was sie gerade dachte: Wie bitte? Schule schwänzen? Mit Erlaubnis von Mama und Papa? Wann hat es das je gegeben?
„Hm, gut, das ist prima. Ich war mir nämlich nicht sicher, ob ich den Weg zu Fuß schaffen würde. Es tut wirklich verdammt weh. Ich geh schon mal nach oben, ich bin echt müde.“
Kaum hatte Rike es ausgesprochen, sprangen Mama und Papa gleichzeitig auf und stützten Rike. Nele rollte genervt mit den Augen und Rike guckte verlegen. „Lasst mal, es geht schon! Ich schaff das auch alleine.“
Doch Papa schnappte sich Rike und rief: „Von wegen. Ich trag dich nach oben. Überlegt schon mal, wen ich anschließend um die Ecke, ähm, natürlich noch oben bringen soll!“ Mama lachte lauthals. Doch Nele saß mit verkniffenem Gesicht daneben.
Als sich Rike im Badezimmer die Zähne putzte, kam Nele hinzu. „Du hast’s ja gut! Du kannst morgen daheim bleiben. Dabei bist du gar nicht richtig krank. Wegen einem verknacksten Fuß muss man ja wohl nicht gleich von der Schule zu Hause bleiben.“
„Die süße, kleine, liebe Nöle!“, schnaubte Rike durch den Zahncremeschaum. „Zuerst ist sie so gemein und schubst die große Schwester vom Baumstamm und dann ist sie auch noch neidisch.“ Sichtlich angewidert spuckte sie die Zahncreme aus. „Damit du’s weißt: Mir tut mein Fuß verdammt weh. Das kannst du mir glauben! Und morgen haben wir zwei Stunden Sport, bei denen ich sowieso nicht mitmachen kann, außerdem zwei Stunden Theaterprobe für die Weihnachtsfeier, bei der ich nur soufflieren muss. Und ansonsten haben wir eine Stunde Mathe und eine Stunde Deutsch, also verpasse ich kaum etwas. Deswegen lässt mich Mama daheim. Und falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Mama sprach nur von morgen.“
Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und schlurfte in ihr Zimmer, wobei sie das rechte Bein besonders auffällig nachzog.
„Blöde Kuh!“, schickte ihr Nele hinterher.
Rike ließ sich auf ihr Bett fallen. Ihr Bein streifte dabei das Farbenbuch.
Und plötzlich begriff sie es! Mensch! Voll krass! Das waren gar keine normalen Kaugummikugeln, wie man sie in jedem Supermarkt kaufen konnte. Das waren tatsächlich Zauberkugeln, mit denen man in ein anderes Land und wahrscheinlich auch in eine andere Zeit kommen konnte. Ihre Gedanken überschlugen sich auf einmal. Was hatte die Alte am Flohmarkt gesagt? „Für den Einen sind es einfach nur Kaugummikugeln, für den Anderen sind es zauberhafte Kostbarkeiten.“
Rike hatte schon mal einen Film gesehen, in dem es um eine Zeitreise ging. Da allerdings funktionierte das Ganze nur mit einer Maschine. Bei ihr klappte es anscheinend sogar mit diesen bunten Kugeln.
Dieser Gedanke ließ ihr natürlich keine Ruhe mehr und so huschte Rike zu dem kleinen Raum am Ende des Flurs, in dem alle Trödelmarktsachen aufbewahrt wurden. Der rote Automat stand bedeutungslos in der Ecke, als wartete er darauf, zum Müll geworfen zu werden.
Rike sah sich nochmal um. Niemand hatte bemerkt, dass sie sich hierher geschlichen hatte. Sie drehte am Griff.
Eine grüne Kugel rollte heraus. Ha! Grün! Besser hätte es gar nicht laufen können!
Durch das beschlagene und etwas verkratzte Glas im Sichtfenster des Automaten konnte sie die Kaugummikugeln in den verschiedensten Farben sehen.
Plötzlich hörte sie die Stimme ihrer Mutter unten an der Treppe. Sie biss die Zähne zusammen und verdrängte den Schmerz, der unaufhörlich um ihren Knöchel strich, als sie zurück in ihr Zimmer flitzte.
Keuchend ließ sie sich wieder auf ihrem Bett nieder. Das war knapp. Sie musste morgen unbedingt den Kaugummikasten leeren. Rike öffnete ihre Hand. Mist! Die Farbe der grünen Kaugummikugel war etwas abgegangen.
„Kommst du alleine klar oder brauchst du Hilfe, Rike?“
Erschrocken sah sie zu ihrer Mutter, die bereits in der Tür stand, ballte augenblicklich wieder die Faust und rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Alles in Ordnung, Mama. Ich komme schon zurecht. Danke.“
„Schlaf gut und ruf mich, wenn was ist.“
„Mach ich. Gute Nacht!“
Rike begutachtete noch einmal ihre grün verschmierte Handfläche. Bitte lass mich jetzt nicht halb in dieser, halb in der anderen Welt hängen, nur weil etwas von der Farbe fehlt!
Sie steckte die Kaugummikugel in den Mund und schleckte zur Sicherheit noch einmal über die grünen Flecken in ihrer Hand. Dann lag sie ganz zappelig in ihrem Bett und ihr Herz pochte rekordverdächtig schnell, denn sie konnte nicht glauben, was sie augenblicklich sah.
Grün! Alles erstrahlte in saftigem Grün. Die Reise begann.
Kapitel 6: Die Schneekönigin
Rike rieb sich die Augen. Es war morgens halb sieben und Nele veranstaltete ein Riesenspektakel im Badezimmer. Nele hustete, prustete und gurgelte in einer irren Lautstärke. Außerdem knallte sie mit den Türen, dass sogar Mama aus der Küche nach oben rief: „Nele, kannst du nicht ein bisschen leiser sein? Rike schläft doch noch!“
„Ich bin leise!“
Rike vergrub sich in ihre Kissen, bis Nele endlich das Haus verlassen hatte. Nach nochmaligem Dauerklingeln, weil Nele ihren Turnbeutel zu Hause vergessen hatte, war es endlich ruhig. Nur gelegentlich hörte Rike Mama mit dem Geschirr klappern.
Fünf Minuten später stand Rikes Mutter mit einem Frühstückstablett im Zimmer.
„Guten Morgen! Ausgeschlafen? Wie geht es dir denn? Hast du Hunger? Ich hab dir Frühstück mitgebracht. Sieh mal!“
Rikes Mutter hatte die bemerkenswerte Gabe, unheimlich viel und schnell zu sprechen, ohne Luft holen zu müssen.
Rike setzte zu einem „Guten Morgen“ an, wurde aber sofort wieder unterbrochen: „Wie geht es deinem Fuß? Kannst du schon wieder auftreten?“
„Hm, keine Ahnung. Hab ich noch nicht ausprobiert.“
„Na, dann lass es dir erst mal schmecken. Das Tablett stellst du einfach neben dein Bett. Ich räume es dann später weg. Manuela kommt nämlich gleich vorbei und holt mich ab, damit ich meine Bilder in die neue Galerie bringen kann. Du weißt schon, meine erste Ausstellung dort. Am Freitagabend ist Eröffnung. Ich bin aber sicher bald zurück.“
Das allerdings bezweifelte Rike, denn Malen war Mamas Leidenschaft. Wenn sie mit ihren Bildern beschäftigt war, vergaß sie alles. „Ist schon gut. Ich komme gut alleine zurecht. Kein Problem.“
„Aber schone deinen Fuß! Alles, was warten kann, machen wir dann gemeinsam, ja? Ich bin bald wieder da. Tschüss.“
Sie eilte zur Tür, warf noch eine Kusshand zurück und verschwand.
Das klang gut. Absolut gut. So konnte sie ungestört den Automaten leeren und sogar noch mal eine der Kugeln ausprobieren.
Schon hörte sie Manuelas Klingeln und danach emsiges Treiben. Nach einigen Minuten waren alle Gemälde in Manuelas Wagen verstaut. Sie lauschte dem Geräusch des Motors nach, bis es nicht mehr zu hören war und humpelte zu dem kleinen Raum, in dem der Automat abgestellt war. Rike nahm den Griff, dachte intensiv an „Grün“, holte tief Luft und drehte ihn entschlossen nach rechts. Die erste Kugel, die heraus rollte, war weiß.
„Mist“, brummte Rike und legte sie als Nr. 1 ins Regal. Die nächste Kugel fegte aus der Öffnung. Grün. Dann eine Rote. Rike legte die Kaugummikugeln der Reihe nach ins Regal. Nach 24 Kugeln schielte trübselige Leere aus dem Kasten.
Rike beschloss, die Kaugummikugeln durchzunummerieren und machte sich auf den Weg nach unten in die Küche, um das bunte Staniolpapier zu holen, in das Mama gelegentlich selbstgemachtes Konfekt wickelte.
Rike kramte in den Schüben, bis sie es fand, schnappte sich noch einen schwarzen Markierstift, packte jede Kugeln einzeln ein und versah sie mit der jeweiligen Nummer.
Sie war etwas außer Puste, als sie wieder in ihr Zimmer kam und legte die Tüte auf ihrem Nachttischchen