wurde ihre Stimme so laut und durchdringend, dass sogar das Vogelgezwitscher in den Bäumen für einen Moment verstummte.
Wortlos, aber mit besorgter Miene beschleunigte der Angesprochene seine Schritte, eilte an Nawina vorbei und stand schon wenig später an Nondols Bett. Nur kurz legte er seine Linke auf die Stirn des Jungen, während die Fingerspitzen der anderen Hand an Nondols Hals nach dem Puls fühlten. Dann beugte er sich rasch nach vorne, neigte den Kopf zur Seite und presste ein Ohr auf die Brust des Patienten.
Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, wandte er seinen Blick mit ausdrucksloser Miene zur Tür, in der Nawina mit vor der Brust gefalteten Händen stand und ihn mit großen, flehenden Augen ansah. „Jetzt ist also der Zeitpunkt gekommen“, kam es kaum hörbar über seine Lippen. „Ich sehe keine andere Möglichkeit mehr. Ich muss den Beutel öffnen.“
Nawina, die Mingars gehauchte Worte nicht verstanden hatte, blickte, auf eine Erklärung hoffend, in das Gesicht ihres Onkels. Obwohl dieser sie direkt ansah, wurde ihr gewahr, dass er sie in diesem Augenblick so wenig wahrnahm, wie den Gesang der Vögel vor der Hütte oder das einsetzende Blöken der Schafe und Ziegen im nahen Stall. So verharrten sie eine Weile, ohne ein Wort zu sprechen.
„Ja... ich muss es tun“ wiederholte Mingar seine Worte jetzt so laut, dass Nawina sie verstehen konnte und ängstlich fragte: „Was ... was musst du tun, Mingar?
Er antwortete nicht; stand nur da mit hängenden Armen und halb geöffnetem Mund und sein nach Nirgendwo gerichteter Blick verriet nichts – und doch so viel. Innerhalb weniger Augenblicke hatte ihr Onkel sich so sehr verändert, dass er ihr fremd und irgendwie unheimlich erschien. Sogar seine Stimme hatte sich wie die eines Unbekannten angehört.
Dann setzte er sich unvermittelt in Bewegung und ging rasch auf die Türe zu, so dass Nawina gezwungen war, sich einen Schritt zur Seite zu bewegen, um ihm Platz zu machen. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er, wäre sie nicht ausgewichen, einfach durch sie hindurchgegangen wäre, als würde sie gar nicht existieren. Dann verließ Mingar den Raum und eilte über den Dorfplatz auf seine Hütte zu.
Nawina fühlte plötzlich, wie sich von hinten zwei Hände zärtlich auf ihre Schultern legten und so verhinderten, dass sie vor Schwäche ins Wanken geriet. Sie wandte den Kopf, blickte in das mitfühlend lächelnde Gesicht ihres Mannes, wandte sich um und legte ihr tränennasses Antlitz Halt suchend an seine Brust. Sie wusste nicht, ob Emnor lange genug hinter ihr gestanden hatte, um Mingars Worte zu hören. Sie war aber dankbar dafür, dass er in diesem Moment nichts sagte, keine Fragen stellte, sondern sie nur fest in seinen Armen hielt und ihr zärtlich und tröstend über das Haar strich.
Erst nach einer geraumen Weile hörte sie ihn sagen: „Es ist schon gut, Nawina. Du wirst sehen, es wird alles gut. Nondol wird wieder gesund. Mingar weiß schon, was er tut.“
„Oh Emnor“, presste sie hervor „hast du Mingar gesehen? Hast du sein Gesicht gesehen, seinen Blick? Ich möchte ja so gerne glauben, dass alles wieder gut wird... ein Schluchzen unterbrach ihre Worte, „...aber Mingar machte mir nicht den Eindruck, als ob er sehr zuversichtlich wäre.“
Sie hatte ja recht. Emnor wusste nur zu gut, dass sie recht hatte. Auch ihm gelang es nur mit größter Mühe, die Tränen zu unterdrücken und seiner Frau mit gespielter Zuversicht Hoffnung zu schenken. Dann legte er mit geschlossenen Augen seinen Kopf an den ihren und küsste zart ihr dichtes, nach hinten gekämmtes und zu einem Schopf gebundenes Haar.
„Oh Walon lass bitte ein Wunder geschehen“ bat er in Gedanken den Gott des ewigen Waldes. „Bitte lass das Wunder geschehen und Nondol wieder gesund werden. Nicht für mich bitte ich darum, sondern für mein Weib. Sie würde den Tod des Jungen nicht verkraften. Wenn der Junge stirbt, wird es Nacht um sie“.
In diese düsteren Gedanken versunken nahm er gar nicht wahr, wie sie sich halb aus seinen Armen löste und ihn langsam zu Nondols Bett führte. Er erwachte erst aus seiner Versunkenheit, als sie sich über ihren Sohn beugte und ihm, so wie er es zuvor bei ihr getan hatte, mit einer Hand zärtlich durch das Haar strich, das nun von Schweiß durchtränkt auf seiner Stirn klebte.
Hastige Schritte ließen sie beide aufschrecken. Mingar stand schwer atmend in der Tür und sah sie beide an, als hätten sie soeben etwas Verbotenes getan. Er hielt einen kleinen, mit seltsamen Stickereien verzierten Lederbeutel in der linken Hand, während seine rechte den Griff eines Messers umschloss. Die Klinge steckte in einer Lederscheide, die mit den selben Stickereien versehen war, wie der Beutel und das hintere Ende des schneeweißen Griffes hatte die Form einer goldenen Kugel.
„Mingar“ stieß Nawina mit leiser Stimme hervor „was willst du denn mit ...“
„Geht hinaus“ unterbrach er sie mit rauer Stimme. „Geht!“
In einem weitaus sanfteren Ton fügte er hinzu: „Bitte ... Nawina, frag mich nicht. Stell mir keine Fragen jetzt. Wenn ich euren Sohn retten soll, dann geht jetzt bitte und achtet darauf, dass ich nicht gestört werde, bis ich euch bescheid sage.“
Unsicher und fragend blickte Nawina zu ihrem Mann hoch. Der sah sie mit steinerner Miene an, dann richtete er den Blick kurz zu Mingar, der ungeduldig zwei Schritte in den Raum getreten war und nickte ihr schließlich kaum merklich zu. Als er merkte, dass sie sich nicht zum Gehen entschließen konnte, dirigierte er sie mit sanfter Gewalt an ihrem Onkel vorbei zur Tür, die aus dem kleinen Zimmer hinaus in den geräumigen Hauptraum der Hütte führte.
Die Gelegenheit, sich im Türrahmen noch einmal umzuwenden und Blickkontakt mit Mingar aufzunehmen blieb ihm versagt, denn gerade als er sich dazu anschickte, verschloss der alte Mann die Tür von innen. Einige Augenblicke blieb Emnor stehen, strich sich mit beiden Händen langsam von oben nach unten über sein Gesicht, um sich dann wieder Nawina zuzuwenden.
Sie war in wenigen Augenblicken um Jahre gealtert. Mit den Bewegungen einer uralten Greisin schlurfte Nawina zum Tisch, zog sich unendlich langsam einen Stuhl zurecht und ließ sich dann erschöpft und mit einem Mitleid erregenden Seufzer darauf nieder. Emnor trat an ihre Seite und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Zusammengesunken und mit im Schoß gefalteten Händen sah sie zu ihm hoch.
Es bedurfte jetzt keiner Worte um sich zu verständigen. Sie sahen sich lange schweigend an und schließlich nahm Emnor ebenfalls auf einem der primitiv gezimmerten, robusten Stühle Platz und legte die Hände auf den Tisch. Es entging ihm nicht, dass Nawina immer wieder ängstlich und erwartungsvoll zur Tür blickte, hinter der sich Mingar um ihren so schwer erkrankten Jungen bemühte. Er spürte aber auch, dass es in diesem Moment besser war, sie mit ihren Gedanken alleine zu lassen und nicht mit Worten zu stören.
Nawina vertraute Mingar. Sie hatte ihm ruhigen Gewissens stets vertrauen dürfen. Aber nicht nur sie – alle Bewohner des kleinen Dorfes schenkten Mingar ihr uneingeschränktes Vertrauen. Zu ihm kam man, wenn man Rat suchte. Mingar konsultierte man, wenn jemand krank war. Niemand hatte so viel Wissen von den heilenden Wirkungen der verschiedensten Kräuter und Mixturen, wie der alte Mann. Er hatte auf beinahe alle Fragen eine Antwort und trug ein Wissen in sich, das alle Dorfbewohner erstaunte. Mingar war Heiler, Lehrer und Ratgeber in einer Person. Man liebte ihn und brachte ihm Respekt entgegen.
Trotzdem fühlte Nawina plötzlich eine lähmende Angst vor dem, was nun geschehen würde .... was er tun würde. Der Mann, den sie seit ihrer Kindheit kannte und liebte, hatte sich auf so dramatische Weise verändert. Und wie um alles in der Welt sollte er mit einem Messer und einem Beutel voller Geheimnisse ihrem Sohn helfen?
Was geschah jetzt in diesem Raum?
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Mingar stand vor Nondols Bett und blickte lange und regungslos auf den Jungen nieder. Den Lederbeutel mitsamt seinem Inhalt und das reich verzierte Messer hatte er auf dem Hocker abgelegt , auf dem immer noch der geleerte Holzbecher stand.
Nondol