Wiedersehen.
Verlust
V. A. Swamp
Andrea
Liebe ist nicht heilbar
Roman
Es war der erste schmerzhafte Verlust. Das Baby zeigte sein Unbehagen über das plötzliche Verschwinden seines Schnullers durch ein ohrenbetäubendes Gebrüll, was sich immer weiter zu steigern schien, da das Geschrei keinerlei Reaktion erzeugte. Die Mutter war zum Einkaufen gegangen, weitere Bezugspersonen wie beispielsweise ein Vater (der hatte sich bereits vor der Geburt verpisst), Großeltern mütterlicherseits (schon lange tot), Großeltern vaterseits (unbekannt). Geschwister (nicht vorhanden), Nachbarn (berufstätig) und andere Personen, die dem Baby hätten helfen können, gab es nicht. Auch hatte das Baby dummerweise noch nicht gelernt, den Verlust zu kompensieren. Zum Beispiel durch seinen Daumen. Es war eine verzweifelte, ja so schien es, hoffnungslose Situation. Es sollte nicht der einzige Verlust in seinem Leben bleiben. Vielmehr sollte sich das Leben als eine wahre Verlustkette entpuppen: der Verlust der Lieblingspuppe, der Verlust von Freunden, die sich nicht als solche bewährt hatten, der Verlust der Unschuld, der Verlust des Vertrauens, der Verlust des Glaubens an das Gute im Menschen und so weiter und so weiter. Es würde allerdings sehr lange dauern, bis sich die Einsicht durchsetzte, dass der Verlust materieller Dinge ohne Bedeutung ist. Materielle Dinge kann man ersetzen, den Verlust eines geliebten Menschen nicht.
Die Einladung
Was für ein Jahr! Um es präziser zu sagen, was für eine erste Jahreshälfte. Ich hatte gerade noch meinen Sylvester-Prosecco genossen, da erreichten mich Nachrichten aus einer Region, die ich gedanklich schon längst abgeschrieben hatte. Jahrzehntelang herrschten dort politischer Stillstand, Armut, Unterdrückung und Hoffnungslosigkeit, aber mir war das egal. Ich glaube, vielen anderen Menschen auch, die glücklich waren, solange sie in Tunesien und Ägypten billigen Urlaub machen konnten. Dann plötzlich erhoben sich die Menschen in dieser Region gegen die Gewaltherrschaft und das Ganze entwickelte sich schnell zu einem Flächenbrand. Mitte Januar nahm der tunesische Machthaber Sein al-Abidin Ben Ali vor den revoltierenden Massen Reißaus. Das rettete ihn vor dem Gefängnis oder vielleicht sogar vor dem Tod. Mithin war das eine kluge Entscheidung.
Andere Despoten waren da weniger clever. Ägyptens Präsident Hosni Mubarak stürzte nach 30-jähriger Herrschaft und wanderte ins Gefängnis. In Libyen entbrannte ein monatelanger Bürgerkrieg, in dessen Verlauf der sich als „Löwe der Wüste“ selbst betitelte Muammar al-Gadhafi von den Aufständischen gepfählt wurde. Sicher kein schöner Tod, wenn auch vielleicht ein Verdienter. Im Golfstaat Bahrain ließ der dort herrschende König den Aufstand blutig niederschlagen, mithilfe von Hilfstruppen aus dem benachbarten Saudi-Arabien. In Syrien klammert sich Baschar al-Assad an die Macht und führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Jeder, der gegen ihn ist, ist ein Terrorist und Terrorristen müssen bekämpft und am besten ohne langes Zögern liquidiert werden. Frauen und Kinder werden sicherheitshalber gleich mit beseitigt, damit das Übel mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird. Das ist weder eine neue noch eine originelle Methode. Die Geschichte der Menschheit quillt über mit solchen Verbrechen und psychopathischen Mördern, die sich meistens dadurch legitimieren, indem sie behaupten, im Namen des Volkes zu handeln. Wahrscheinlich stimmt das sogar. Es hat immer einen willigen Teil der Völker gegeben, die freudig den unwilligen Teil massakriert haben. Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte.
Im Februar verlor der neue Star unserer deutschen Politik seinen Glanz. Karl-Theodor zu Guttenberg war zunächst noch der unangefochtene Liebling der Bürger und der Medien. Aufrecht, gut aussehend, jung, unbelastet, verheiratet mit einer zauberhaften Barbiepuppe und noch adlig dazu. Mehr geht kaum. Manche sahen in ihm schon den nächsten Kanzler. Doch dann fanden ein „nichtsnutziger und völlig überflüssiger“ Wissenschaftler aus Bremen und dann auch noch so genannte „Internetaktivisten“ heraus, dass Guttenberg es bei seiner Dissertation mit wissenschaftlich akribischer Arbeit nicht so genau genommen hatte. Der Freiherr war so frei, sich in seiner Doktorarbeit zahlreicher Quellen zu bedienen, ohne diese korrekt zu zitieren. Mein Gott, diese Beckmesser sollen sich nicht zu haben. Schließlich waren die Mehrfachbelastungen von Promotion, politischem Wirken und Einsatz für die Familie und anderes daran schuld, oder? Aber diese Stammtischgiganten kennen kein Pardon. Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Josef Sylvester Buhl Freiherr von und zu Guttenberg verlor seine politischen Ämter, und die Universität Bayreuth erkannte ihm die Doktorwürde ab. Ja, Strafe muss sein …
Ich träumte vom nahen Frühling, da wurde ich am 11. März abrupt aus meinen Träumen gerissen. Um 14.47 Uhr bebte die Erde an der Ostküste Japans und das heftige Beben mit der Stärke 9 löste einen gewaltigen Tsunami aus. Weite Landstriche wurden überflutet, Hunderte Dörfer und Städte wurden zerstört. Mindestens 16.000 Menschen starben, Zehntausende wurden obdachlos. Die Flutwellen überschwemmten auch das Atomkraftwerk in Fukushima und die Welt erlebte den zweiten Super-GAU nach Tschernobyl. Vier der sechs Reaktorblöcke wurden zerstört, in drei von ihnen kam es zur gefürchteten Kernschmelze. Große Mengen an Radioaktivität wurden freigesetzt und vergifteten Luft, Böden, das Meer, das Grundwasser und auch die für die Schadensbegrenzung eingesetzten Rettungsarbeiter. Mehr als 100.000 Menschen mussten die Region verlassen – viele wahrscheinlich für immer. Das erschreckte sogar unsere ansonsten unerschrockene Kernkraftwerke befürwortende Kanzlerin und sie machte kurzerhand ohne weitere politische Diskussion die zuvor heftig umstrittene Verlängerung der Laufzeiten für die hiesigen Atomkraftwerke rückgängig. Das hätte ich nicht erwartet, von unserer Aussitzerkanzlerin, und so hat die schreckliche Katastrophe von Fukushima doch ein Gutes: Ein jahrzehntelanger gesellschaftlicher Großkonflikt in Deutschland, der mich den Großteil meines Lebens begleitet hat, geht zu Ende. Und was ist mit unseren europäischen Nachbarn? Deren Kernkraftwerke, zum Teil erheblich unsicherer als die Unsrigen, werkeln kräftig weiter, zum Teil sogar in Grenznähe. Na ja, es wird schon nichts passieren! Dachten die Japaner auch.
Inzwischen ist der Sommer da, und die letzten Tage waren schon fast zu heiß zum Golfspielen. Zumindest, wenn man die 18 Löcher läuft. Ich habe gestern Abend, so wie ich das fast immer mache, kurz vor acht Uhr den Fernseher angemacht, um die Tagesschau zu sehen. Als die ersten Bilder und Nachrichten aus dem Regierungszentrum der Hauptstadt Oslo und von einer norwegischen Ferieninsel namens Utoya über den Bildschirm liefen, kam mir das Ganze wie ein unwirklicher Albtraum vor. Ein rechtsextremes Arschloch namens Anders Behring Breivik hatte zunächst am Mittag einen Bombenanschlag auf das Regierungszentrum verübt und dabei acht Menschen getötet. Danach war er als Polizist verkleidet zu einer Ferieninsel gefahren und hatte dort im Sommercamp der sozialdemokratischen Jugendorganisation 69 Jugendliche und Betreuer