Ina van Lind

Die versteckte Welt


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      Rike musste nicht lange überlegen. Minka war mit einem roten Gummiball durchs Zimmer gerast, bis der Ball unter das Bett rollte. Zumindest hatte Rike gedacht, dass es ein Gummiball war.

      Und nun klemmte die Kugel tatsächlich zwischen Wand und Bettpfosten. Nele hatte also mit dem Verschwinden der Kugel tatsächlich nichts zu tun.

      Schuldbewusst steckte Rike sie schnell zurück in die Tüte und bemerkte dabei, dass Nele im Flur stand und sie beobachtete. Schnell schloss sie die Tür, die sie leider offen stehen gelassen hatte. Hoffentlich hat Nele nicht allzu viel mitbekommen, sonst zahlte sie es ihr sicher wieder heim.

      Kapitel 9: Im Sumpf

      Rike saß an ihrem Schreibtisch und starrte ihr Hausaufgabenblatt an, als ob es sich dadurch von selbst füllen würde. Ihre Gedanken hingen schon wieder in dieser versteckten Welt, in die sie zufällig gelangt war. Mühsam rang sie sich die Konzentration ab, um nicht einen Fehler nach dem anderen zu fabrizieren und irgendwann hatte sie es tatsächlich geschafft. Bis zum Abendessen war noch ein bisschen Zeit. Sollte sie noch einen kleinen Abstecher nach Averda unternehmen? Obwohl es ihr furchtbar schwer fiel, entschied sie sich für später, in der Hoffnung, Nele würde bei Mama noch ein bisschen Fernsehzeit herausschinden und ihr somit nicht in die Quere kommen.

      „Mensch, bin ich müde! Ich gehe gleich nach oben in mein Zimmer. Dann bin ich morgen wenigstens fit.“

      „Kannst du denn wieder einigermaßen gut laufen?“, erkundigte sich Rikes Mutter.

      „Ja, ich komme schon klar. Wahrscheinlich muss ich ein bisschen früher los, damit ich rechtzeitig dort bin, aber ich schaff das schon.“

      Rike gähnte. „Gute Nacht! Schlaft gut!“

      Sie hörte, dass Nele bettelte, noch ein bisschen Fernsehen zu dürfen und musste sich beherrschen, nicht in Laufschritt zu verfallen, als sie in ihr Zimmer ging.

      Dort schnappte sie sich ihr Farbenbuch und die grüne Kugel aus der Tüte mit der Nummer „Zwei“ und konnte es kaum erwarten, bis es losging.

      Die Farbe Grün beherrschte das Bild vor ihren Augen, aber es war nicht das Häuschen der Klaasens, das Rike sah.

      Diesmal fand sie sich an einem düsteren, ungemütlichen Ort. Alles andere als vertrauenerweckend. Nebelfetzen waberten über ein sumpfiges Gebiet. Rike fröstelte unwillkürlich.

      Einsame Stille umfing sie. Nur ihre schmatzenden Schritte im Schlamm, die dumpf an ihr Ohr drangen und eiskalte Schauer über ihren Rücken jagten, begleiteten sie.

      Das dunkle Gestrüpp am Rande des Weges schien Augen zu haben. Warum nur tauchte sie gerade hier in diesem elenden Grünsumpf auf?

      Plötzlich kam etwas Wind auf und ein leichtes Heulen strich über das Gebiet, verfing sich als Singsang in den Halmen, kletterte in die Baumkronen und entfachte in den Blättern ein schauerliches Lied, das unaufhaltsam in Rikes Ohren kroch. Rike presste die Hände an ihre Ohren, um es nicht hören zu müssen, doch es nützte nichts. Ihr Herz pochte hart und laut in ihrem Brustkorb. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, bis die Knöchelchen weiß durch die Haut schimmerten.

      Kleine, grüne Knäkenten watschelten ihr so plötzlich vor die Füße, dass sie erschrocken einen Schrei losließ. Die Enten tauchten mit aufgeregtem Schnattern schnell im Wasser ab, das an dem Morast anschloss.

      Dann hatten ein paar Baumlurche ihren Auftritt und quäkten durchdringend, als Rike an ihnen vorbeikam.

      Rike hielt den Atem an und blieb reglos stehen, denn urplötzlich schwirrte ein heftig mit Flügeln schlagendes Etwas ganz dicht an Rikes Gesicht heran und wirbelte mit einem leisen, hellen Summen in wilden Schwüngen um sie herum. Rike schlug mit beiden Händen nach ihm und schrie so lange auf, bis ihr schlicht und einfach die Luft wegblieb.

      „Dummes Kind“, wisperte das Etwas ihr ins Ohr. „Musst du so laut schreien, bis wirklich jeder mitbekommen hat, dass du hier bist?“

      „Was?“ Rike blinzelte angestrengt, um zu erkennen, welches kleine Flügeltier so dicht vor ihrer Nase herumschwirrte und nun sogar in der Luft stehenblieb. Es erinnerte sie an einen dieser kleinen, ferngesteuerten Hubschrauber, die die Jungs aus ihrer Straße zum Zeitvertreib gerne über ahnungslose Spaziergänger kreiseln ließen.

      Das hier war allerdings kein über Funk gelenkter Helikopter, sondern eine wunderschöne, grüne Edellibelle. Rike hatte mal gelesen, dass diese Tiere furchtbar neugierig wären und ganz nahe an etwas heranflögen, um es wirklich genau begutachten zu können. Und genau so ein Wesen wirbelte im Moment um sie herum.

      „Hey, wer bist du denn?“

      Rike führte oft Selbstgespräche und fiel deshalb vor Schreck beinahe um, als ihr ein helles Stimmchen antwortete.

      „Ich? Ich bin Ellie. Und wer bist du?“

      „Rike“, antwortete Rike knapp und starrte die Libelle entgeistert an.

      Das ist absolut krass! Ich kann mit ihr reden, wie Franjo. Ich glaub‘ es nicht!

      „Weißt du, was ich denke?“, meldete sich Ellie wieder zu Wort.

      „Nein, aber du wirst es mir sicher gleich sagen!“

      „Dass du ganz schön verrückt sein musst, wenn du hier in diesem trostlosen Sumpfgebiet unterwegs bist. Willst du denn unbedingt eine Gruselgeschichte erleben? Mach einen einzigen falschen Schritt und schon hast du ein Moorbad für immer und ewig.“

      Rike verzog ihr Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Pah, du willst mir doch bloß Angst einjagen!“

      „Das hier sind die unwegsamsten Pfade, die es in der Gegend gibt. Wer hier entlang spaziert, ist entweder nicht ganz richtig im Kopf oder ganz schön mutig“, plauderte Ellie munter weiter und bewegte ihre vier Flügel unabhängig voneinander, was nicht nur sehr unrhythmisch aussah, sondern sie auch gehörig ins Trudeln brachte.

      „Ich wollte zwar schon immer mal eine Heldin sein, aber ich glaube, dass bei mir eher das Erste zutrifft“, erwiderte Rike ganz und gar nicht heldenhaft.

      „Nun tu nicht so! Du weißt genauso gut wie ich, warum du hier bist“, ertönte es von Rikes rechter Schulter, auf der sich Ellie nun niedergelassen hatte.

      „Ach ja? Du wirst es nicht glauben, aber ich habe keinen blassen Schimmer.“

      „Keinen, was?“

      „Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.“

      „Oh.“ Ellie sah Rike erstaunt an. „Das ist schlecht.“

      „Wieso, was weißt du darüber?“

      „Alles! Libellen wissen alles.“ Ellies Stimme triefte geradezu vor Stolz.

      „Okay. Dann teile dein Wissen mit mir. Warum bin ich deiner Meinung nach hier?“

      „Weildudiejenigebist, diedashat, wasallehierwieverrücktsuchen. Soeinfachistdas.“

      Rike hatte zwar Übung darin, schnell gesprochene Sätze zu verstehen, aber Ellie war noch eine Spur hektischer als Rikes Mutter. Sie sah Ellie fragend an.

      „Wer ist verrückt und wen suchen sie?“

      „Ach, herrje. Ich fang‘ lieber ganz von vorne an. Vor vielen, vielen Jahren gab es hier bei einem Bergbauunglück einen sensationellen Fund. Durch eine Explosion entstanden damals acht Edelsteine. Es hieß, der Berg hätte die Schätze freigegeben, damit die Bergleute mit den Grubenarbeiten aufhören. Jeder der acht Steine war sehr wertvoll. Sie wurden dem Herrscher unseres Landes übergeben, der sie gut bewahren sollte. Doch damit begann das ganze Dilemma.“

      „Ich kann es mir denken. Jemand wollte die Steine haben und wollte den Herrscher berauben, oder so.“

      „Alle Achtung! Du bist nicht mal so dumm!“

      „Hey! Was soll das denn heißen?“

      „Nein, jetzt