war.
Und ohne den Blick von Nondols Rücken zu wenden, sprach er leise und mehr zu sich selbst: „Jaah, da … da ... hast du völlig recht. Es wird Zeit, dass wir nach Hause kommen und sich jemand darum kümmert.“ Und in Gedanken fügte er hinzu: „Nur gut, dass du es selber nicht sehen kannst, sonst hätte es dich wahrscheinlich schon umgehauen.“
Insgeheim aber bewunderte er Nondol. Er selbst, so gestand er sich ein, hätte bei einer derartigen Verletzung sicher anders reagiert. Vermutlich hätte er in derselben Situation angefangen zu heulen und wäre kopflos nach Hause gelaufen. Doch Nondol war anders. Das war ihm immer schon bewusst gewesen. Er war Nondol von Kindheit an mit einer gewissen Achtung begegnet, ohne ihm dies je direkt zu zeigen oder gar zu sagen.
Stets war es Nondol gewesen, der sich auf die höchsten Bäume oder Felsen wagte. Nondol konnte schneller schwimmen und länger tauchen als er und er sprang auch von höheren Felsen hinunter ins Wasser. Vergangenen Winter hatte er sogar, nur mit einem Stock bewaffnet, zwei hungrige Wölfe aus dem Dorf vertrieben, die dort versucht hatten, eine Ziege zu reißen.
Gerade als sie zur Lichtung an der Hohen Wand zurückkehrten, wurde Walgin plötzlich aus seinen Gedanken gerissen, als Nondol jäh mit einem Bein einknickte und zu stürzen drohte. Schnell griff Walgin ihm unter die Arme und half ihm wieder hoch.
Erst jetzt fiel ihm Nondols aschfahles Gesicht auf. Die ganze Zeit war er neben seinem Freund hergegangen und hatte gar nicht bemerkt, dass sich dessen Zustand zunehmend verschlimmert hatte. Nondols graues Gesicht war jetzt mit Schweiß überströmt und sein Atem ging schnell und rau.
„Komm , Nondol, ich helfe dir“ keuchte er ihm ins Ohr. „Dort hinter dem Strauch hab ich Loska angebunden. Ich helfe dir in den Sattel, dann musst du nicht mehr laufen. Wir schaffen das schon.“
Gemeinsam schleppten sie sich noch die wenigen Schritte bis zu dem erwähnten Strauch. Und tatsächlich, hinter dem Gebüsch wartete Loska. Das kräftige Reh, einen leichten Sattel auf dem Rücken, kaute soeben an einigen Blättern, die es sich von dem Strauch abgezupft hatte und blickte den beiden schnaufenden Gestalten mit treuen, braunen Augen entgegen.
Walgin half Nondol mit dem linken Bein in den Steigbügel, dann hievte er ihn auf Loskas Rücken und legte ihn mit dem Oberkörper nach vorne, so dass er mit beiden Armen den Hals des Tieres umfassen konnte. Entsetzt stellte er fest, dass das Blut bereits aus Nondols linkem Hemdsärmel lief und von den Fingern seiner Hand tropfte. Er musste sich beeilen, wollte er nicht riskieren, dass Nondol an seiner Verletzung verblutete!
Hastig löste er die Zügel von den Zweigen und führte Loska im Laufschritt auf dem schmalen Waldweg in Richtung Grondel, wobei er immer wieder einen Blick zur Seite warf, um sich zu vergewissern, dass sein verletzter Freund nicht vom Rücken des Tieres kippte.
Anfangs beschrieb der Weg eine leichte aber stetige Steigung und Walgin, der nun nicht gerade zu den ausdauerndsten Läufern zählte, kam gehörig ins Schwitzen und rang heftig nach Atem. Als sie endlich die Anhöhe erreichten, von wo aus der Weg bis kurz vor das Dorf ständig bergab führen würde, hielt er an, um zu verschnaufen und einen Blick nach seinem Kameraden zu werfen.
Es sah nicht gut aus. Walgin stellte fest, dass Nondols Gesicht sich nicht mehr von dem eines Toten unterschied und Entsetzten stieg in ihm hoch, weil er für einen Augenblick dachte, sein Freund wäre bereits gestorben. Dicke Tränen füllten seine Augen. Er legte seine Hand auf Nondols blutverschmierte Schulter und flehte verzweifelt: „He Nondol ... was ist denn? Komm schon … wach auf .. .bewege dich … sag doch was!“
Mit unendlicher Erleichterung vernahm er ein Leises Stöhnen. „Wir schaffen das schon“ fuhr er fort. „Du musst noch ein wenig durchhalten. Gleich sind wir zu Hause ... Bitte ... nimm dich zusammen.“
Und ganz leise, kaum hörbar, vernahm er Nondols trockene, heisere Stimme:
„Jaaaa... dann steh hier nicht herum ... bring mich heim.“
„Ja, das tu ich, Nondol, das tu ich, verlass dich drauf.“ Schon zog er heftig an Loskas Zügel und lief, das Reittier mit dem halbtoten Freund auf dem Rücken hinter sich herziehend, weiter Richtung Grondel. Aber so sehr er sich auch anstrengte, es ging viel, viel zu langsam für seine Begriffe und es war doch noch so weit bis zum rettenden Dorf.
Dann, nach einigen endlosen Minuten, schoss ihm eine verzweifelte Idee durch den Kopf. Das Reh könnte eigentlich viel schneller laufen! Er war es, der zu langsam lief; er würde das Tier nur aufhalten, sollte er es weiterhin am Zügel führen!
„Ja, so mach ich´s“ hörte er sich selbst sagen. Augenblicklich brachte er Loska zum Stehen, nestelte mit zitternden Fingern an seiner Hose und löste das Lederband, das ihm als Gürtel diente und zu diesem Zweck mehrmals um seine Körpermitte geschlungen war.
Dann trat er an Nondol heran und entfernte auch dessen Lederband aus der Hose. Mit nervösen aber geschickten Fingern ging er nun daran, die beiden Lederriemen zusammen zu knüpfen, so dass er bald eine Befestigungsschnur von ausreichender Länge in Händen hielt. Diese schlang er nun unter Nondols Achselhöhlen mehrfach um dessen Körper und anschließend auf raffinierte Weise um Hals und Brust des Reittieres. „Tut mir leid, gute Freundin“, sprach er in einem beruhigenden Ton mit dem treuen Tier, „das ist sicher unangenehm für dich, aber es geht nicht anders.“
Gleich darauf gab er Loska einen Klaps auf das Hinterteil und rief dem davon stiebenden Reh hinterher: „Und jetzt lauf.... lauf und bring Nondol zu seiner Mutter!“
Er wusste, dass auf das Reitreh Verlass war; es würde auf dem schnellsten Weg nach Hause laufen, da konnte er vollkommen sicher sein. Aber ob er sich auch im gleichen Maße auf die Verschnürung verlassen konnte, die er Nondol angelegt hatte? Er hoffte es inständig und betete, dass Nondol rechtzeitig Grondel erreichen würde.
Eine Weile blieb er unbeweglich am Wegrand stehen und blickte gedankenschwer noch hinter Loska mit ihrer blutenden Last her, selbst als er sie schon längst nicht mehr sehen konnte. Als schlimme Gedanken erneut einen wabernden Wasserfilm vor seinen Augen entstehen ließen, wischte er sich den Blick frei und setzte sich raschen Schrittes in Bewegung. Es kam zwar jetzt nicht mehr auf jede Sekunde an. Trotzdem drängte es ihn, nach Hause zu kommen und sich über Nondols Zustand Gewissheit zu verschaffen. Nebenbei fragte er sich, weshalb Nondol eigentlich zu Fuß und ohne sein Reh zur Hohen Wand gegangen war. Warum nur hatte er die treue Jendali daheim gelassen?
„Oh Walon, bitte hilf ihm, dass er es schafft“ ging es ihm durch den Kopf, während er, mit einer Hand die rutschende Hose festhaltend, lief und lief und sich zwischendurch immer wieder über die Augen wischte, wenn der Tränenvorhang ihm den Blick zu verschleiern begann.
Wie konnte dieser Tag nur so einen Ausgang nehmen? Er hatte doch begonnen, wie so viele andere auch. Morgens war er, wie üblich, zeitig aufgestanden und hatte die Tiere im Stall gefüttert, danach ausgemistet und die Ziegen gemolken. Später war er gemeinsam mit Nondol und noch zwei anderen gleichaltrigen Jungen zu Mingars Hütte gegangen und sie hatten sich eine jener aufregenden Geschichten angehört, die dieser auf seinen jahrelangen Reisen – angeblich - erlebt hatte.
Walgin erinnerte sich, dass er nach dem Mittagsmahl wieder Nondols Eltern aufgesucht hatte und dort erfuhr, dass sein Freund - wohl um Kräuter für Mingar zu besorgen – kurz zuvor zur Feuchtwiese aufgebrochen war. Dort hatte er aber vergeblich nach ihm gesucht und dann war ihm in den Sinn gekommen, dass Nondol sich vielleicht bei der Hohen Wand aufhalten könnte.
Deshalb hatte er Loska gesattelt und sich dorthin auf den Weg gemacht. Tatsächlich hatte er ihn bald darauf vor dem Abgrund stehend entdeckt und wollte sich soeben anpirschen, um ihn zu erschrecken, als der gemeine Angriff „dieses elenden Federbalgs“ erfolgte.
Was weiter geschehen war, hätte er am liebsten aus seinen Gedanken verbannt, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Das zerrissene und blutgetränkte Hemd, die schreckliche Rückenwunde, das fahle Gesicht und sogar Nondols