Mann zuckte nur mit den Schultern.
Unter Ächzen stieg der bucklige Zaunkönig Refugio aus dem Gefährt und sah sich prüfend um.
„Wo ist er?“, brüllte er ohne ein Wort der Begrüßung.
„Guten Tag, der Herr. Auch wenn Ihr es eilig habt, solltet Ihr doch so viel Zeit erübrigen, uns zumindest zu erklären, wen oder was Ihr sucht.“ Zorn schwang in der Stimme des jüngeren Mannes mit.
„Wen ich suche? Das will ich Euch gerne sagen. Ich suche Euren Bengel. Sein Fjäl-Fräs hat meinen Sohn angegriffen.“
Die Blicke der Mutter huschten über den Acker, hin zum Misthaufen, hinter dem sich ihr Sohn nun versteckt hielt.
„Weshalb? Was ist passiert?“, erkundigte sich der Vater des Jungen.
„Euer Bursche war in meinem Garten. Ich nehme an, er wollte wieder einmal Fressen für diesen elenden Vielfraß ergaunern. Mein Enkelsohn hat ihn dabei ertappt. Und dieses unnütze Vieh hat sofort meinen Enkel heimtückisch angegriffen.“
„Wie könnt Ihr Euch so sicher sein, dass es sich dabei um unseren Sohn handelt? Es gibt schließlich viele Buben hier in der Gegend, die sich auf den ersten Blick doch alle sehr ähnlich sehen.“
„Das mag wohl sein, doch keiner der anderen Rangen wird von einer Bestie begleitet und zudem habe ich einen Zeugen.“
„So? Einen Zeugen?“
„Ja. Mervyn Sem Silas kam an unserem Garten vorbei und hat das Geschehen beobachtet. Und mein Enkel nannte sogar noch den Namen Eures Bengels, bevor er das Bewusstsein verlor.“ „Mervyn Sem Silas! Das soll Euer Zeuge sein?“, ereiferte sich der Vater.
„Wieso verdächtigt Ihr unseren Sohn? Das verstehe ich nicht. Franjo ist ein guter Junge, er würde niemals …“, unterbrach ihn die Mutter und versuchte, ihren Jungen zu verteidigen, doch mit einer heftigen Handbewegung stoppte der alte Mann ihren Redefluss.
„Platz da!“ Er stieß die Frau mit seinem Gehstock zur Seite, musterte die beiden verängstigten Kinder mit finsterem Blick, dann marschierte er geradewegs auf das Haus zu und riss die Türe auf.
„Komm heraus, du elender Dieb! Und bring das Untier gleich mit!“
Nichts rührte sich.
Refugio schlug mit seinem Stock gegen die Holztür.
„Raus! Sofort! Wenn ich dich erwische, ergeht es dir schlecht. Sei ein Kerl und stelle dich!“
Der Vater hatte inzwischen den alten Mann eingeholt.
„Es ist niemand im Haus. Franjo ist mit seinem Onkel schon den ganzen Tag im Wald, um Holz zu machen. Lasst uns jetzt weiterarbeiten. Die Zeit drängt. Es wird bald Nacht.“
Die Mutter suchte indessen mit fieberhaften Blicken das Gelände ab, konnte ihren Sohn aber nirgends mehr ausfindig machen. Franjo war längst in den nahen Wald geflüchtet, um sich zu verstecken.
„Das werdet Ihr mir büßen!“, geiferte Zaunkönig Refugio über seine Schulter hinweg, bahnte sich einen Weg zurück und kletterte in sein Gefährt.
„Los, Brauner“, herrschte er sein Pferd an und gab ihm die Peitsche.
Franjos Eltern sahen dem Gefährt noch lange nach, bis die endlose Weite des blaugrauen Horizonts es gemächlich schluckte.
Kapitel 2: Was ist ein Fjäl-Fräs?
„Rike! Aufstehen! Frühstück ist fertig!“ Rike streckte sich im Schlaf, trat mit dem rechten Fuß gegen die Bettdecke und kickte dabei ihren alten, zerfledderten Schlummerhasen aus dem Bett.
„Menno!“ Sie blinzelte ins Licht der Nachttischlampe, die wieder einmal die ganze Nacht hindurch gebrannt hatte und quälte sich aus dem Bett.
Beim Frühstück hing sie ihren Gedanken nach.
„Du bist so ruhig heute“, stupste sie Papa an.
„Ach, ich bin nur müde.“
„Du Papa, wir sollen doch nachts, bevor wir einschlafen, das Licht ausmachen, oder?“, mischte sich Nele ein. Ihre Stimme hatte diesen „Seht-ihr-wie-vernünftig-ich-bin-im-Gegensatz-zu-meiner-blöden-Schwester“-Ton drauf, den Rike absolut nicht leiden konnte.
Papa zog die Augenbrauen hoch, gab aber keinen Kommentar dazu ab. Nur Mama fiel natürlich wieder einmal auf die Masche herein.
„Das weißt du doch, Liebes. Erstens kostet es zu viel Strom und zweitens ist es nicht erholsam, wenn man bei Licht schläft.“
„Aber die Frida hat schon wieder die ganze Nacht das Licht brennen lassen!“, rief Nele. Rike kniff die Augen zusammen und funkelte Nele böse an. Warum musste Nele ständig petzen? Und warum nannte Nele sie Frida? Sie wusste genau, dass Rike, die eigentlich Friderike hieß, diesen Namen verabscheute.
„Kann mir jemand von euch sagen, was ein Fjäl-Fräs ist?“, lenkte sie deshalb schnell vom Thema ab.
„Ein Fjäl-Fräs?“ Mama schüttelte den Kopf. „Also Rike, was du immer wissen willst!“
Nele meckerte wie eine Ziege, was Rike mit frostigem Blick quittierte.
Papa, der bisher ungerührt in der Zeitung las, bequemte sich nun doch, den Kopf über den Rand zu strecken. „Wenn du es schon nicht weißt, Rike, wer soll es denn dann wissen? Du schaust dir doch alle Fernsehsendungen über Tiere und Pflanzen an und liest im Lexikon von A bis Z darüber nach. Ich kann dir nur sagen, dass die deutsche Bezeichnung für den Fjäl-Fräs Vielfraß ist. Mehr weiß ich darüber leider auch nicht.“
Nach dem Frühstück fischte Rike ihr Tier-Lexikon aus einem Stapel Bücher und las:
Der Vielfraß gehört zur Familie der Marder. Sein Äußeres ist eine Mischung zwischen Bär, Marder und Hund. Er versprüht wie das Stinktier übelriechende Düfte und verfügt über einen sehr guten Geruchssinn. Der immer hungrige Vielfraß ist ein erbarmungsloser Jäger, der Hasen, Füchse und sogar Rentiere und Elchkälber erlegt. Größere Tiere tötet er, indem er ihnen auf Bäumen sitzend auflauert und sie heimtückisch im Sprung erlegt. Außerdem nimmt er Vogelnester aus und frisst gerne süße Beeren.
Die Beschuldigungen des Zaunkönigs konnten also stimmen. Rike fragte sich jedoch, ob Franjos Eltern es tatsächlich erlauben würden, ein gefährliches Raubtier als Haustier zu halten. Im Buch fand sie nichts darüber, dass Fjäl-Fräs auch Menschen angreifen würden, doch gerade das hatte der Zaunkönig behauptet.
Immer wieder ging sie die Traumfetzen durch, die ihr noch im Gedächtnis waren. Alles hatte vollkommen realistisch gewirkt. Rike zückte sogar ihren Atlas, doch sie fand keinen Ort, kein Land mit dem Namen Averda.
„Rike?“ Mama stand in der Tür. „Machst du Hausaufgaben?“
„Nein, noch nicht. Ich hab was nachgesehen. Aber ich fang gleich damit an.“
„Du, ich geh mal zu Oma Luise rüber. Sie hat eben angerufen. Sie fühlt sich ganz elend.“
„Oh. Was hat sie denn?“
„Ach, eine starke Erkältung.“
„Dann wünsch ihr gute Besserung von mir. Ich besuch sie bald mal.“
Oma Luise war nicht ihre wirkliche Oma, sondern eine ältere Dame aus der Nachbarschaft, aber die beste Ersatzoma, die man sich vorstellen konnte. Sie hatte früher auf Rike und Nele aufgepasst wenn Not am Mann war.
Oma Luise fand immer Zeit für sie, hatte stets ein offenes Ohr, wusste immer einen guten Rat, kannte jede Menge Hausrezepte gegen allerlei Wehwehchen und backte die besten Kuchen und Kekse. Sie liebte Kartenspiele, spielte „Mensch ärgere Dich nicht“ auch fünfmal nacheinander, ohne genervt auf die Uhr zu sehen und puzzelte mit ihnen um die Wette, zumindest dann, wenn sie ihre Brille auf der Nase hatte.
Außerdem