Ina van Lind

Die versteckte Welt


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Boden. Blitzschnell griff Timo danach. Überheblich hielt er die Kugel zwischen zwei Fingern in die Höhe. „Ich würde mal sagen: Diese Kugel hat soeben den Besitzer gewechselt!“

      Er wickelte die Kugel genüsslich aus dem Staniolpapier und Rike und Marie brüllten gleichzeitig: „Nein! Tu das nicht! Die, ähm, die ist …“, beide schnappten kurz nach Luft, bis Rike einen genialen Einfall hatte.

      „… die ist giftig.“

      Timo ließ angewidert die Hand sinken. Allerdings bewirkte das Wort giftig mehr, als es eigentlich sollte, denn Timo rannte wieselflink, die Kaugummikugel fest in der Hand, zu Frau Blumenthal und berichtete ihr haarklein davon. Natürlich bauschte er die Sache ziemlich auf und sparte auch nicht mit theatralischen Ausschmückungen, was alles hätte passieren können, wenn er tatsächlich die Kugel in den Mund gesteckt hätte … und schon wurden Rike und Marie zum Rapport ins Klassenzimmer gerufen.

      Frau Blumenthal war eine große, rundliche Frau mit blauschwarz gefärbten, gigantisch hochgesteckten Haaren und auffallend buschigen Augenbrauen. Zudem trug sie eine Brille mit schwarzem Horngestell und dicken Gläsern, welche ihre Augen in Froschaugen verwandelten.

      Tatsächlich wirkte Frau Blumenthal stets so, als würde sie das Wort Spaß nur aus dem Wörterbuch kennen. Beide Hände in die fülligen Hüften gestemmt und mit äußerst grimmigem Blick erwartete sie Rike und Marie.

      „Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht? Eine mit giftigen Substanzen in Berührung gekommene Kaugummikugel mit in die Schule zu bringen ist ein unglaublicher Leichtsinn, den ich nicht dulden kann. Es muss euch beiden doch in den Sinn gekommen sein, was dabei Ungeheuerliches hätte passieren können!“

      Mit großem Augenaufschlag und überschwänglichen Unschuldsbeteuerungen versuchten die beiden, Frau Blumenthal von der Harmlosigkeit der Kaugummikugel zu überzeugen.

      „Wirklich Frau Blumenthal, sie müssen uns glauben, das ist eine ganz normale, uralte Kaugummikugel. Aber das hätte Timo uns wahrscheinlich nie abgenommen. Der wollte das eklige Ding einfach in den Mund stecken. Nur um uns zu ärgern. Erst als wir sagten, dass sie giftig sei, ließ er es aus Angst sein. Was ja auch gut war.“

      „Und wieso habt ihr ihm dieses alte, eklige Ding überhaupt gegeben?“, hakte die Lehrerin nach und blickte die beiden Mädchen immer noch überaus streng an. Frau Blumenthals unglaubliche Hochsteckfrisur geriet kurz ins Wanken, als sie sich etwas noch vorne beugte, um ihrer Frage Nachdruck zu verleihen.

      „Wir haben sie ihm ja gar nicht gegeben. Die hat er einfach vom Boden aufgehoben“, stammelte Marie mit hochrot gefärbten Wangen, während Rike blass daneben stand und verlegen an ihrem Halstuch zerrte.

      Dieser unverfängliche Satz entlastete die beiden Mädchen zwar letztendlich, brachte ihnen aber eine Wendung ein, mit der sie nun wirklich nicht gerechnet hatten.

      Frau Blumenthal nahm das Beweisstück mit spitzen Fingern auf, schritt zum Abfalleimer, trat mit ihrem großen, plumpen Gesundheitsschuh auf das Pedal und warf es hinein.

      „Dann habt ihr sicher nichts dagegen, wenn ich dieses uralte, ungenießbare Ding dahin befördere, wo es hingehört!“ Und mit einem kleinen Knall sauste der Deckel wieder auf den Behälter.

      Ungläubig starrten die beiden zu dem Abfalleimer hin, als erwarteten sie, ein Wesen aus der Farbenwelt empört herausklettern zu sehen. Aber natürlich tat sich nichts dergleichen. Frau Blumenthal wusch sich die Hände, scheuchte die beiden Mädels zum Werkraum und sperrte die Tür hinter sich zu.

      Das war’s dann also! Die Eintrittskarte zu Rikes versteckter Welt lag unerreichbar für die beiden in einem schäbigen Abfallkorb.

      „So ein Mist!“, fauchte Rike.

      „Und was jetzt?“ Marie blickte Rike fragend an.

      „Ich habe nicht den leisesten Schimmer.“

      In den folgenden zwei Stunden feilten die beiden im Werkunterricht nicht nur eifrig an einem Stück Holz, sondern auch an der Lösung ihres Problems. Sie mussten die rote Kugel unbedingt wieder zurückholen. Doch die beiden kamen heute nicht mehr in das Klassenzimmer zurück, denn nach Werken hatten sie Religion und auch das wurde in einem anderen Klassenraum unterrichtet.

      „Ich hab’s!“ jubelte Rike plötzlich. Alle wandten ihr erstaunt den Kopf zu.

      „Wie schön, Rike. Lass mal sehen!“, lobte Frau Gerner, die Lehrerin.

      Rike bekam plötzlich einen roten Kopf. „Ähm, nein, ich sehe gerade, ich bin doch noch nicht fertig.“

      Die anderen kicherten laut. Alle, außer Marie, die fragend den Daumen hob.

      Rike nickte ihr zu. Ja, sie hatte eine Idee, wie sie wieder an die Kugel kommen konnten.

      „Wir müssen da sein, bevor der Putztrupp kommt und den Hausmeister davon überzeugen, dass er uns aufsperrt. Wir sagen einfach, wir hätten etwas im Klassenzimmer vergessen“, flüsterte Rike ihr am Ende der Stunde zu.

      „Genau das ist es, super!“

      „Also dann, bis um halb Zwei! Wir treffen uns auf dem Pausenhof!“

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