V. A. Swamp

Andrea – Liebe ist nicht heilbar.


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Müller. Unbekannterweise.«

      Andrea lacht und legt auf.

      Ich gehe zum Mülleimer und ziehe die rosafarbene Einladungskarte heraus. Ich kann es nicht glauben, was für ein Weichei ich bin. Warum habe ich Andrea nicht gesagt, dass sie mich nach über 34 Jahren nicht mehr im Mindesten interessiert? Ich hatte sie komplett vergessen, so wie auch die anderen Mädels aus jener Zeit. Mich interessieren seit Ritas Tod ohnehin keine Mädchen oder Frauen oder Fotzen oder, wie immer man das bezeichnen will, mehr. Auch bin ich seit Ritas Tod nicht mehr auf irgendeiner Party gewesen, obwohl ich etliche Einladungen bekommen habe. Freunde haben in den ersten beiden Jahren nach Ritas Tod öfters versucht, mich auf die eine oder andere Art aufzuheitern. Manchmal haben sie auch versucht, mich mit irgendwem zu verkuppeln. Dem habe ich stets einen Riegel vorgeschoben. Mit jemandem in meinem Alter etwas anfangen? Eine total gruselige Vorstellung. Das Aussehen, der Geruch, die Eigenheiten dieser späten Mädchen erzeugen bei mir spontanen Brechreiz. Ja, mit Rita war das etwas komplett anderes. Rita war immer sehr gepflegt, sehr sauber, sehr gut angezogen, drüber und drunter, und überhaupt bis zuletzt eine Schönheit. Wird dieser Blick zurück getrübt vom Schmerz des Verlustes oder sehe ich meine Zeit mit Rita real und klar? Wie auch immer, seit zwei Jahren ist Ruhe. Außer meinen Golffreunden ruft niemand mehr an, und das ist auch gut so. Und jetzt soll ich ausgerechnet zur Geburtstagsparty meiner Ex gehen? Wie bescheuert ist denn so was?

      Auf der Einladung steht hinten und ziemlich klein der Hinweis auf Greenpeace einschließlich deren Kontoverbindung. Hier wird anscheinend nichts dem Zufall überlassen. Wie viel soll ich überweisen? Zwanzig Euro? Das ist sicher zu schoflig. Hundert Euro? Ist das zu viel für ein sechzig Jahre altes Mädchen? Ach was, Greenpeace wird schon irgendeinen Blödsinn damit anstellen. Ich überweise 200 Euro, und als Verwendungszweck schreibe ich „Geburtstag Andrea Müller“ in der Hoffnung, dass Greenpeace Andrea darüber informiert, wie großzügig ich unter Umständen sein kann. Welche Umstände? Bevor ich die Einladung beiseitelege, schaue ich sie mir noch einmal genau an. Stehen dort irgendwelche Absenderangaben? Fehlanzeige. Ich gehe zum Mülleimer und entnehme den Umschlag. Tatsächlich finde ich dort die Adresse von Andrea Müller, die allerdings nicht identisch ist mit dem Ort der Geburtstagsparty. Ich habe so eine Marotte. Ich nehme alle Namen, Adressen, Telefonnummern, E-Mail-Daten, und was weiß ich sonst noch, in eine Art Datenbank in meinem Laptop auf. Das hat sich schon öfter als hilfreich erwiesen und der Aufwand ist im Verhältnis zum Nutzen gering. Leider ist keine Telefonnummer angegeben. Heutzutage scheuen sich viele Menschen, ihre Telefonnummer zu veröffentlichen, weiß der Teufel warum. Ich google Andreas Adresse und tatsächlich finde ich im Internet auch eine Festnetznummer. Damit finden die Kerndaten von Andrea Müller ihren Platz in meiner Adressdatenbank. Sicherheitshalber übernehme ich ihre Festnetznummer auch noch in mein iPhone.

      Die Zeit mit Andrea.

      Andrea. Seltsam, dass sie sich nach so langer Zeit meldet. Wie hat sie mich überhaupt ausfindig gemacht? Na klar, wir Jungs ändern ja in der Regel nicht unseren Namen, und da ist das „ausfindig machen“ über das Internet wohl kein so großes Problem, oder? Es ist also tatsächlich „meine Andrea“. Ich erinnere mich jetzt ziemlich genau an jene Zeit. Ich war damals gerade nach Kreuzberg gezogen. Das war für Studenten die ideale Wohngegend. Die Mieten waren billig und es gab reichlich Wohnraum, weil viele Menschen nach dem Mauerbau die Stadt verlassen hatten. Überhaupt war West-Berlin zu dieser Zeit die tollste Stadt der Welt. Na ja, zumindest meiner Welt. Das Reservoir an Menschen, die sich um jeden Preis amüsieren wollten, schien schier unerschöpflich zu sein. Hilfreich beim 24-stündigen Amüsement war der Umstand, dass es weder eine Polizeistunde noch eine Getränkesteuer gab. In den Westberliner Eckkneipen kostete das große Bier so um die 50 Pfennig, und ein Schnaps war für 15 Pfennig zu haben, glaube ich jedenfalls. Da konnte man sich problemlos für drei Mark besaufen. Allerdings waren Eckkneipen nicht unbedingt mein Fall. Mich zog es dorthin, wo andere Studenten und ähnliche Nichtsnutze den Abend und die Nacht verbrachten. Meistens begannen wir unsere abendliche Sauftour bei „Leydicke“. In der sogenannten Likörfabrik wurden scheußlich süße Obstweine und selbst gebrannte Liköre ausgeschenkt. Die Liköre habe ich allerdings nur einmal probiert. Nachdem ich sechs oder acht dieser „Bretterknaller“ in mich hinein geschüttet hatte, war für mich der Abend ganz schnell zu Ende. Ich habe es gerade noch in mein Bett geschafft, was nicht einfach war, da dieses bedenklich durch den Raum schaukelte und nur sehr schwer festzuhalten war …

      Die Liköre sollen auch der Grund für eine unter Leydicke-Stammgästen grassierende Dauer-Amnesie gewesen sein. Kredenzt wurden die merkwürdigen Leydicke-Getränke von Lucie. Solange es das Wetter zuließ, und das war nach Meinung der Leydicke-Stammgäste fast immer, fand der wichtigste Teil der Vergnügungen nicht in, sondern vor der Kneipe statt. Da herrschte dann ein unglaubliches Gedränge um die zahlreichen Stehtische und es war oft schwer, überhaupt einen Platz zu finden. Ich habe nie verstanden, wie es möglich war, dass Lucie Leydicke scheinbar synchron an all diesen Stehtischen gleichzeitig bedienen konnte und jeder letztlich genau das Getränk erhielt, was er bestellt hatte. Trotz des Chaos, welches hier herrschte, schien alles korrekt zuzugehen. Selbst die Schlussrechnungen waren immer stimmig. Oder waren wir zu betrunken, um das überhaupt noch nachvollziehen zu können? Lucie war beileibe kein junges, sondern ein schon ziemlich altes Mädchen. Für ihre Berliner Kodderschnauze hätte sie eigentlich einen Waffenschein benötigt. Mann war das ein Luder, wenn auch mit viel Herz. Ihr Humor war zielsicher, schlagkräftig und mäßig beleidigend. Außerdem war sie sehr demokratisch: Niemand war vor ihren beißenden Bemerkungen sicher.

      Ich war an diesem Abend später als sonst zu Leydicke gekommen, weil mich ein im übrigen völlig blödsinniges Seminar noch bis in die Abendstunden aufgehalten hatte. Als ich bei Leydicke eintraf, sah ich, dass Lucie sich als Opfer für einen ihrer berühmten Dispute ein attraktives Mädchen ausgesucht hatte. Mir gefielen ihre langen dunkelbraunen Haare, die einen leichten Rotstich aufwiesen, ihr kleiner, fester Busen, ihre langen schlanken Hände und auch ihre Beine waren sehr o.k. Für einen solchen Ganzkörperscan habe ich immer nur ein paar Sekunden gebraucht. Dieses Mädchen war Andrea. Sie hat mir nie erzählt, was der Grund für die Auseinandersetzung mit Lucie war, und wahrscheinlich gab es auch gar keinen. Jedenfalls ließ Lucie eine ihrer berühmt berüchtigten Tiraden ab. Es muss sie sehr erstaunt haben, dass Andrea keineswegs wie die anderen Gäste reagierte, die üblicherweise Lucie recht gaben, um sie damit zufriedenzustellen und los zu werden. Nein, Andrea hatte offensichtlich Spaß daran, Lucie immer weiter zu reizen. Damit riskierte sie Lokalverbot. Lucie sprach ständig solche Verbote aus. In aller Regel waren die aber bereits am nächsten Abend vergessen. Aber bei Lucie wusste man nie… Mir war klar, dass die ganze Sache völlig blödsinnig war, und ich griff mir aus irgendeinem Grund Lucie, umarmte den alten Drachen liebevoll und säuselte ihm ins warzenbesetzte Ohr:

       »Lucie, ich wisch jetzt erst einmal das Blut auf. Ich wäre Dir sehr dankbar, wenn Du mir zwischenzeitlich etwas zum Trinken organisieren könntest.«

      Tatsächlich ließ Lucie von Andrea ab. Wahrscheinlich war sie froh, sich jetzt ohne Gesichtsverlust auch den anderen Gästen zuwenden zu können. Natürlich gab es zum Schluss noch ein paar bissige Bemerkungen Richtung Andrea. Danach brachte Lucie mein Getränk, würdigte Andrea keines Blickes mehr und damit war die Sache erst einmal vergessen. Andrea hatte sich inzwischen wieder ihren Freunden zugewandt. Während ich den Obstwein in mich hinein schüttete, überlegte ich krampfhaft, wie ich Andrea ansprechen konnte. Es fiel mir nichts ein. Da drehte sie sich unvermittelt zu mir um.

       »Ich hätte Deine Hilfe nicht benötigt. War aber trotzdem nett von Dir. Wir haben jetzt genug von dem Zeug hier und fahren woanders hin. Kannst ja mitkommen.«

      Ich erinnere mich noch heute, wie überrascht ich von diesem Angebot war, zumal Andrea offensichtlich ihren Typ dabei hatte. Wir quetschten uns also zu fünft in ein Taxi, was den Fahrer nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hinriss und fuhren zur „Kleinen Weltlaterne“. Ich kannte diese Kneipe nur vom Hörensagen. Sie galt damals als „Geheimtipp, den jeder kannte“. Man erzählte sich, dass die „Weltlaterne“ ein Künstlertreff sei, wobei der Begriff „Künstler“ wohl sehr weit ausgelegt wurde. Lebenskünstler, Hungerkünstler und andere Originale der Kreuzberger Elite machten wohl die