Toni Hartl

WOM


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nur noch die Beine des Kranken bedeckt hatte, beiseite und schleuderte sie achtlos in eine Ecke des Raumes. Dann drehte er den Liegenden vorsichtig zur Seite, so dass er die Rückenwunde freilegen konnte. Zunächst wickelte er die um den Körper geschlungenen Binden ab. Danach machte er sich daran, die mit Heilsalbe getränkten Leinenkompressen von der Wunde zu ziehen. Auch diese Dinge ließ er achtlos auf den staubigen Boden fallen, so als ob er wüsste, dass sie nicht mehr benötigt würden.

      Nur kurz warf er einen Blick auf die furchtbar entzündete Furche am Rücken seines Patienten, während er ihn in Bauchlage brachte. Jetzt hielt er kurz inne, kniete sich dann zu Boden und wandte sich dem Hocker zu, auf dem der Lederbeutel lag. Mit flinken Bewegungen löste er die dünne, verknotete Schnur, zog die geraffte Öffnung auseinander und fasste mit der linken Hand hinein. Als er sich wieder aufrichtete, betrachtete er einen kleinen, aus glänzendem, dunkelgrünen Kristall bestehenden Gegenstand. Der Kristall glich in Größe und Form einem Taubenei. Die Oberfläche war glatt und glänzend. Von einem Ei unterschied ihn lediglich der Umstand, dass beide Enden identisch geformt waren.

      Mingars Gesicht glich einer ausdruckslosen Maske als er bewegungslos verharrte und lange, ohne sichtbar zu atmen, auf das kalte, grüne Ding in seinen Händen blickte. Er betrachtete es nachdenklich, drehte es einige Male unentschlossen zwischen den Fingern und führte es dann hoch, so dass es sich vor seinem Gesicht befand.

      Im Innern des grünen Kristalls – etwa dort, wo man bei einem gewöhnlichen Ei den Dotter vermuten würde – erkannte er nun ein rotes Glühen. Je länger Mingars Augen darauf ruhten, um so mehr hatte er den Eindruck, als würde das „Glutherz“ nicht gleichbleibend leuchten, sondern unruhig wabern und pulsieren.

      Nach einer Weile der stummen Betrachtung kam ein Seufzen über Mingars Lippen und er flüsterte: „Nenuana, du Gute. Hab unendlichen Dank für dieses große Geschenk. Aber was muss ich tun, Nenuana – was?“

      Erneut betrachtete er ratlos, ja beinahe verzweifelt, das geheimnisvolle „Glut-Ei“ in seinen Händen. Und als ob jemand vor ihm stünde, begann er ein kaum hörbares Gespräch.

      „Wie sagtest du damals? Wenn du den Inhalt des Beutels jemals brauchen solltest, wirst du wissen, was zu tun ist! Ja, so sagtest du. Aber ich weiß es nicht, Nenuana; ich weiß es nicht!

      Sein anfangs kaum hörbares Flüstern war mit diesen Worten immer lauter geworden.

      „Wie sehr habe ich damals mit mir gerungen, ob ich dieses Geschenk von dir annehmen soll, oder nicht. Nun bin ich froh, es nicht abgelehnt zu haben, Nenuana! Aber nun knie ich hier und weiß nicht, was zu tun ist. Sag es mir, Nenuana. Bitte sag es mir.“

      Tränen der Verzweiflung flossen nun über Mingars Gesicht, während Nondol auf seinem Lager ein leises Stöhnen von sich gab. Und so, als ob er dieses Stöhnen als Aufforderung verstanden hätte, wandte Mingar sich, immer noch auf Knien, mit dem „Glut-Ei“ in der rechten Hand seinem Großneffen zu.

      Ganz langsam führte er es über die Rückenwunde, senkte es langsam und legte es dann auf Nondols Rücken; direkt auf die entzündete, lange Wunde. Vorsichtig balancierte er den Kristall so aus, dass er liegen blieb und erhob sich dann langsam. Sofort verstummte Nondols Stöhnen und ging in ein gleichmäßiges, ruhiges Atmen über.

      Eine Weile stand Mingar so neben dem Bett und sah voller Erwartung und Schmerz auf den schwerkranken Nondol nieder, auf dessen Rücken nun der geheimnisvolle, grüne Stein lag.

      Die Minuten verstrichen aber es tat sich nichts.

      Voller Ungeduld kniete Mingar erneut nieder, legte sanft und vorsichtig die rechte Hand auf das gläserne Ei und verhielt so einige Sekunden, ohne zu wissen, warum er dies eigentlich tat.

      Wieder wartete er eine Weile – wieder vergeblich. Dann erinnerte er sich plötzlich an das Messer. Er lenkte seinen Blick nach links und starrte auf den weißen Elfenbeingriff, als ob er von ihm eine Antwort erwartete. Nach einem Augenblick der Ratlosigkeit ergriff er mit seiner Rechten das Messer und zog es aus der reich verzierten Scheide. Im Halbdunkel des kleinen Raumes glänzte die scharfe, spitze Klinge, wie poliertes Silber. Wie in Trance führte er die Messerspitze an seine linke Hand und setzte sie an die Fingerkuppe des Zeigefingers. Dann drückte er dagegen, bis die haarscharfe Spitze in seine Haut eindrang und eine kleine Verletzung verursachte. Schnell legte er das Messer wieder auf den Schemel.

      Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand presste er nun die kleine Wunde an seinem linken Zeigefinger zusammen, bis ein Blutstropfen daraus hervortrat. Nun hielt er den Finger dicht über den Kristall und wartete, bis der Tropfen darauf niederfiel.

      Staunend stellte er fest, dass die dunkelrote Flüssigkeit nicht über die glatte Oberfläche glitt, sondern ohne jegliche Ablenkung in das kleine Ei eindrang. Mit fasziniertem Blick verfolgte Mingar, wie der kleine rote Tropfen, ohne ein Loch zu hinterlassen, langsam durch das grüne, harte Material wanderte, sich der glühenden Mitte näherte und gleich darauf mit ihr verschmolz. Nun begann es im Inneren lebendig zu werden. Wie ein unförmiger Embryo begann das Herz des Kristalls sich in beinahe wellenförmigen Bewegungen zu winden und zu drehen, sich auszudehnen und wieder zu schrumpfen.

      Und dann sah Mingar, wie die Glut begann, sich ihren Weg aus dem Ei zu bahnen. Zuerst war es nur ein hauchdünner, kaum sichtbarer Dorn, der sich im Innern des Kristalls mehr und mehr nach unten bohrte. Wie ein dünner, nadelspitzer Wurm bahnte sich die flüssige Glut langsam ihren Weg durch das harte Kristall, bis es schließlich genau an der Stelle, wo der Stein Nondols heiße Haut berührte, nach außen drang.

      Mingar beobachtete fasziniert, wie die glutrote, leuchtende Flüssigkeit innerhalb der entzündeten Furche auf Nondols Rücken entlang wanderte und immer wieder winzige Verzweigungen bildete, so dass sie Augenblicke später die gesamte Wunde füllte.

      Kaum war dies geschehen, lösten sich die Hautverfärbungen an den Wundrändern zusehends auf, verschwanden, als würden sie von der Oberfläche der Haut in das Körperinnere gesogen. Die geheimnisvolle rote Flüssigkeit verschmolz mehr und mehr mit der Wunde, die feuchte Verletzung trocknete rasch aus und begann mit unglaublicher Geschwindigkeit zu heilen.

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      Mit dem ersten Sonnenstrahl, der das dichte Blätterdach des Waldes durchstach und die Vögel dazu animierte, ihren Morgengesang anzustimmen, erwachte Walgin in seiner Kammer. Auf den erholsamen Schlaf, wie er ihn sonst gewohnt war, hatte er in der vergangenen Nacht verzichten müssen. Schlimme Träume hatten ihn geplagt und er war mehrmals schweißgebadet aufgewacht. Nun aber drängte es ihn, nach seinem besten Freund zu sehen.

      Behände sprang er von seiner warmen Liegestatt hoch, schlüpfte in die raue Leinenhose und warf sich sein Lederhemd über. Als er gleich darauf schwungvoll die Tür öffnete und die große Wohnstube betrat, sah er, dass seine Mutter soeben damit beschäftigt war, ein Frühstück für ihn zu bereiten. Sie stand an der offenen Feuerstelle und rührte in einem über der Glut hängenden Topf. Im ganzen Raum roch es verführerisch nach gesalzener Ziegenmilch und frischem Brot. Er verspürte zwar, wie immer wenn er morgens aufstand, ordentlichen Hunger, aber mit der Morgenmahlzeit wollte er sich in diesem Moment eigentlich nicht aufhalten.

      „Mutter“, sagte er „hast du etwas dagegen, wenn ich jetzt erst mal nach Nondol schaue und anschließend die Frühsuppe esse?“ Bevor seine Mutter die Möglichkeit hatte dagegen zu protestieren, fügte er hastig hinzu: „Ich werde mich auch ganz bestimmt beeilen. Wirklich!“

      „Na gut“ meine sie mit einem verständnisvollen Lächeln. „Brauch aber bitte nicht zu lange, dein Essen wird ja sonst kalt“. Sie vernahm nur noch ein gedankenlos hingeworfenes „Ja ja“ dann war er auch schon durch die Türe verschwunden und eilige Schritte entfernten sich von der Hütte.

      Auf seinem Weg zu Nondols Elternhütte hatte Walgin keinen Blick für die Schönheit des Waldes, der durch die einfallende Morgensonne unvergleichliche Schattenspiele erhielt. Da und dort hauchten die letzten Reste des aufsteigenden Morgennebels