hat und jetzt wird sie bedauert. Mama verhätschelt und vertätschelt sie und ich sitze hier oben. Keiner kümmert sich um mich. Keiner fragt, wie es mir geht, ob ich auch Hunger habe, oder so. Das ist so gemein.“ Ihre Worte versanken in bitterer Sehnsucht nach Geborgenheit. „Papa, ich hab das doch nicht gewollt.“ Auf Neles Wangen suchten dicke Tränen den Weg zu ihrem Kinn.
„Das weiß ich doch. Und Mama weiß es auch.“ Behutsam strich Papa mit seiner Hand über ihren Rücken.
„Aber Rike ist sauer auf mich“, stammelte Nele. Nun sammelten sich die Tränen an ihrem Kinn und stürzten sich wagemutig von dort auf den Holzboden. Neles Schluchzen erreichte inzwischen bedrohliche Dezibelgrenzwerte.
„Ja, Rike ist sauer, aber … Ach, Nele! Ihr habt Quatsch gemacht. Ihr habt euch ein bisschen geärgert. Das ist normal. Du bist doch erst acht Jahre alt.“
„Fast neun.“
„Was?“ Papa kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Also gut, dann eben neun und Rike ist zehn. Fast elf“, verbesserte er sich sofort. „Meine Güte, Nele! Ihr seid Kinder. Ihr habt euch geneckt und dann ist das eben passiert. Es konnte doch keiner ahnen, dass Rike auf dem Steinbrocken landet. Wäre sie ein paar Zentimeter daneben aufgekommen, wäre nichts passiert.“
„Hm, stimmt“, flüsterte Nele.
„So, jetzt gibt’s Abendessen. Und zwar im Wohnzimmer vor dem Fernseher, nachdem Rike den nassen Wickel am Fuß dran lassen soll.“
Und schon hob Papa Nele hoch und wirbelte mit ihr die Treppe hinunter.
Kapitel 4: Ein Neidnagel
Beim Abendessen schielte Nele immer wieder zu Rike hinüber. „Ist was? Dauernd glotzt du mich so komisch an“, fauchte Rike. Nele lief rot wie eine Tomate an und klappte vor Schreck ihr Käsebrot zusammen, welches sie vorher kunstvoll mit Paprikapulver verziert hatte. Papa bedachte Rike mit einem tadelnden Blick.
„Wie machen wir das eigentlich morgen?“, lenkte Rike schnell ab. „Wie komme ich denn morgen zur Schule?“
Mama legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Hm, das ist eine gute Frage. Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Nachdem du morgen nur zwei Hauptfächer hast, wäre es wohl das Beste, dich einen Tag von der Schule zu Hause zu lassen. Papa muss ja schon ganz früh am Morgen weg und kommt erst am Dienstagabend wieder zurück und somit haben wir bis dahin kein Auto.“
Nele starrte Mama ungläubig an. Es war unschwer zu erkennen, was sie gerade dachte: Wie bitte? Schule schwänzen? Mit Erlaubnis von Mama und Papa? Wann hat es das je gegeben?
„Hm, gut, das ist prima. Ich war mir nämlich nicht sicher, ob ich den Weg zu Fuß schaffen würde. Es tut wirklich verdammt weh. Ich geh schon mal nach oben, ich bin echt müde.“
Kaum hatte Rike es ausgesprochen, sprangen Mama und Papa gleichzeitig auf und stützten Rike. Nele rollte genervt mit den Augen und Rike guckte verlegen. „Lasst mal, es geht schon! Ich schaff das auch alleine.“
Doch Papa schnappte sich Rike und rief: „Von wegen. Ich trag dich nach oben. Überlegt schon mal, wen ich anschließend um die Ecke, ähm, natürlich noch oben bringen soll!“ Mama lachte lauthals. Doch Nele saß mit verkniffenem Gesicht daneben.
Als sich Rike im Badezimmer die Zähne putzte, kam Nele hinzu. „Du hast’s ja gut! Du kannst morgen daheim bleiben. Dabei bist du gar nicht richtig krank. Wegen einem verknacksten Fuß muss man ja wohl nicht gleich von der Schule zu Hause bleiben.“
„Die süße, kleine, liebe Nöle!“, schnaubte Rike durch den Zahncremeschaum. „Zuerst ist sie so gemein und schubst die große Schwester vom Baumstamm und dann ist sie auch noch neidisch.“ Sichtlich angewidert spuckte sie die Zahncreme aus. „Damit du’s weißt: Mir tut mein Fuß verdammt weh. Das kannst du mir glauben! Und morgen haben wir zwei Stunden Sport, bei denen ich sowieso nicht mitmachen kann, außerdem zwei Stunden Theaterprobe für die Weihnachtsfeier, bei der ich nur soufflieren muss. Und ansonsten haben wir eine Stunde Mathe und eine Stunde Deutsch, also verpasse ich kaum etwas. Deswegen lässt mich Mama daheim. Und falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Mama sprach nur von morgen.“
Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und schlurfte in ihr Zimmer, wobei sie das rechte Bein besonders auffällig nachzog.
„Blöde Kuh!“, schickte ihr Nele hinterher.
Rike ließ sich auf ihr Bett fallen. Ihr Bein streifte dabei das Farbenbuch.
Und plötzlich begriff sie es! Mensch! Voll krass! Das waren gar keine normalen Kaugummikugeln, wie man sie in jedem Supermarkt kaufen konnte. Das waren tatsächlich Zauberkugeln, mit denen man in ein anderes Land und wahrscheinlich auch in eine andere Zeit kommen konnte. Ihre Gedanken überschlugen sich auf einmal. Was hatte die Alte am Flohmarkt gesagt? „Für den Einen sind es einfach nur Kaugummikugeln, für den Anderen sind es zauberhafte Kostbarkeiten.“
Rike hatte schon mal einen Film gesehen, in dem es um eine Zeitreise ging. Da allerdings funktionierte das Ganze nur mit einer Maschine. Bei ihr klappte es anscheinend sogar mit diesen bunten Kugeln.
Dieser Gedanke ließ ihr natürlich keine Ruhe mehr und so huschte Rike zu dem kleinen Raum am Ende des Flurs, in dem alle Trödelmarktsachen aufbewahrt wurden. Der rote Automat stand bedeutungslos in der Ecke, als wartete er darauf, zum Müll geworfen zu werden.
Rike sah sich nochmal um. Niemand hatte bemerkt, dass sie sich hierher geschlichen hatte. Sie drehte am Griff.
Eine grüne Kugel rollte heraus. Ha! Grün! Besser hätte es gar nicht laufen können!
Durch das beschlagene und etwas verkratzte Glas im Sichtfenster des Automaten konnte sie die Kaugummikugeln in den verschiedensten Farben sehen.
Plötzlich hörte sie die Stimme ihrer Mutter unten an der Treppe. Sie biss die Zähne zusammen und verdrängte den Schmerz, der unaufhörlich um ihren Knöchel strich, als sie zurück in ihr Zimmer flitzte.
Keuchend ließ sie sich wieder auf ihrem Bett nieder. Das war knapp. Sie musste morgen unbedingt den Kaugummikasten leeren. Rike öffnete ihre Hand. Mist! Die Farbe der grünen Kaugummikugel war etwas abgegangen.
„Kommst du alleine klar oder brauchst du Hilfe, Rike?“
Erschrocken sah sie zu ihrer Mutter, die bereits in der Tür stand, ballte augenblicklich wieder die Faust und rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Alles in Ordnung, Mama. Ich komme schon zurecht. Danke.“
„Schlaf gut und ruf mich, wenn was ist.“
„Mach ich. Gute Nacht!“
Rike begutachtete noch einmal ihre grün verschmierte Handfläche. Bitte lass mich jetzt nicht halb in dieser, halb in der anderen Welt hängen, nur weil etwas von der Farbe fehlt!
Sie steckte die Kaugummikugel in den Mund und schleckte zur Sicherheit noch einmal über die grünen Flecken in ihrer Hand. Dann lag sie ganz zappelig in ihrem Bett und ihr Herz pochte rekordverdächtig schnell, denn sie konnte nicht glauben, was sie augenblicklich sah.
Grün! Alles erstrahlte in saftigem Grün. Die Reise begann.
Kapitel 5: Das immergrüne Land
Beim Abendessen schielte Nele immer wieder zu Rike hinüber. „Ist was? Dauernd glotzt du mich so komisch an“, fauchte Rike. Nele lief rot wie eine Tomate an und klappte vor Schreck ihr Käsebrot zusammen, welches sie vorher kunstvoll mit Paprikapulver verziert hatte. Papa bedachte Rike mit einem tadelnden Blick.
„Wie machen wir das eigentlich morgen?“, lenkte Rike schnell ab. „Wie komme ich denn morgen zur Schule?“
Mama legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Hm, das ist eine gute Frage. Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Nachdem du morgen nur zwei Hauptfächer hast, wäre es wohl das Beste, dich einen Tag von der Schule zu Hause zu lassen. Papa muss ja schon ganz früh