weiß, wovon ich rede. Rita ist vor vier Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Mein Leben hat sich seitdem drastisch verändert. Nein, das ist die falsche Formulierung. Ich habe mich drastisch verändert. Ich bin eine ziemlich kraftlose kontaktscheue und wahrscheinlich auch ein wenig armselige Person geworden, die sich ständig fragt, warum Gott Rita und nicht mich geholt hat. Das mit Gott ist nicht allzu ernst zu nehmen. In meinem Leben gibt es keinen Platz für solche Kindermärchen.
Das Geklapper der Briefkastenklappe verrät mir, dass der Briefträger fleißig war. Ich muss unbedingt diese scheußliche Klappe reparieren. Sie macht ein unglaubliches Getöse, selbst wenn nur ein dünner Brief eingeworfen wird. Meistens bekomme ich ohnehin nur Werbung. Oder Rechnungen. Wobei, das mit den Rechnungen, das ist schon viel besser geworden. Fast alles wird heutzutage direkt abgebucht. Unterhalb der Klappe auf dem Flurboden liegt heute ungewöhnlich viel Post. Sollte kein Problem sein, ich bin sehr geübt im Aussortieren überflüssiger Post. Werbung kommt immer ungelesen in den Müll, Rechnungen lege ich auf den Stapel neben dem Computer, damit ich die später per Onlinebanking bezahlen kann. Falls dann noch etwas übrig bleibt, hole ich meine Lesebrille. Heute ist ein rosafarbener Umschlag übrig geblieben. Mein Gott, wer verschickt denn heute noch Post in rosafarbenen Umschlägen? Ich reiße den Umschlag auf und heraus fällt eine ebenso rosafarbene Klappkarte: „Einladung zum 60. Geburtstag“.
Ich bin schon seit Jahren nicht mehr schriftlich eingeladen worden. Einladungen bekomme ich gewöhnlich per Telefon, seltener per Email. Die Einladungen per Email kann man so wie so in aller Regel vergessen. Sie betreffen meistens mein Arbeitsleben und das ist seit einem Jahr Geschichte. Ich gebe zu, ich hätte gerne länger gearbeitet, aber mein Arbeitgeber war der Meinung, dass man mit 65 und nach über 40 Arbeitsjahren den Ruhestand genießen sollte. Was für ein Quatsch, ich fühle mich heute genauso fit wie mit 56. Na ja, fast jedenfalls. Eine Einladung auf rosafarbenem Karton? Wahrscheinlich war der Karton eine Restcharge beim Drucker. Bei Restchargen ist der Druck besonders günstig. Ich kenne mich da aus. Ich war mein Leben lang journalistisch tätig, da hat man intensiven Kontakt zum grafischen Gewerbe. Einladung zum 60. Geburtstag? Ein solches Datum habe ich bereits sechs Jahre hinter mir. War für mich damals kein Grund zum Feiern. Überhaupt waren Geburtstage mir bisher nicht wichtig. Älter wird man ohne eigenes Zutun. Wenn man die fünfzig überschritten hat, sollte man das ohnehin nicht mehr an die große Glocke hängen. Wenn man mich nach meinem Alter fragt, was im Allgemeinen nur besonders dumme und ignorante Menschen tun, sage ich immer „über fünfzig“. Impertinente Nachfragerei beantworte ich dann mit der Gegenfrage „Sind Sie schon siebzig?“ Das wirkt immer, besonders wenn der oder die Fragende deutlich unter sechzig ist. Dann hört meistens die blödsinnige Fragerei auf. Wer wird sechzig und verschickt Einladungen auf rosafarbenem Karton? Ich bin sicher, das ist ein Irrtum. Leute mit schlechtem Geschmack kenne ich eigentlich nicht oder will ich zumindest nicht kennen.
Oh, es scheint eine Massenabfertigung zu sein. Es laden gleich drei Geburtstagskinder auf einmal ein. Das ist praktisch. Auf diese Weise kann man verhindern, dass die Party mangels Gästen ausfallen muss. Außerdem kann man sich die Kosten teilen. Wobei, das mit dem Teilen ist unter Umständen problematisch. Was ist, wenn einer der Einladenden seine ganzen Kollegen auf Kosten der beiden anderen einlädt? Ach, dummes Zeug, was Du Dir da wieder zusammenreimst. Die Einladenden sind zwei reife Mädchen und ein alter Knabe. Die Namen sagen mir nichts. Die Einladung ist bestimmt ein Versehen. Eine der Einladenden heißt Andrea Müller. Andrea? Da klingelt etwas bei mir. Ich kannte eine Andrea, das war vor gefühlt hundert Jahren. Damals wohnte ich bereits in Berlin. Da lebe ich übrigens immer noch. Mit dieser Andrea war ich sogar ein paar Jahre verheiratet. Ich muss nachdenken. Als wir uns kennenlernten, war sie neunzehn, glaube ich. Ich war älter, so etwa fünf bis sechs Jahre. Irgendwann haben wir geheiratet. Ich weiß nicht, warum. Wir waren doch auch ohne Trauschein sehr glücklich, oder? Na ja, heiraten hat ja sowieso nichts mit Glück zu tun. Oder mit Liebe. Unsere Ehe hat jedenfalls knapp vier Jahre gehalten. Andrea jetzt sechzig? Das könnte hinkommen. Aber Andrea Müller? Die Andrea, die ich kannte, war ein flippiges Ding, die hätte niemals einen „Müller“ geheiratet. Oder vielleicht doch? Andrea Müller, ob das wirklich „meine Andrea“ ist? Falls ja, wie ist sie an diesen Müller geraten? Irgendwer hat mir irgendwann erzählt, dass Andrea wieder verheiratet sei. Mit wem, das hat mir sicherlich niemand erzählt. Hätte mich auch nicht interessiert. Ich war mit Rita glücklich und das mit Andrea ist ja schon so lange her.
Vielleicht hat dieser Müller gewisse Vorzüge? Geld? Gutes Aussehen? Eine ewig geilen Riesenschwanz? Das mit dem Riesenschwanz ist der Albtraum von uns Jungs spätestens dann, wenn wir einen dieser amerikanischen Pornofilme gesehen haben. Die Jungs darin sind alle mit einem Riesenprügel ausgestattet, der uns blass werden lässt. Da können unsere Mädels noch so sehr beteuern, dass es auf die Größe nicht ankommt. Angesichts dieser Monstrositäten fühlen wir uns unweigerlich minderbemittelt. Andrea Müller? Wer sind die beiden anderen, vielleicht steckt einer von denen hinter meiner Einladung? Annegret Kirchner, die kenne ich garantiert nicht. Annegret, scheußlicher Vorname. Anna wäre gut, aber Annegret? Dann lädt noch ein Klaus Stücklen ein. Den kenne ich mit Sicherheit auch nicht. Stücklen, Stücklen – hieß so nicht einmal ein Postminister? Der ist aber garantiert schon ein paar Jahre tot und Tote verschicken normalerweise keine Einladungen zu Geburtstagsfeiern. Wahrscheinlich ist das Ganze doch ein Irrtum. Ich nehme Umschlag und Karte und werfe beides in den Müll.
Was soll ich mit dem heutigen Tag anfangen? Zuerst ein Frühstück, das ist klar. Vielleicht verwöhne ich mich heute mit Eiern, Speck, Zwiebeln und Bratkartoffeln? Das ist keine schlechte Idee, zumal ich alle Zutaten im Haus habe. Rita hat dieses Frühstück gehasst, schon wegen des Geruchs. Aber Rita ist schon eine Weile tot. Leider, muss ich sagen. Ich habe Rita sehr geliebt, obwohl sie das nie so richtig wahr haben wollte. Das Telefon klingelt. Ich besitze immer noch so ein schwarzes Ding mit richtigem Hörer, ein Original W48 aus den Fünfziger Jahren. Das ist pure Nostalgie. Ich bin kein Messie, aber von so schönen bewährten alten Dingen kann ich mich schlecht trennen. Ich besitze zum Beispiel noch immer so ein klotziges SONY-Tonbandgerät, so eines mit großen 26,5 cm Spulen. Wenn ich es mir abends gemütlich gemacht habe, also mit einem leckeren Wein, ein paar Keksen und gutem Lesestoff und ich dann das SONY anstelle und die Spulen sich fast majestätisch drehen und etwas von meiner Lieblingsmusik erklingt, das ist schon etwas ganz Besonderes. Auch meine ONKYO-Stereoanlage aus den Siebzigern besitze ich noch. Mit allen Komponenten wie Kassettengerät, Receiver, CD-Spieler, Plattenspieler und einem mächtigen Verstärker. Tolle Geräte mit Gehäusen aus gebürstetem Aluminium! Was für eine geile Haptik! Wie sich das anfühlt! Das ist was anderes als dieser Plastikscheiß, der heute angeboten wird. Gebürstetes Aluminium, wertvoll, solide, klassisch schön! Einfach großartig. Das ist schlichtweg unschlagbar.
Ich habe vor Jahrzehnten auf der Hannovermesse einen Menschen getroffen, der sich selbst als „Guru des deutschen Designs“ ansah. Ich war damals begeistert vom Aussehen der Erzeugnisse der japanischen Unterhaltungselektronik wie Receivern, Tonbandgeräten, Lautsprecherboxen und Ähnlichem. Das alles war so ganz anders als die Produkte deutscher und holländischer Firmen, die uns damals angeboten wurden. Ich habe diesen Designer nach seiner Meinung über das „japanische Design“ befragt. Es fehlte nicht viel, und dieser Typ hätte mir ins Gesicht gekotzt. Japanisches Design? Das sei doch wohl ein schlechter Witz? So etwas gäbe es doch gar nicht. Wahrscheinlich war der Typ immer noch auf dem Niveau von NORDMENDE Radios, mit „Magischem Auge“ versteht sich ... Oder hatten die GRUNDIG Geräte dieses „Magische Auge“? Ist ja auch egal, sahen jedenfalls alle meiner Meinung nach scheußlich aus. Auch wenn sie perfekt zu deutschen Wohnstuben mit ihren schweren Schrankwänden und den anderen Geschmacklosigkeiten passten. Natürlich benutze ich meine alten japanischen Geräte nur noch selten. Meine große Schallplattensammlung habe ich längst verkauft, nachdem ich die wichtigsten Platten digitalisiert habe. Kompaktkassetten habe ich ebenfalls keine mehr, aber das Abspielgerät verbinde ich mit so viel tollen Erinnerungen, davon will ich mich nicht trennen. Bin ich zu sehr vergangenheitsorientiert? Das W48 klingelt immer noch. Was für ein Klingeln! Nicht diese schrecklichen Synthesizergeräusche, mit denen diese Smartphones akustische Umweltverschmutzung betreiben, sondern ein einfaches, klares und grundehrliches Klingeln. Außerdem ist das W48 extrem pflegeleicht und funktioniert immer. Mich nervt es, dass man diese modernen Smartphones ständig aufladen muss, nur um all die Funktionen betriebsbereit zu halten, die man