eins draufzusetzen: Ich besitze sogar ein iPhone, obwohl ich die Produkt- und Preispolitik der Firma APPLE zutiefst missbillige …
Ich nehme den Hörer von der Gabel und melde mich mit »Hallo«. Ich finde das eigentlich unhöflich, aber Rita meinte, dass man tunlichst nicht seinen Namen am Telefon nennen sollte. Sie hat mir auch erklärt warum, den Grund habe ich vergessen. Ich habe ohnehin schon viel von ihr vergessen, dabei ist sie erst vier Jahre tot. Ich nehme mir oft eines unserer Fotobücher zur Hand, damit ich mich vergewissern kann, welch schönes Mädchen einst neben mir im Bett lag. Es ist eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Sagt man das überhaupt heute noch „am anderen Ende der Leitung“? Wahrscheinlich gibt es für die großen Entfernungen gar keine Leitungen mehr, oder? Egal. Die Frauenstimme fragt:
»Raimar, bist Du das?«
Klar, ich bin Raimar Nowitzky, wer sollte ich auch sonst sein?
»Ja, ich bin Raimar.«antworte ich »und wer sind Sie?«
»Andrea, Du erinnerst dich?«
Ist das jetzt ein Déjà-vu? Ich denke an die rosafarbene Einladung.
»Andrea?« frage ich zurück »die Andrea, mit der ich vor hundert Jahren verheiratet war?«
Andrea lacht und da weiß ich, dass es „meine Andrea“ ist. Es ist genau dieses Lachen, das mir schon damals so sehr an ihr gefallen hat.
»Es mag Dir wie hundert Jahre vorkommen, aber es sind genau 34 Jahre vergangen, seit unserer Trennung.«
Stimmt das? So schnell kann ich das gar nicht nachrechnen. Na, sie wird schon recht haben, sie war schon damals ein sehr präzises Mädchen.
»Andrea, schön von Dir zu hören. Wie geht es Dir?«
Es fällt mir partout keine originellere Frage ein. Aber was fragt man sonst in einer solchen Situation?
»Gut, alles bestens. Hast Du meine Einladung bekommen?«
Ich zögere einen Moment. Soll ich das zugeben oder besser den Unwissenden spielen? Ich übergehe die Frage und versuche das Gespräch auf eine andere Ebene zu schieben.
»Und Deinem Mann geht es auch gut? Hast Du eigentlich Kinder?«
Ich finde beide Fragen ausgesprochen blöd und irgendwie fühle ich, dass es Andrea ebenso geht.
»Du kennst doch meinen Mann gar nicht, oder?«
Natürlich kenne ich diesen Müller nicht und verspüre auch keinerlei Lust, ihn kennenzulernen.
»Ja, aber falls es Dich interessiert. Meinem Mann geht es gut und Kinder haben wir keine!«
»Wann hast Du denn wieder geheiratet? Sagtest Du nicht damals, von Heiraten, hättest Du genug? Nach der Pleite mit uns beiden.«
Ich bin jetzt sicher, Andrea von der rosafarbenen Einladung weg zu bekommen. Andrea lacht erneut.
»Also Großer, wenn Du es schon so genau wissen willst: Ich habe noch zweimal geheiratet. Mit meinem jetzigen Mann sind es aber auch schon wieder 22 Jahre.«
»Da habt Ihr ja das verflixte siebente Jahr schon mehr als dreimal überstanden?«
Ich merke, dass die Unterhaltung dank meiner Einfallslosigkeit immer weiter in Plattitüden abrutscht. Aber Andrea rettet die Situation mit ihrem Lachen. Ob dieses frische, ja beinahe jugendlich klingende Lachen zu ihrem jetzigen Aussehen passt? Ein sechzig Jahre altes Mädchen. Steht dem überhaupt so ein Lachen zu? Ist dieser Gedanke chauvinistisch oder einfach nur blöd?
»Wir feiern in drei Wochen eine Party. Eine Freundin, ein guter Freund und ich, wir werden alle sechzig. Da haben wir beschlossen, alle Menschen, die uns wichtig sind oder waren, einzuladen.«
Andrea macht eine kurze Pause, um dann zu ergänzen:
»Da gehörst Du zweifellos dazu.«
Ich war Andrea einmal wichtig? Nett, dass sie das so formuliert. Wir waren uns beide einmal sehr wichtig. Wir waren jung, leidenschaftlich und, was mich betrifft, unglaublich dumm. Ich habe tatsächlich geglaubt, meine Kreuz-und-quer-Vögelei vor Andrea auf Dauer geheim halten zu können. Na ja, das gehört jetzt nicht hierher.«
»Eine Party also?«
»Ja, und ich würde mich unbändig freuen, wenn Du und Deine Frau kommen würden.«
Der Satz trifft mich wie der Wurf eines äußerst aggressiven Messerwerfers. Er muss meine Lunge getroffen haben. Mit einem zischenden Geräusch entweicht meine Atemluft, wie bei einem angestochenen Fahrradreifen, explosionsartig nach draußen. Kommt jetzt der Herzstillstand? Ich glaube, das ist eher unwahrscheinlich, denn ein Herz habe ich seit Ritas Tod ohnehin nicht mehr. Von irgendwo ganz fern höre ich Andreas Stimme.
»He, Großer, bist Du noch da? Ich kann Dich nicht mehr hören.«
Ich versuche mich zu konzentrieren, aber die Schmerzen im Brustraum sind schwer erträglich. Ich bemühe mich, so normal wie möglich zu atmen, und zu klingen. Ich bin sicher, meine Stimme hat ihren Wohlklang verloren, sofern man bisher überhaupt von Wohlklang sprechen konnte.
»Ja, es ist alles gut. Ich bin noch da. Würdest Du gegebenenfalls auch nur mit mir vorlieb nehmen? Rita ist seit vier Jahren tot.«
Damit ist der Gesprächsfaden erst einmal gerissen und Andrea schweigt. Ich denke an Rita und ich bin nicht sicher, ob ich das Gespräch mit Andrea fortsetzen möchte. Eine gefühlte Ewigkeit unterbricht Andreas Stimme meine Gedanken.
»Das tut mir leid. Ich meine, das wusste ich nicht. War sie krank?«
»Es war ein Verkehrsunfall. So ein Arschloch hat nicht aufgepasst und uns auf dem Zebrastreifen erwischt. Ich hatte Glück, Rita nicht.«
Ich fühle tiefen Schmerz. Vier Jahre habe ich daran gearbeitet, diesen Schmerz weitgehend zu verdrängen, und jetzt das. Warum muss diese Andrea mich an diese schrecklichen Dinge erinnern? Das Bangen, ob Rita überleben wird. Dann schließlich der morgendliche Anruf aus dem Krankenhaus. Aus und vorbei. Es war für mich das Ende der Welt. Für eine Zeit war ich bereit, Rita zu folgen. Aber es fehlte mir der Mut für diesen finalen Schritt. Andrea reißt mich aus meiner tristen Gedankenwelt.
»Kommst Du zurecht?«
Was für eine Frage. Noch nie hat mir jemand diese Frage gestellt. Was ist das? Neugier? Empathie?
»Ich denke schon. Aber achtundzwanzig Jahre Ehe kann man nicht so einfach vergessen.«
Das will ich auch nicht, denke ich. Wir hatten eine tolle Zeit, meistens jedenfalls. Und wir hatten tollen Sex miteinander, auch meistens.
»Kannst Du zu unserer Party kommen? Ich würde mich sehr freuen, Dich wiederzusehen.«
Ich merke, Andrea will vom Tod meiner Frau weg. Das ist mir nur recht.
»Ja, ich komme gerne.«
Das ist eine Lüge, seit dem Tod von Rita bin ich auf keine Party mehr gegangen und auch diese Party reizt mich nicht im geringsten. Ich hoffe, dieses Gespräch ist bald zu Ende.
»Dann setze ich Dich auf die Liste. Hast Du unsere Einladung schon erhalten? Falls nein, dann kriegst Du diese bestimmt Morgen. Wir möchten übrigens keine Geschenke. Wenn Du etwas in dieser Richtung machen willst, dann spende an Greenpeace. Es steht alles in der Einladung.«
»An Greenpeace? Ich dachte immer, Du seist evangelisch?«
Andrea geht auf meine dümmliche Bemerkung nicht ein.
»Dann sehen wir uns in drei Wochen. Ich freue mich.«
Ich