zu schließen.
Und dann, endlich, lichtete sich der Wald und vor ihm erstreckte sich die langgezogene, sonnenüberflutete Dorfwiese. Er überquerte sie auf dem kürzesten Weg, lief vorbei an den Holzgattern, in denen die Ziegen grasten und konnte, Walon sei gepriesen, schon von weitem Loska erkennen. Sie trottete gelangweilt und mit zu Boden hängenden Zügeln über den sauber gefegten Platz in der Mitte des Dorfes und blickte freudig hoch, als sie seiner ansichtig wurde. Er konnte sich aber jetzt unmöglich mit ihr beschäftigen, sondern lenkte seine Schritte stracks auf Nondols Elternhütte zu.
Offenbar hatte man im Inneren sein Kommen bemerkt, denn Nondols Mutter, die füllige Nawina erschien aufgelöst in der Eingangstüre und eilte sofort auf ihn zu. „Oh Walgin, da bist du ja endlich! Was ist denn nur geschehen? Oh ihr Unglückseligen, was habt wieder angestellt? Wie konnte Nondol sich so schlimm verletzen? Was habt ihr nur getrieben? War es ein Tier?“
Walgin, noch völlig außer Atem, konnte sich nicht entscheiden, welche Frage er zuerst beantworten sollte. Zu allem Überfluss eilten nun auch noch seine Eltern und einige andere Dorfbewohner herbei, um ihn zu umringen und neugierig und lautstark mit Fragen zu bedrängen.
Obwohl er eigentlich selbst gerne erfahren hätte, wie es seinem verletzten Freund ging, blieb ihm schier nichts anderes übrig, als mit tränenunterdrückter Stimme zu antworten: „Ich kann nichts dafür... er auch nicht (damit meinte er Nondol).., es war der Adler, dieses Elendsvieh... er hat ihn angegriffen... Nondol hatte ihm gar nichts getan... er hat ihn einfach angegriffen... den Rücken hat er ihm aufgekratzt oben an der Hohen Wand, dieser Mistvogel... dann hab ich Nondol zu Loska geschleppt und ihn darauf angebunden, damit er schneller zu Hause ist... er hat doch so furchtbar geblutet ... und ich konnte nicht so schnell laufen... ja... und jetzt bin ich auch da. Und jetzt... bitte... sagt mir, wie es Nondol geht. Er wird doch wieder gesund, oder?“
Nawina, die Walgin ungeduldig an beiden Schultern gepackt hatte, um die Antworten schneller aus ihm herauszuschütteln, fasste sich wieder und antwortete überraschend ruhig und mit sehr mütterlicher Stimme: „Ja ja, er wird schon wieder, er wird schon wieder, Walgin. Mingar kümmert sich um ihn. Ach so war das! Ein Adler hat ihn angegriffen! Das muss ich Emnor erzählen!“
Schon wandte sie sich wieder um und strebte eilig auf die Eingangstüre ihres Blockhauses zu. Doch dann hielt sie mitten im Schritt inne, wendete und eilte mit ausgebreiteten Armen abermals auf Walgin zu, um ihn kräftig an ihre üppige Brust zu drücken. „Oh Walgin!“ rief sie mit hochdramatischer und von Schluchzen begleiteter Stimme. „Oh Walgin, du guter Junge! Das hast du wirklich gut gemacht! Was für ein guter Freund du doch bist! Oh ich danke dir tausendmal! Oh du Segensreicher; Walon soll dir ewiges Leben schenken, mein guter Junge!“
Und noch ehe Walgin recht begriff, wie ihm geschah, packte ihn die vor Dank ergriffene Nawina erneut an den Schultern und küsste ihn auf die Stirn, immer und immer wieder.
Obwohl Walgin angesichts der zahlreichen Zuschauer die Verlegenheitsröte ins Gesicht stieg und er sich in diesem Moment nichts sehnlicher wünschte, als dass dieses Küssen bald ein Ende nehmen möge, wehrte er sich nicht dagegen. Geduldig ließ er es geschehen, weil er Nondols Mutter gut genug kannte, um zu wissen, dass ihr Herz in diesem Augenblick von ehrlicher Dankbarkeit erfüllt war und er sie auf keinen Fall kränken wollte, indem er sich in irgend einer Weise wehrte.
Schließlich war es seine Mutter, die ihn aus dieser heiklen Situation befreite, indem sie herantrat, ihm den Arm um die Schulter legte und ihn sanft aus Nawinas „Gewalt“ befreite.
„Komm Junge“ sagte sie leise und in einem mehr als mütterlichen Ton „jetzt gehen wir erst einmal nach Hause. Dann kannst du dich waschen und hinterher erzählst du uns alles ganz von vorne und der Reihe nach. Jetzt komm.“ Mit den letzten Worten führte sie Walgin bereits mitten durch die herumstehende Dorfgemeinschaft auf die heimatliche Hütte zu.
„Aber, Mutter, ich wollte noch ..“.
„Später“ unterbrach sie ihn „später kannst du dann nach Nondol sehen. Der muss jetzt erst einmal ordentlich versorgt werden. Morgen früh, wenn es ihm wieder besser geht, besuchst du ihn dann.“
Walgin sah ein, dass seine Mutter in diesem Fall wohl recht hatte. Jetzt war wirklich nicht die Zeit für einen Krankenbesuch. Er stellte sich vor, wie Nondol von seiner Mutter und Mingar gesäubert wurde, wie sie ihm Heilsalbe auf die schreckliche Verwundung strichen und ihn anschließend, in einen dicken Verband gehüllt, in sein Bett legten. Und er war sicher, dass die fürsorgliche Nawina bis zum nächsten Morgen an Nondols Bett wachen würde.
Ja, das würde sie tun - so wie es seine Mutter auch bei ihm getan hätte. Mütter sind etwas Sonderbares und Wunderbares, ging es ihm durch den Kopf.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich die Eingangstür zu ihrem Blockhaus mit einem leisen Ächzen öffnete und sie das Halbdunkel der großen Stube betraten. Etwas später setzte ihm seine Mutter eine kräftige Kräuter-Käse-Suppe mit Schwarzbrot vor, die er mit dem gesunden Appetit eines Heranwachsenden verzehrte.
Während sein Vater sich um die allabendliche Versorgung der Stalltiere kümmerte, verrichtete seine Mutter zunächst die nötigste Hausarbeit und setzte sich dann zu ihm an den Tisch. Sie sprach nicht gleich, aber Walgin spürte, dass sie ihm etwas Wichtiges zu sagen hatte und offensichtlich nicht wusste, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Er wollte seiner Mutter die Entscheidung erleichtern und fragte deshalb: „Soll ich dir jetzt erzählen, was heute genau passiert ist?“
„Nein“ antwortete sie, „warte lieber noch bis dein Vater da ist, sonst musst du es womöglich zweimal erzählen. Er wird ja wohl gleich kommen. Er bringt Loska noch in den Stall.“
Sofort bekam Walgin ein schlechtes Gewissen. Die gute Loska! Er hatte sie ganz vergessen.
Ermana legte eine kurze Pause ein, sah ihrem Sohn zufrieden lächelnd zu, wie er die leere Holzschüssel zur Seite schob und sprach dann weiter, indem sie in typischer „Mutterart“ die Ellbogen auf den Tisch stützte und die Finger ineinander verschränkte.
„Eines möchte ich dir aber gleich sagen, Walgin. Ich meine, dass dein Vater und ich sehr stolz sein können auf dich. Ich weiß zwar noch nicht genau, was eigentlich vorgefallen ist, aber soviel ich bisher gehört habe, hast du wirklich sehr umsichtig und erwachsen gehandelt.“
Es machte Walgin verlegen, wenn seine Mutter in diesem Tonfall mit ihm sprach, wie es ihn im Grunde immer verlegen machte, wenn er Lob erfuhr. Deshalb meinte er beschwichtigend: „Ach, das war nichts besonderes. Nondol und ich sind Freunde und er hätte für mich sicher dasselbe getan.“
Gerade als seine Mutter zu einer Antwort ansetzen wollte, ging die Tür auf und sein Vater betrat, gefolgt von Mingar, den Raum. Entgegen seiner sonst stets humorigen Art machte Nondols Großonkel in diesem Moment eine sehr betrübte Miene. Schon stieg in Walgin wieder eine schlimme Ahnung hoch und er fragte ängstlich: „Was ist? Geht es Nondol schon wieder besser?“
Mingar antwortete zunächst nicht. Er trat an den Tisch, rückte sich einen Stuhl zurecht und ließ sich mit einem tiefen Seufzer darauf nieder. Sepon servierte eifrig zwei Krüge mit selbstgebrautem Met und nahm dann ebenfalls Platz.
„Nun ja,“ wandte Mingar sich an Walgin, nachdem er einen Schluck aus dem Krug genommen hatte, „gut geht es ihm noch nicht. Er hat sehr viel Blut verloren und ich musste seine tiefe Wunde reinigen und verbinden. Es kommt jetzt darauf an, dass er kein allzu hohes Fieber bekommt. Aber ich glaube, er wird es schaffen. Nondol ist ein zäher Bursche und gibt so leicht nicht auf.“
Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Du hast ihm das Leben gerettet, Walgin.“
Bei Mingars letzten Worten verspürte Walgin einen Stich im Herzen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der alte Mann so direkt sein würde. „Stand es denn so schlimm um ihn?“ fragte er schnell, nur um irgendetwas zu sagen.