol sich wie ein Herrscher, der von den höchsten Zinnen seines Schlosses auf sein Reich hinab blickte und für gut befand, was er sah.

      Nondol hatte zwar noch nie ein Schloss gesehen aber Mingar, sein Großonkel, hatte ihm viele Geschichten erzählt von den gewaltigen Königshäusern, wie er sie nannte, von den Menschen, von Angst einflößenden Ungeheuern, Flugechsen und noch vielen anderen unbekannten aber faszinierenden Dingen.

      Insbesondere die Menschen übten auf Nondol eine große Faszination aus. Nach Mingars Beschreibung sahen sie eigentlich genau so aus, wie die Belmaner, nur waren sie wesentlich größer.

      Als Mingar sie zum ersten mal beschrieb, neckte er Nondol, indem er sagte: „Ja ja, mein Junge, wenn du ein Menschenmädchen küssen wolltest, müsstest du dich auf Walgins Schultern stellen und Dich an den goldenen Zöpfen des Mädchens festhalten“.

      Dann hatte er schallend gelacht und Nondols Gesicht war vor Verlegenheit so rot angelaufen, als hätte er sich mit Mohnblumensaft eingerieben.

      Nondol war überzeugt, dass Mingar ziemlich übertrieben hatte, was die Größe der Menschen betraf. Dass sie aber hochgewachsener sein mochten, als ein Belmaner, glaubte er durchaus.

      Nondol löste sich aus seinen Tagträumen und erhob sich. Vorsichtig bewegte er sich auf dem weichen Gras nach vorne, bis er nur noch etwa drei Schritte vor der senkrecht abfallenden Felswand stand. Es wäre gefährlich gewesen, noch weiter an den Abgrund heran zu treten. Leicht konnte sich ein Stück des mit Gras bewachsenen Erdreiches lösen, das hier den Felsen bedeckte, und ihn mit in die Tiefe nehmen.

      Eine leichte Gänsehaut lief ihm bei diesem Gedanken über den Rücken. Die Hohe Wand war gefährlich. Sie bestand aus glattem Fels, fiel senkrecht ab und war mindestens so hoch, wie 20 große Tannenbäume. Auf halber Höhe der Wand ergoss sich aus dem Felsmassiv heraus ein Wasserfall, der rauschend in die Tiefe stürzte und tief unten, wo er auf dem steinigen Grund auftraf, ein ständiges Tosen erzeugte, das hier oben in dieser Höhe allerdings nur noch gedämpft zu hören war.

      An warmen Tagen, so wie heute, bildete sich durch das verdunstende Wasser ein Nebelschleier, der manchmal bis an die Kante reichte, an der Nondol sich jetzt so weit nach vorne gewagt hatte. Gelegentlich, wenn die Sonne in der richtigen Position stand, geschah es, dass sich darin ein Regenbogen bildete, der sich beinahe zu einem perfekten Kreis schloss. Mehrmals schon hatte er dies zusammen mit Walgin beobachtet.

      Nondol war überzeugt, dass dies der einzige Ort war, von dem aus man einen ringförmigen Regenbogen von oben betrachten konnte und es erfüllte ihn mit Stolz, weil dies „sein Platz“ war. Nun ja – seiner und Walgins Platz.

      Lange schaute er gedankenverloren hinunter. Auch wenn er diesen Anblick schon so oft genossen hatte; er würde sich wohl nie daran satt sehen können. Der Fluss namens Jemboch, der – geboren durch den Wasserfall – dort unten seinen Lauf nahm, schlängelte sich glitzernd durch ein tiefes Tal, das beiderseits durch steile, bewaldete Hänge gesäumt wurde. Begünstigt durch die hohe Position, in der Nondol sich hier befand, konnte er ein gutes Stück des Flusslaufes einsehen, bis sich das Tal weit im Westen in einer Rechtsbiegung dem Blick entzog.

      Ein lautes Kreischen lenkte seinen Blick nach oben. Die beiden Adler hatten sich inzwischen aus den höheren Luftregionen weiter nach unten geschraubt und schienen etwas aufgeregt. Nondol vermutete, dass sich irgendwo unter ihm in einer Felsnische der Horst befand. Womöglich saßen ein oder zwei Junge darin, die – geplagt von Hunger - bereits ungeduldig auf die Rückkehr ihrer Eltern warteten. Und die beiden Adler wagten es nicht, das Nest anzufliegen, weil ein neugieriger Belmaner sich hier herumtrieb. Sie konnten ja nicht wissen, dass er nichts Böses im Schilde führte. Im Gegenteil; er war froh, wenn die großen Vögel ihn in Ruhe ließen. Nach Mingars Erzählungen war es in der Vergangenheit mehr als einmal geschehen, dass kleine Belmanerkinder von Adlern verschleppt wurden. In den meisten dieser Fälle hatten sich die Kleinkinder, alle im Alter von zwei oder drei Jahren, mit ihren Eltern bei der Feldarbeit befunden.

      Nondol konnte sich durchaus vorstellen, dass ein Adler so ein kleines Geschöpf, vor allem, wenn es auf allen Vieren auf der Wiese herumkrabbelte, für Beute hielt und es mitnahm, um seine Jungen damit zu füttern. Eine schreckliche Vorstellung zwar, aber Nondol lag es fern, die Adler deshalb als böse oder grausam zu bezeichnen. Er glaubte zwar nicht, dass er gefährdet sein könnte, denn er zählte immerhin schon 15 Jahre und war für sein Alter sogar ziemlich groß und kräftig. Trotzdem konnte es nicht schaden, diesen riesigen Vögeln mit Respekt zu begegnen.

      Wenn da unten im Horst wirklich junge Adler saßen, konnte es durchaus sein, dass die Elterntiere in ihm eine Bedrohung sahen und sich veranlasst fühlten, ihren Nachwuchs zu verteidigen. Soeben wollte er sich deshalb etwas weiter vom Rand des Abgrundes zurückziehen, als er gerade noch bemerkte, wie der größere der beiden Vögel – vermutlich der Adlervater – die Flügel etwas anwinkelte und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit schräg von oben direkt auf ihn zustürzte.

      Nondol ging zwar nicht davon aus, dass der Greif vorhatte, ihn zu töten. Trotzdem wollte ihn der Schrecken beinahe lähmen, als er bemerkte, mit welcher Geschwindigkeit der Vogel sich ihm näherte. Rasch drehte er sich deshalb um und lief, so schnell es ihm seine Beine erlaubten, über die Lichtung auf den Waldrand zu. Ich muss rechtzeitig die Bäume erreichen, war sein einziger Gedanke.

      „Merk dir eines“ hatte Mingar einst gesagt „ein Adler verfolgt seine Beute niemals ins dichte Unterholz, weil er sich dort die Flügel brechen könnte.“ Hoffentlich hatte er recht!

      Nondol glaubte, noch nie im Leben so schnell gelaufen zu sein. Bereits nach wenigen Schritten trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Mit einem Mal befiel ihn eine panische Angst und er versuchte, seine Laufgeschwindigkeit noch einmal zu erhöhen.

      Nur noch 30 Schritte!

      Nondol lief, als wäre ein Rudel hungriger Wölfe hinter ihm her.

      Nur noch 20 Schritte.

      Ein lautes Kreischen drang von hinten an seine Ohren!

      Schon glaubte er das leise Rauschen zu vernehmen, das entstand, wenn die Adlerflügel pfeilschnell die Luft