Dass du ihn auf Loskas Rücken festgebunden hast, war eine gute Idee. Es war zwar riskant, aber es war die einzige Möglichkeit, damit er schnell genug nach Hause kam. Aber das wirst du selbst am besten wissen.“
„Ich hab ihm schon gesagt, dass wir stolz sind auf ihn“ meldete sich seine Mutter zu Wort und Walgin konnte aus den Augenwinkeln erkennen, dass sein Vater zustimmend nickte. Mingar sah ihn mit einem Lächeln an und sagte: „Ja, das dürft ihr auch sein. Der Junge hat dort draußen eine schwere Entscheidung getroffen. Und was das Wichtigste ist - sie war richtig.“
So viele lobende Worte waren beinahe zu viel für Walgin. Es freute ihn, dass seine Tat Anerkennung fand. Noch mehr erbaute ihn aber, dass er Nondol damit geholfen, ja möglicherweise sogar das Leben gerettet hatte. Weniger gefiel ihm die Art, wie Mingar und seine Mutter mit ihm redeten. Sie sprachen in einem Ton mit ihm, als hätten sie einen kleinen Jungen vor sich, der dafür gelobt wird, dass er so brav seinen Hirsebrei aufgegessen hat. Es war aber jetzt nicht die Zeit, sich darüber zu beklagen. Er würde seine Mutter bei passender Gelegenheit darauf ansprechen.
Als ob sein Vater seine Gedanken erraten hätte, meldete er sich – in einem Tonfall, bei dem Walgin sich schon wesentlich erwachsener vorkam - zu Wort und fragte: „Jetzt würde mich aber schon interessieren, was eigentlich vorgefallen ist und vor allem, wo sich das Ganze zugetragen hat. So viel ich weiß, war Nondol ja nicht mehr in der Lage, viel zu erzählen, als er hier ankam.“
„Das stimmt“ setzte Mingar das Gespräch fort. „Als ich ihn von Loskas Rücken hob und in die Hütte trug, phantasierte er etwas von einem Adler und einem Stock.“ Und dann wieder an Walgin gewandt „Ich nehme an, die Rückenwunde hat ihm ein Adler zugefügt. Mit dem Stock wird er sich wohl verteidigt haben.“
„Nein, das mit dem Stock war ich“ warf Walgin ein.
Als er in die erstaunten Gesichter blickte, beeilte er sich, weiter zu sprechen. Es brannte ihm auf dem Herzen, die ganze Geschichte endlich los zu werden und so sprudelte es regelrecht aus ihm heraus, als er fortfuhr. „Ich hab doch Nondol heute bei der Feuchtwiese gesucht und da war er nicht. Da hab ich Loska gesattelt und bin zur Lichtung bei der Hohen Wand geritten. Dort hab ich Nondol dann gesehen, als er gerade in das Tal hinab blickte. Gerade als ich zu ihm hingehen wollte, ist der Adler auf ihn zugestürzt. Nondol wollte in den Wald fliehen, ist aber hingefallen und der Adler hat ihn mit seiner Kralle noch am Rücken erwischt. Ich hab schnell einen Stock nach dem Adler geworfen und ihn am Schnabel getroffen. Da ist er wieder weg und Nondol hat mich gar nicht gesehen. Er ist in den Wald gelaufen und ich bin hinterher. Er ist so schnell gerannt, da hab ich ihn erst suchen müssen. Als ich ihn endlich gefunden hatte, da haben wir zuerst gar nicht bemerkt, dass er verletzt ist. Erst später hab ich das gesehen. Dann wurde er immer schwächer. Ich hab ihn auf Loska gesetzt aber er konnte sich kaum noch alleine festhalten. Naja ... und da bin ich auf die Idee gekommen, ihn festzubinden. Das war oben auf der Anhöhe bei den grauen Eichen.“
Er legte eine kurze Verschnaufpause ein, fuhr aber dann rasch fort, als er die erwartungsvollen Blicke seiner aufmerksamen Zuhörer bemerkte: „Naja...so war das. Loska brachte ihn dann ja wohl nach Hause. Das Weitere wisst ihr ja besser als ich.“
Walgin atmete mehrmals tief durch und fühlte sich nun, da er das Geschehene endlich jemandem erzählt hatte, sehr erleichtert. Er hatte sich möglichst kurz gefasst und bewusst verschwiegen, wie nahe an der Felswand stehend er Nondol angetroffen hatte. Für den Ablauf des Geschehens hielt er es für bedeutungslos. Außerdem ging er davon aus, dass Nawina die Geschichte später von Mingar erfahren würde und er wollte Nondols Mutter nicht unnötig schockieren. Ihre Eltern sahen es ohnehin nicht gerne, wenn er und Nondol sich an der Hohen Wand aufhielten.
„Nun ja“ setzte Mingar wieder an „so ungefähr hatte ich mir das Ganze schon vorgestellt. Ich denke, die Adler werden wohl einen Horst in der Wand haben. Ein Adler greift schon mal an, wenn er seine Jungen in Gefahr sieht. Nondol hätte das eigentlich wissen müssen. Diesen Vorwurf kann ich ihm nicht ersparen. Aber das ist jetzt nicht so wichtig.“
Wieder sah er Walgin mit einem Lächeln an und griff, in fast zärtlicher Weise, nach dessen Hand. „Jetzt müssen wir erst einmal dafür sorgen, dass Nondol wieder gesund wird.“
Während er sich erhob, hielt Mingar den Augenkontakt mit Walgin mehrere Sekunden lang aufrecht, wobei er darauf zu achten schien, dass weder Sepon noch Ermana es bemerkten. Walgin hatte das unbestimmte Gefühl, dass der alte, weise Mann, den er so gerne mochte, ihm etwas zu sagen versuchte. Er konnte den Sinn des Blickes aber nicht deuten. Walgin nahm an, dass er nochmals, ohne Worte, seinen Dank zum Ausdruck bringen wollte.
Sie geleiteten Mingar noch bis vor die Hütte und verabschiedeten sich dann von ihm. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, so dass bis auf das gelegentliche Blöken einer Ziege oder eines Schafes friedvolle Ruhe im Dorf herrschte.
Walgin sah Mingar hinterher, wie er flotten Schrittes und erstaunlich leichtfüßig für sein hohes Alter Nondols Hütte anstrebte.
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Nondols Gesicht war heiß und von Schweiß bedeckt. Wie Walgin schon richtig vermutet hatte, saß Nawina die ganze Nacht hindurch auf einem Stuhl am Bett ihres Sohnes und kühlte ihm mit einem feuchten Tuch geduldig und liebevoll die heiße Stirn. Voller Sorge blickte sie auf den Jungen nieder, unter dessen geschlossenen Lidern die Augen unruhig rollten.
Sein Atem ging unregelmäßig und oft drang ein Stöhnen aus seiner Brust. Manchmal warf er in wilden Fieberträumen den Kopf hin und her oder schlug mit den Armen um sich, so als wolle er einen imaginären Angreifer verjagen.
Das Angebot ihres Mannes, sie bei der Nachtwache abzulösen, hatte Nawina dankend abgelehnt. Sie wusste, in dieser Nacht würde sie ohnehin keinen Schlaf finden. Auf einem Schemel neben dem einfachen Bett hatte Mingar einen hölzernen Becher bereitgestellt, dessen Inhalt aus einer grünlichen, würzig duftenden Flüssigkeit bestand.
„Flöße ihm davon so viel wie möglich ein“ hatte er sie beauftragt. „Das wird sein Fieber senken und ihm Kraft geben.“
Nawina tat, wie ihr geheißen und führte mit der unerschöpflichen Geduld, wie sie nur liebende Mütter aufzubringen vermögen, die ganze Nacht hindurch den kleinen hölzernen Löffel mit dem Heiltrank immer wieder an die trockenen Lippen ihres Sohnes, um ihm kleine Mengen davon zu verabreichen.
Lange bevor vor der Hütte die ersten Sonnenstrahlen durch das Blätterdach fallen und die Waldvögel ihr Zwitschern anstimmen konnten, war der Becher geleert und Nawina am Bett ihres Sohnes eingenickt. Von einer inneren Unruhe geweckt, schreckte sie hoch und musste verzweifelt erkennen, dass Mingars Heiltrank die erhoffte Wirkung verfehlt hatte. Nondols ganzer Körper schien vor Fieber regelrecht zu glühen. Seine Haut fühlte sich so trocken und heiß an, dass die kleine, tapfere Frau kaum wagte, ihren Sohn zu berühren.
Der Atem des Jungen ging flach, beinahe schon hechelnd, und Nawina kam es vor, als würde er mit jedem seiner schnellen Atemzüge einen Teil der noch verbliebenen Lebenskraft ausatmen. Panik stieg in ihr hoch! Verzweiflung! Ungläubig blickte sie mit großen, feuchten Augen auf ihren Jungen nieder und wollte einfach nicht glauben, was sie sah. Wie sehr hatte sie doch darauf gehofft und dafür gebetet, Mingars Trank möge ein Wunder bewirken. Konnte es sein, dass so viel inniges Hoffen, Beten und Bitten vollkommen umsonst gewesen sein sollten? Nein, das konnte nicht sein! Es durfte einfach nicht sein!
„Mingar! Ich muss schnell zu Mingar!“ Wer sonst, wenn nicht ihr Onkel, konnte hier noch helfen? So schnell es ihre kurzen Beine erlaubten verließ sie die Hütte um über den in Nebelschwaden gehüllten Dorfplatz auf Mingars bescheidenes Heim zuzustreben. Zum Glück blieb ihr die halbe Wegstrecke erspart, denn der Mann mit dem schlohweißen, langen Haar kam ihr bereits entgegen um von sich aus nach Nondol zu sehen.
Kaum hatte er sich auf Rufweite genähert, begann Nawina auch schon verzweifelt zu jammern: „Mingar, oh