Toni Hartl

WOM


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      Abermals benötigte er eine kurze Pause.

      „Du kannst dich zum Glück nicht daran erinnern, mein Junge. Aber du lagst im Sterben. Ja, du hättest den heutigen Morgen nicht mehr erlebt, wenn dieser Kristall dir nicht geholfen hätte“. Damit wies er erneut auf den Beutel und erhob sich dann, um einige Schritte im Zimmer auf und ab zu gehen. Wie gebannt saßen sowohl Nondol, als auch Walgin auf ihren Stühlen und wagten kaum zu atmen. Der Alte hatte sie mit seinen letzten Worten in den Bann gezogen.

      Bis jetzt, so ging es Nondol durch den Kopf, war ich vor allem Walgin und Mingar dankbar. Ich dachte, sie wären es, die mir geholfen, mich gerettet hätten. Und jetzt soll plötzlich ein grünes, steinernes Ei dafür verantwortlich sein, dass ich noch lebe? Wie soll denn das überhaupt möglich sein?

      Bevor er seine Gedanken weiterführen konnte, drangen Mingars Worte in sein Bewusstsein: „Ich war mit meiner Weisheit am Ende, Nondol. Der Kräutertrank hatte nicht gewirkt. Die Kompressen und Wadenwickel waren vergeblich. Die Salbe, die ich dir in die Wunde gerieben hatte, blieb ebenso ohne Erfolg, wie die Gebete deiner Eltern. Dein Körper war vergiftet, du hattest so hohes Fieber, dass du eigentlich Schäden davongetragen haben müsstest.“

      Dann wandte er sich um und ging mit raschen Schritten auf Nondol zu: „Und jetzt sieh dich an. Du sitzt hier und bist gesund!“ Mit den letzten Worten war der alte Mann etwas lauter geworden und für Nondol klangen sie beinahe wie ein Vorwurf. Aber sicher waren sie von Mingar nicht so gemeint.

      „Bitte Mingar!“ warf er deshalb ein und sah seinem Großonkel ins Gesicht, als er flehte: „Erkläre es mir! Warum bin ich so plötzlich gesund geworden?“

      „Ganz einfach“, kam es über dessen Lippen, „weil ich die positive Energie des Kristalls gebrauchte, um deine Wunde zu heilen. Weil ich diesen Stein, der dort im Beutel liegt, auf deine Wunde legte und du deshalb innerhalb weniger Minuten wieder gesund wurdest! Die heilende Kraft floss heraus, verbreitete sich über deinen ganzen Rücken und ich konnte zusehen, wie die Verwundung so rasch heilte, dass ich es nicht glauben würde, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen!“

      Mit den letzten Worten war er etwas außer Atem gekommen. Das war aber nicht der Grund, weshalb er die Sache mit seinem eigenen Blutstropfen verschwieg. Wozu sollte es gut sein, dem Jungen in allen Einzelheiten den Gebrauch des Kristalls darzulegen? Er wandte sich ab und nahm seinen Gang durch den Raum wieder auf.

      Nondol saß verwirrt auf seinem Stuhl. Er hatte den Eindruck bekommen, dass Mingar wütend auf ihn war und er verstand nicht, weshalb. Deshalb fasste er sich ein Herz und fragte in fast weinerlichem Ton: „Mingar, bist du jetzt wütend auf mich? Es tut mir leid, ich hätte besser aufpassen müssen. Aber der Adler kam so plötzlich und so schnell auf mich zu und ich … „

      „Nein, nein, mein Junge!“ Mit diesen Worten war der alte Mann zu seinem Großneffen geeilt, stand nun hinter ihm und legte ihm beschwichtigend beide Hände auf die Schultern. „Mach dir keine Gedanken, Nondol. Entschuldige, dass ich mich im Ton vergriffen habe. Ich wollte dich nicht verunsichern oder verletzen. Ich bin nicht wütend auf dich. Ich bin auch nicht verärgert über mich oder über sonst jemanden. Nicht einmal über den Adler. Es ist nur … ich bin nur etwas aufgebracht, einfach weil es so ist, wie es ist.

      Ein fragender Blick der beiden Jungen veranlasste ihn zu einer Erklärung: „Es ist nämlich so ...“ Damit nahm er die Hände von Nondols Schultern und bewegte sich mit gemessenen Schritten und zu Boden gerichtetem Blick um den Tisch herum.

      „Also“, sprach er bedächtig weiter: „Demjenigen, der die Energie des Kristalls für sich nutzt, ist zur Aufgabe gegeben, den Stein unverzüglich wieder dahin zurück zu bringen, wo sein angestammter Platz ist.“

      Jetzt waren die Worte gesprochen! Niemand konnte sie mehr zurückholen. Damit hatte er Nondol die Aufgabe gestellt, auch wenn dieser die Situation noch nicht ganz erfasst hatte. Ein Blick auf die beiden Jungen machte ihm klar, dass keiner der beiden die Tragweite seiner Worte erfasst hatte. Damit zwangen sie ihn, deutlicher zu werden. „Du, Nondol, bist derjenige, dem die Kraft des Kristalls zuteil wurde. Dir hat der grüne Stein das Leben erhalten. Deshalb wirst du es sein, der ihn wieder zu seinem Berg in der Höhle bringen wird. Der Name diese Berges ist „Wom“. Er ist das Ziel deiner Reise, auf die ich dich leider schicken muss.“

      Nach einer kurzen Atempause sprach er etwas leiser weiter: „Und du hast sicher bemerkt, dass ich das Wort >unverzüglich< benutzte. Das heißt also, es ist eine gewisse Eile geboten.“ Und mit kaum hörbarer, geflüsterter Stimme fügte er hinzu: „Tut mir leid.“

      „Aber, aber … „ stammelte Nondol. Er suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, doch es wollte ihm nichts einfallen, mit dem er das Gesagte seines Großonkels hätte zunichte machen können. Und so hörte er sich schließlich sagen: „Ich weiß doch gar nicht, wo dieser Berg, dieser Wom, ist. Wie soll ich denn da hinkommen?“

      Überrascht drehte er sich zu Walgin, als dieser ihm die Hand auf den Unterarm legte und ihn zu ermutigen versuchte: „Lass nur, Nondol, Mingar wird uns schon erklären, wie wir da hinkommen. Und ich bin natürlich an deiner Seite, wenn du die Reise antreten musst.“

      Dann blickten sie beide erwartungsvoll zu Mingar. Dieser lächelte milde und ging auf die zwei Freunde zu. „Nun, was die Botschaft angeht, die in dem Beutel mit enthalten war, steht wohl nichts dagegen, dass du ihn begleitest“, richtete er seine Worte an Walgin. Dann wandte er sich an Nondol. „Aber darüber müssen wir selbstverständlich noch mit seinen Eltern sprechen.“

      „Eine Botschaft?“, fragte Nondol neugierig.

      „Ja, seht her.“ Mit diesen Worten nahm er das bestickte Säckchen und wendete die Innenseite nach außen. In kunstvoll verschnörkelter Schrift waren hier Worte aufgedruckt, deren Inhalt Mingar nun vorlas:

      Du, der du den Segen des Kristalls verspürtest,

      sollst der Bote sein und den Heil bringenden Stein

      nicht länger seiner Heimat beraubt lassen.

      Sei dir des Ernstes der Aufgabe bewusst.

      Erfülle sie ohne schuldhaftes Verzögern.

      Bist du gebrechlich, so trete eine Person deines Blutes für dich ein,

      bist du jedoch zu jung, so warte,

      bis die eigene Kraft dir erlaubt, die Last zu tragen.

      Niemand vom eigenen Blute soll des Weges dich geleiten.

      Und bedenke. Deine Reise wird vergeblich gewesen sein,

      wenn du sie nicht dazu nutzt, die Kraft des Steines zu erneuern.

      Nachdem Mingar geendet hatte, wendete er den Beutel wieder und sah die Beiden eine Weile schweigend an, bevor er mit nachdenklich gefurchter Stirn sagte: „Nun, was den Hinweis in den letzten Zeilen betrifft, so rätsle ich selbst noch über deren Bedeutung. Aber darüber wollen wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen.“

      Als die zwei jungen Männer auf ihren Stühlen unruhig wurden, beeilte sich Mingar weiter zu reden: „Ich gehe davon aus, dass ihr verstanden habt, was ich euch vorgelesen habe. Aber bleibt erst einmal ganz ruhig. Ich denke nicht, dass dieses >ohne schuldhafte Verzögerung< bedeutet, ihr sollt bereits morgen in aller Frühe aufbrechen. Nein, nein, bevor es so weit ist, habe ich euch noch einiges zu erzählen und zu erklären.“

      Nondol war ganz in Gedanken versunken. Er konnte noch gar nicht erfassen, was hier alles auf ihn einstürzte. Er fühlte sich grenzenlos überfordert, wenn er sich versuchte vorzustellen, was demnächst auf ihn zukam. Und er fühlte sich überrumpelt von Mingar, der den Eindruck erweckte, als ob es sich bei dem, was er ihm aufgetragen hatte, um einen Tagesausflug zu den nahe gelegenen Travas-Bergen handelte. Wie durch Watte