Günter Billy Hollenbach

Das Ende der Knechtschaft


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      Laut Statistiken der Kriminologen in Hannover, berichtet sie, führt das zu Verrohung und innerer Abstumpfung. Gerade bei jungen Menschen, wenn das Gehirn sehr aufnahmebereit ist. Wie soll bei denen eine Hemmschwelle gegen Gewalt entstehen? Das muss die doch geradezu kitzeln, findet sie, es in Echt zu probieren. Sie hält es für ein mittleres Wunder, dass nicht viel mehr passiert.

      „Obwohl, wenn Leute heutzutage ausrasten, dann immer blindwütiger. Robert, ... langweilt dich das, was ich daherrede?“

      „Im Gegenteil, Corinna. Erlebst Du das auch, Gewalttätigkeiten mit jungen Leuten?“

      „Mann, Robert, Gewaltkriminalität wird hauptsächlich von jungen Männern begangen. Ich selbst? Ne, das überlasse ich den Kollegen von der Fahndung. Die beherrschen ihr Handwerk bei Zugriffen.“

      „Neulich habe ich einen Schimanski-Film gesehen. Da ging es um Gewalt zwischen Polizisten, die sich Schmiergeld zustecken ließen oder erpressten. Ziemlich harte Geschichte. Gibt es so etwas bei euch auch, im richtigen Leben?“

      Ihre Antwort lässt etwas auf sich warten.

      „Dazu sage ich jetzt nichts. Gelegentlich wird gemunkelt. Für unsere Verdeckten Ermittler würde ich nicht unbedingt die Hand ins Feuer legen. Aber bei mir, in meinem Umfeld ...? Nöööh! Du weißt doch: Wir sind die Guten.“

      „Ah ja? Findet deine Tochter das auch?“

      „Du, werd nicht unfair! Wenn ich daran nicht glauben würde – dass wir die Guten sind –, könnte ich nicht jeden Morgen neu zum Dienst antreten. Während der Woche jedenfalls.“

      „Wunderbar, Corinna! Schon freue ich mich doppelt auf unseren nächsten Spaziergang. Warte mal eine Sekunde, ich muss Pipi.“

       20

      Dreißig Sekunden später sitze ich wieder auf dem Fußboden neben meiner Telefonkonsole.

      „Merkst Du was, Robert? Wir reden wieder nur über meine Arbeit?! Schluss damit! Jetzt erzählst Du von dir und deinem Innersten.“

      Natürlich zögere ich. Über das Coachen habe ich bereits berichtet. Fass dir ein Herz. Es zu verschweigen wäre feige, nachdem sie ziemlich offen von sich erzählt hat. Wie wird sie es aufnehmen? Früher, wenn ich mich getraut habe, brachte es mir verstörte Blicke, spöttische, sogar gehässige Bemerkungen ein. Selbst Gisela gegenüber war ich vorsichtig mit diesbezüglichen Andeutungen gewesen.

      „Na, so schlimm?,“ hakt Corinna nach. „Sag schon. Es bleibt unter uns.“

      „Du bis durch deinen Beruf einiges gewöhnt. Trotzdem, mir fällt es schwer; versprich mir, dass Du gelassen zuhörst ...“

      „Angeber!“ unterbricht sie herausfordernd.

      „Ne, dazu taugt das nicht. Also, Du bis gewarnt.“

      Ich habe einen Schlag zum Hellsichtigen, erkläre ich kurz und bündig.

      „Oh!“

      Eine Weile stilles Atmen im Telefonhörer.

      „Aha. Das ist kein Witz?“

      Diesmal schweige ich.

      „Ich muss zugeben, es fällt mir schwer, dazu etwas zu sagen, Robert. Dafür kommt es zu überraschend. Ist mir zu fremd.“

      „Keine Sorge. Es ist nicht ansteckend.“

      Gespannt wäre untertrieben; ich lauere geradezu auf ihre nächste Bemerkung. Sie lässt sich Zeit damit. So etwas gibt es tatsächlich? Wie äußert sich das? Ist es erblich? Wie kriegt man das?

      Ausatmen, Finger entkrampfen. Ich nehme es als Ermutigung zum Weitersprechen.

      „Lässt Du dich darauf ein?“

      „Hm,“ antwortet sie vorsichtig, „warum nicht?“

      „Es gibt Leute, die von Geburt an hellsichtig sind. Jeder Mensch trägt die Fähigkeit dazu in sich. In abgeschwächter Form wird es Intuition genannt. Bei mir ist es stärker, fing an, als ich neun Jahre alt war.“

      Auch wenn sie still ist, spüre ich, sie hört aufmerksam zu.

      „Intuition. Am Sonntag im Wald. Das war mehr für dich als eine Redewendung. Wie geht das praktisch? Wo kommt es her?“

      „Es fing an mit einer Blinddarmvereiterung, hochakut, wie die Ärzte das nannten. Jedenfalls soll es mehr als kritisch gewesen sein; ich war ...“ Es stand auf der Kippe. In der Uniklinik Göttingen. Als ich aus der Narkose aufgewacht bin, hat meine Oma Anna am Bett gesessen, meine Hand gestreichelt und dauernd gesagt: ,mein Junge, dass du überhaupt lebst,’ und dass der liebe Gott das gewollt hätte. Meine Mutter war zu der Zeit im Ausland. Im Bett gegenüber lag ein Mann. Als ich halbwegs wach war, habe ich Oma ins Ohr geflüstert: ,Oma, der Mann da drüben ist tot.’ Einfach so, keine Angst oder Trauer; als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Oma hat sich erschrocken zu ihm umgedreht und mich anschließend streng ermahnt: ,Mein Junge, so etwas darfst du nicht sagen, noch nicht einmal denken darfst du das.’ Dann hat der Mann seine Hand bewegt und gehustet.

      „Am nächsten Morgen war er tot. Richtig gestorben. Das vergisst du nicht. Meine Oma musste mich einige Male trösten. Weil ich dachte, ich wäre schuld an seinem Tod, irgendwie durch meine Gedanken.“

      „Pah! Mann, Robert, wie wird man als Kind damit fertig?“

      „Na ja, ich hab ’s überstanden. ... Du hast natürlich recht. Es war nicht besonders schön. Anfangs habe ich mir nicht viel gedacht bei solchen Eingebungen. Für mich erschien das normal. Die Leute um mich herum waren schwierig; wie die damit umgingen.“

      „Das kann ich mir vorstellen.“

      „Unser Pfarrer war eklig. Der Knallkopf hat von Besessenheit durch böse Geister geredet. Seiner Ermahnung nach hätte ich den ganzen Tag Rosenkranz beten müssen. Mir tat das sehr leid – für Oma.“

      „Wieso für die? Deine Oma konnte doch nichts dafür.“

      „Natürlich nicht. Wegen dem blöden Geschwätz des Pfarrers. Wie sollte die damit umgehen? Wir waren schließlich gut katholisch.“

      Ich wartet einige Augenblicke.

      Corinna sagt nur trocken:

      „Weiter, ich höre.“

      „Danke. Okay, in der Schule wurde es schlimmer.“

      Obwohl ich ein guter Schüler war, musste Oma mehrmals hin. Einmal, da war ich zehn oder elf, zur Klassenlehrerin und zu unserer Kunstlehrerin. Wir sollten Dinge malen, die wir kannten. Die Mitschüler haben Autos, Häuser, Kühe oder Bäume gemalt. Ich habe am liebsten Bilder gemalt mit einem blauen Vogel über dem Meer, oder Treppen, die in den Wolken enden oder vor einem großen Holztor, das im Himmel schwebte.

      „Wieso, das sind ziemlich hübsche Motive,“ findet Corinna.

      Der Klassenlehrerin haben meine auch Bilder gefallen. Die Kunstlehrerin war allerdings anderer Meinung. Weil ich auf ihre Frage, warum ich das male, ,da war ich schon mal’ geantwortet hatte. War wohl ein Fehler; das habe ich aber erst später kapiert. Wir mussten dann nach Eschwege zu einem Psychologen fahren.

      „Der ließ mich verschiedenfarbige Bauklötze sortieren und ähnlichen Mist machen.“

      „Typisch. Wie ging das weiter?“

      Die Frage tut mir gut. Corinna lässt sich darauf ein. Für die meisten Menschen klingen meine Schilderungen nur befremdlich oder verrückt, jagen ihnen einen gehörigen Schrecken ein oder machen so viel Angst, dass sie nichts davon wissen wollen.

      „Manchmal habe ich merkwürdige Sachen gesehen, meistens abends vor dem Einschlafen.“

      In Witzenhausen gab es damals noch viele Bauernhöfe. Bei