Toni Hartl

WOM


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mich eine meiner Reisen in eine seltsame Gegend. Eigentlich müsste ich sagen, in ein seltsames Land. Oder noch besser, in eine seltsame andere Welt. Jedenfalls gab es dort einen unglaublich faszinierenden Berg. Und mit diesem hat es eine ganz besondere Bewandtnis. Aber wenn ich jetzt näher darauf eingehen würde, wäre das schon wieder zu viel verlorene Zeit. Nun, jedenfalls“ hier machte er eine kurze Pause und atmete tief durch „innerhalb dieses gewaltigen Berges gab es eine riesengroße Höhle. Und in eben dieser Höhle gibt es einen Berg.“

      An dieser Stelle war es Walgin nicht mehr möglich, sich an seinen Vorsatz des Schweigens zu halten: „Ein Berg in einer Höhle, die in einem Berg ist?“ fragte er fassungslos. „Was muss denn das für eine Höhle sein, in der ein Berg Platz findet? Und wie kann die Höhle in einem Berg sein, wenn in der Höhle ein Berg ist?“

      „Also gut“, meinte Mingar und musste lächeln angesichts der Ereiferung Walgins. „Du hast recht, ich muss euch das näher erklären. Nun, dieser Berg – ich meine den, in dem sich die Höhle befindet – ist wirklich gewaltig. Nie zuvor und nie danach habe ich etwas Vergleichbares gesehen. Sein Gipfel liegt so hoch, dass kein lebendes Wesen ihn je besteigen könnte. Kein Baum, kein Strauch und kein Gras kann da oben wachsen. Wenn man den Berg an seinem Fuß umrunden wollte, würde man selbst auf dem Rücken eines ausdauernden Rehs mehrere Monate dafür benötigen. Und so unglaublich riesig wie dieser Berg ist, so enorm ist auch die Höhle in seinem Inneren. Und deshalb, Walgin, deshalb ist es möglich, dass sich in dieser Höhle wiederum ein Berg befinden kann“.

      Mit seinen letzten Worten hatte Mingar sich erhoben und langsam den Tisch umrundet. Hinter Walgin blieb er nun stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Dein Unglauben war schon berechtigt, Junge. Aber bitte glaubt mir; alles, was ich euch erzählt habe und noch erzählen werde, ist wahr.

      Nun berührte er auch Nondols Schulter und fuhr in eindringlichem Ton fort: „Meine jungen Freunde, es ist wirklich wichtig, dass ihr mir glaubt. Ich schwöre bei Walon, dass ich euch keine Lügengeschichten auftischen werde. Und warum es wichtig ist, dass ihr mir glaubt, werdet ihr verstehen, wenn ich mit meiner Geschichte fertig bin und du, Nondol, deinen Auftrag erhalten hast“.

      Nondol wandte überrascht den Kopf und sah fragend zu seinem Großonkel auf. Aber Mingar verhinderte seine Frage im Ansatz. „Ja, du wirst einen Auftrag von mir erhalten. Aber dazu kommen wir erst am Schluss der Geschichte. Ihr müsst euch also beide noch etwas in Geduld fassen“. Während Mingar wieder zu seinem Platz zurückkehrte, wechselten Walgin und Nondol einen verunsicherten Blick. „Lasst mich also jetzt bitte die Geschichte weiterführen und unterbrecht mich nur, wenn ihr irgendetwas nicht verstanden habt.“

      Ein doppeltes Kopfnicken signalisierte Einverständnis. „Sehr schön, dann hört gut zu. Dieser Berg – und damit meine ich denjenigen in der Höhle – erfüllt eine unglaublich wichtige Aufgabe. Er besteht aus reinem Kristall und vor Urzeiten wurden unzählige kleine Einbuchtungen herausgearbeitet. Und in jeder dieser kleinen Kerben steckt wiederum ein Kristall. Sie sind etwa so groß, wie ein gewöhnliches Taubenei und jeder dieser Kristalle birgt eine Kraft in sich.“

      Nun wandte er sich an seinen Großneffen, “Sei doch bitte so gut und bring mir den Beutel, der dort in der Ecke auf dem Sims liegt.“

      Nondol kam dieser Aufforderung sofort nach. Bedächtig nahm er den bestickten Beutel und legte ihn vor Mingar auf den Tisch. Dann nahm er seinen Platz wieder ein. Mingar löste die Verschnürung, fasste in das Lederbehältnis und entnahm ihm den Edelstein, der aussah, als ob er aus poliertem, grünem Glas bestehen würde. Er hielt ihn den beiden Jungen entgegen und zwar mit Daumen und Zeigefinger, so dass sie einen ungehinderten Blick darauf hatten. Dabei sagte er: „Seht euch diesen eiförmigen Kristall einmal genau an.“

      Er beobachtete, wie die beiden jungen Männer sich nach vorne beugten und das Ei aufmerksam betrachteten. „Seht ihr das zarte Leuchten in seinem Inneren?“, fragte der alte Mann nun. Beide bekamen große Augen, als sie das vorsichtige, rote Glühen im Inneren des grünen Kristalls bemerkten. Dann nickten sie mit offenen Mündern, sagten aber kein Wort. Offenbar nahmen sie ihr Versprechen ernst.

      Zufrieden steckte Mingar den Edelstein wieder in den Beutel und legte ihn auf dem Tisch ab. Seinen nun folgenden Worte versuchte er möglichst viel Bedeutung zu geben: „Dieser Kristall hat dir, lieber Nondol, heute Nacht das Leben gerettet.“

      Sofort hob er beschwichtigend beide Hände, als er bemerkte, dass beide Jungen ihre Überraschung kundtun wollten. „Nein, nein! Ich weiß, ich mute euch viel zu. Aber lasst mich bitte erst weiter erzählen.“

      Nach einer kurzen Atempause fuhr er fort: „In den kleinen Öffnungen auf dem Gipfel des Berges in dieser Höhle stecken unzählige dieser wundersamen Steine. Und jeder einzelne von ihnen birgt unglaublich große, positive Energie.“

      „Onkel Mingar“, meldete sich nun Nondol verlegen, „entschuldige, aber was ist positive Energie?“

      „Oh ja“, antwortete Mingar, als er erkannte, dass er mit diesen Begriffen die falsche Ausdrucksweise gewählt hatte, „seht ihr, das ist es, was ich vorhin meinte, als ich sagte, ich müsste die richtigen Worte finden, damit ihr die Geschichte verstehen könnt. Wie soll ich das jetzt ausdrücken?“

      Mit nachdenklichem Gesicht richtete er seinen Blick in Richtung Zimmerdecke. Dann, als ob er von da oben eine Eingebung erhalten hätte, erhellte sich sein Blick. „Also Energie, das ist eine starke Kraft“, versuchte er zu erklären. „Und positiv bedeutet so viel, wie gut. Mit positiver Energie meine ich also eine Kraft, die Gutes bewirkt.“

      Er ließ seine Worte einige Sekunden wirken und fragte dann: „Genügt diese Erklärung? Könnt ihr euch darunter etwas vorstellen?“

      „Ja, ich glaube, das haben wir verstanden“, ließ Nondol sich hören und richtete dabei einen fragenden Blick zu Walgin, der ihm mit einem stummen Nicken beipflichtete.

      „Gut, also jeder dieser Kristalle bewahrt, wie ich bereits sagte, in seinem Inneren diese positive Kraft. Wodurch diese Kraft, also diese Energie, zustande kommt, kann ich euch leider nicht sagen. Jedenfalls werden auf dem Berg in dieser Höhle jene Kristalle verwahrt und das hat für das ganze Reich, in dem sich diese Höhle befindet eine unendlich große Bedeutung. Dazu könnte ich jetzt wiederum viel erzählen, aber das würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen“.

      Mingar unterbrach an dieser Stelle seine Erzählung kurz und nahm einen Schluck aus dem Krug. Nachdem er sich den Mund abgewischt hatte, nahm der den Faden wieder auf: „Und jetzt, meine jungen Freunde, komme ich langsam zum Kern der Sache. Dort, wo diese Kristalle aufbewahrt werden, gibt es eine sehr kluge, sehr weise und gütige Frau. Ihr Name ist Nenuana und sie ist die Hüterin dieser Höhle.“ Er unterbrach sich erneut und überlegte kurz: „Nein, sie ist eigentlich die Hüterin der Steine“, verbesserte er sich, indem er das Wort „Steine“ besonders betonte „und ich hatte die Ehre, diese Frau kennen zu lernen. Und nicht nur das; wir wurden sogar gute Freunde.“

      Nondol bemerkte, dass sich in diesem Moment ein wehmütiger Ausdruck auf Mingars Gesicht bemerkbar machte und für einen kurzen Augenblick war es ihm, als ob sein Großonkel damit zu kämpfen hatte, Tränen zu unterdrücken. Dann musste er aber seine Aufmerksamkeit auch schon wieder auf Mingars Worte richten.

      „Nenuana machte mir damals ein großes Geschenk“, fuhr Mingar mit seiner Geschichte fort. „Sie ist nämlich nicht nur klug, sondern auch sehr großzügig. Nun ja, sie überreichte mir jedenfalls das wundervolle Messer, das ihr dort drüben seht – und eben diesen Kristall.“ Bei diesen Worten legte er seine linke Hand andächtig auf den Lederbeutel. „Sie beschwor mich, keinen Gebrauch davon zu machen, bevor ich nicht in eine aussichtslose Situation kommen würde und unbedingt auf die Energie des Kristalls angewiesen wäre.“

      Erneut unterbrach er seine Erzählung und nahm einen