Wilma Burk

Wo ist Babahu - 5 Folgen in einem Buch - ohne Bilder


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hatte sie nur aus dem Haus getrieben, irgendwohin. Sie konnte es nicht mehr ertragen, ohnmächtig mit anzusehen, was mit ihren Lieblingen geschah. Sie hatte sich ihr Tuch umgelegt, es fest um die Schultern gezogen und war einfach hinausgegangen in die Kälte. Weinend hatte sie ihren Garten verlassen und kam nun zum kleinen See.

      Zuerst erreichten sie die Hilferufe von Dennis in ihrem Kummer nicht. Aber dann – was war das? Die Stimme eines Kindes! Ihre Tränen versiegten. Suchend lief sie am Ufer entlang, nur von dem Wunsch beseelt, dem Kind zu helfen. Endlich entdeckte sie ihn, den hilflosen Jungen, gefangen zwischen dem Schilf im Eis, zitternd mit blauen Lippen. Sie erkannte, lange würde er sich nicht mehr über Wasser halten können. Sie hatte keine Zeit, Hilfe zu holen. Sie selbst musste versuchen, ihn zu retten, sie ganz allein. Suchend sah sie sich um, erblickte ein langes Brett, das Babahu dazu bereits hingelegt hatte, und überlegte nicht lange. Vorsichtig schob sie es auf das Eis, bis zu dem Balken, an dem sich Dennis festhielt. Langsam kroch sie darauf voran, ohne daran zu denken, dass auch sie in das Eis einbrechen könnte. Vor Anstrengung begannen ihr alle Glieder zu zittern. Sollte ihre Kraft nicht ausreichen? Sie verhielt einen Moment. „Pack das Brett! Zieh dich daran hoch!“, rief sie Dennis zu. Doch sie blickte nur in vor Angst geweitete Augen, sah ihn ein Stück vom Balken abrutschen und tiefer ins Eis sinken. Mühsam, mit ihren alten Gliedern flach auf dem Brett liegend, zog sie sich weiter vorwärts.

      Jetzt war es Zeit für Babahu, ihr viel Kraft einzugeben. Geschwind glitt er dicht zu ihr heran. Tief musste er sich hinunterbeugen, um ihr dazu ins Ohr zu blasen. Beinahe hätte er dabei selbst das Eis berührt.

      „Pass auf!“, rief entsetzt Satano.

      Geschwind schwebte Babahu hoch.

      Danach sahen beide gespannt zu, wie sich die Katzenmutter vorsichtig bis zum Ende des Brettes vorschob. „Gib mir deine Hand!“, forderte sie Dennis auf. Doch der starrte sie nur angstvoll an und ließ den Balken nicht los. Sie stöhnte und rückte ein Stück vor, über das Brett hinaus.

      „Das geht nicht gut! Das schafft sie nie!“ Satano wollte vorschnellen, um ihr zu helfen.

      „Warte!“, Babahu hielt ihn zurück.

      Der Eisluchs lachte. „Passt nur auf, dass euch nicht beide ertrinken!“

      „Darauf kannst du lange warten“, antwortete Babahu, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

      „Wieso bist du so sicher?“ Satano fiel es schwer, ruhig zu bleiben.

      „Ich habe ihr mehr Kraft eingeblasen, als sie jemals in jungen Jahren hatte“, versicherte Babahu.

      „Trotzdem! Ich wünschte, wir hätten uns darauf nicht eingelassen“, meinte Satano.

      „Da, schau! Du wirst bald anders denken. Jetzt hat sie ihn erreicht und kann ihn fassen. Sie wird es schaffen. Du wirst es sehen!“ Aufgeregt vor Spannung quoll Babahu hin und her.

      Fest hatte die Katzenmutter Dennis gepackt. Mit ungeheurer Kraft musste sie ihn vom Balken lösen. Sofort klammerte er sich an sie und hätte sie beinahe hinuntergezogen. Mit letzter Anstrengung rutschte sie zurück und zog ihn dabei Stück für Stück heraus, bis er vor Kälte steif und zitternd auf dem Brett lag. Sie dachte dabei nicht darüber nach, woher sie die Kraft nahm. Sie war nur von dem Wunsch beseelt, Dennis, dieses Kind, vor dem Ertrinken zu bewahren, egal, was er ihr jemals angetan hatte.

      Vorsichtig kroch sie zurück und zog ihn mit sich, bis sie das sichere Ufer erreicht hatte. Erschöpft verharrte sie einen Moment. „Du kannst mich jetzt loslassen und aufstehen“, forderte sie Dennis auf, der noch immer ihre Hand festhielt. Mühsam richtete sie sich auf und half ihm hoch. Vorsichtig führte sie ihn, der steif und zitternd kaum laufen konnte, in seiner triefenden und gefrierenden Kleidung, zurück, durch ihren Garten und in ihr Haus.

      Sie hatte Dennis gerettet!

      *

      Kaum, dass er sich in der wohligen Wärme des Hauses befand, begannen ihm die Knie zu schlottern und die Zähne zu klappern. Mit großen Augen sah er auf das Treiben der Männer, die in ihrem Eifer, auch noch die letzte Katze zu fangen, von Zimmer zu Zimmer jagten und ihn gar nicht wahrnahmen. Wie viele Katzen jammerten schon erbärmlich in den Säcken?

      Der Katzenmutter drehte sich ihr Herz um, sie konnte nicht hinsehen, aber was konnte sie dagegen tun, sie, die doch eigentlich schwach und alt war. Ohne auf irgendjemand weiter zu achten, zog sie dem Jungen die nassen Sachen vom Leib, nahm zwei Decken und wickelte ihn darin ein. Sie rubbelte ihm kurz Arme und Beine, ehe sie in die Küche ging, um Wasser für einen heißen Tee aufzusetzen. Dennis ließ alles mit sich geschehen. Die Glieder schmerzten ihm, sobald Wärme in seine Adern zurückkehrte. Bibbernd hockte er am Ofen.

      Plötzlich stand sein Vater in der Tür. Eine Katze, die er gefangen hatte, hielt er im Fell gepackt. Zutiefst erschrocken blickte er auf seinen Sohn. „Was ist mit dir geschehen? Hat dir die Alte etwas getan?“, fragte er drohend.

      „Nein, Papa“, wehrte Dennis ab.

      „Warum bist du hier? Wo sind deine Sachen? Weshalb bist du in Decken gehüllt?“ Fassungslos verharrte er an der Tür, noch immer die zappelnde Katze in der Hand.

      „Ich war am See ... bin ins Eis eingebrochen ... konnte nicht mehr heraus. Die Katzenmutter hat mich rausgeholt“, beichtete er und begann zu weinen.

      „Du warst am See und bist ins Eis eingebrochen?“

      „Ja! Fast schon untergegangen. Wenn sie nicht ...“

      „Die Alte hat dich gerettet? Ganz allein?“ Fassungslos ließ er die Katze fallen und weglaufen. „Wieso hat sie das getan?“ Unsicher sah er sich um, auf das Treiben der andern und hörte das jämmerliche Klagen der Tiere.

      „Ich hab wieder eine!“, rief einer der Nachbarn aus dem Nebenzimmer.

      Wortlos ließ der Vater die Katzenmutter an sich vorbeigehen.

      Die tat so, als wären er und die andern nicht da. Sie wurde gebraucht, das zählte für sie. Vorsichtig trug sie ein Glas mit Kräuterschnaps zu Dennis. „Hier trink das! Es wird dir helfen“, sagte sie und flößte es ihm ein.

      Dennis schluckte. Es brannte und biss ihm in der Kehle. Er schüttelte sich und holte tief Luft. Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Das Zittern ließ nach, während sie wieder unbeirrt, als wäre sie allein mit ihm, seine Glieder massierte.

      Nachdenklich blickte der Vater zu ihr, wie sie sich um seinen Sohn kümmerte, als gäbe es nichts Wichtigeres für sie, als hätte er ihr nie das Leben schwer gemacht. Dabei waren die Nachbarn und er gerade dabei, ihr das Liebste zu nehmen, was sie noch hatte: Herrenlose Katzen, die ihre Hilfe brauchten. Lästig war sie ihnen damit geworden, so, wie vielleicht jede dieser Katzen irgendeinem Menschen lästig geworden war und darum ausgesetzt wurde. Was taten sie ihr nur an? War das wirklich nötig? „Hört auf damit! Es ist genug!“, rief er den Nachbarn zu.

      Einer nach dem andern kam und fragte verwundert: „Warum?“ – „Was ist los?“

      Als sie erfahren hatten, was geschehen war, wollten sie es nicht glauben. „Was denn, den schweren Jungen soll sie ganz allein aus dem zugefrorenen See ...?“ Sie zweifelten es an.

      „Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, aber es ist so. Kommt, wir müssen die Katzen wieder aus den Säcken lassen. Es muss eine andere Lösung geben“, redete der Vater auf die Nachbarn ein.

      „Aber ...“, wollte Herr Ritter noch murrend einwenden. Doch er wurde überstimmt. Schon öffnete der Erste einen Sack. Die Katze schoss fauchend heraus und verkroch sich. Die Lieblingskatze der Katzenmutter lief gleich zu ihr und schmiegte sich dicht an sie.

      „Liebes, da bist du ja wieder“, sagte sie, hörte auf, Dennis die Glieder zu massieren, drückte die Katze an sich und streichelte sie liebevoll. Unsicher blickte sie zu den Männern hinüber, als würde sie erst jetzt begreifen, dass sie da waren. Doch sie sagte kein Wort zu ihnen, sondern wandte sich gleich wieder Dennis zu. „Das Wasser kocht bestimmt schon. Ich werde dir einen heißen Tee machen.“

      Dennis wurde rot - er konnte wieder rot werden.