Ina van Lind

Die versteckte Welt


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hatte die Frau auf dem Trödelmarkt gesagt, die weißen Kugeln wären mit Vorsicht zu genießen. Und nun kam gleich zu Beginn eine von diesen Unglücksbotschaftern heraus. Aber vielleicht wollte sich die Frau ja nur wichtigmachen. Ob nun blau oder weiß, grün oder gelb, worin lag da der Unterschied? Vielleicht hatte sie sich auch nur etwas überspitzt ausgedrückt.

      Rike suchte das Farbenbuch hervor und las nach: Weiß ist die Summe aller Farben. Weiß hat keinen negativen Zusammenhang. Somit ist sie die vollkommenste Farbe. Weiß symbolisiert: Licht, Glaube, das Ideale, das Gute, der Anfang, das Neue, Sauberkeit, Unschuld, Bescheidenheit, Wahrheit…

      „Na also! Wer sagt’s denn! Weiß ist sogar noch besser als grün.“ Sie steckte die Kugel in den Mund, schloss die Augen und wartete ab.

      Nach kurzer Zeit sah sie kleine, helle Funken, die wie Sternschnuppen aus dem Dunkel herab segelten und eine Stimme wisperte: „Willkommen in Alba, dem Land der Schneekönigin Viviana Fae Esmee und Olof, dem Düsteren. Gebt auf Euch Acht.“

      Dann wurde alles Weiß. Makellos weiß.

      Das Weiß formte sich erst zu Kristallen und verwandelte sich dann in eine wunderschöne Winterlandschaft. Die Bäume, der Erdboden, die Hügel lagen unter einer hohen Schneeschicht und auch die Seen waren eisig. Sogar der Himmel schien weiß zu sein. Nicht ein einziger kleiner, blauer Streifen war zu sehen. Plötzlich weiteten sich die Wolken etwas und ein winziger Sonnenstrahl stahl sich hindurch. Sofort transformierte sich die Winterlandschaft zu einer funkelnden Glitzerwelt.

      Rike sah sich suchend um.

      Wohin sollte sie gehen? Unerheblich in welche Himmelsrichtung sie auch blickte, es sah alles gleich aus. Von fern hörte sie Glöckchen, die sie prompt an den Weihnachtsmann und an Rentiere vor einem Schlitten erinnerten. Sie spähte angestrengt in die Richtung, aus der das Läuten kam und schon wenige Augenblicke später konnte sie einen Schlitten ausmachen, der von sechs Huskys gezogen wurde. Das kniehohe Gefährt aus hellem Holz war ringsherum mit Spiegelglas verkleidet und warf das blendende Sonnenlicht zurück, sobald es darauf fiel. Rike kniff die Augen zusammen und entdeckte eine Frau auf dem Schlitten, die einen weißen Umhang trug. Ihr langes, rotes Haar war vom Fahrtwind wild zerzaust. Rike stutzte. Diese Frau auf dem Schlitten hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau, die gestern urplötzlich auf dem Kinderwanderweg aufgetaucht war. Nein, eigentlich vielmehr noch mit Milla.

      Sollte die Frau auf dem Schlitten tatsächlich die Schneekönigin sein, von der die Stimme anfangs gesprochen hatte? Rike starrte dem Schlitten nach. Entweder hatte die Frau im Schlitten Rike gar nicht gesehen, oder aber sie interessierte sich nun mal nicht die Bohne für ein fremdes Mädchen in einem roten Schlafanzug mit Pferdekopfmotiv am Wegesrand. Was wiederum auch sehr seltsam schien.

      Zurück blieb nur die Schlittenspur im Schnee. Neugierig inspizierte Rike den Abdruck der Kufen, der nach der nächsten Biegung hinter einem Felsen endete.

      Dort entdeckte Rike Fußspuren, die zu gigantischen Steinen führten, welche hoch aufgetürmt auf einen Eingang hinwiesen. Der Weg gabelte sich. Rike entschied sich spontan für den linken, der in die Tiefe führte.

      Rike hielt die Luft an. Es roch, nein, es stank bestialisch. Als ob sich jemand wochenlang nicht gewaschen hätte und mit getrockneten Kuhfladen heizen würde.

      Plötzlich hörte Rike einen Laut. Ein donnerndes Brüllen, das ihr durch Mark und Bein fuhr.

      Rike zögerte keinen Augenblick, wirbelte herum, raste zurück in die glitzernde Schneewelt von Alba und schrak letztendlich in ihrem Bett hoch. Verwirrt blinzelte sie zum Wecker.

      Seltsam. Es war keine Minute vergangen, seitdem sie die weiße Kugel gekaut hatte.

      Außerdem war sie davon überzeugt, etwas wahrgenommen zu haben, das nicht in die Schneewelt Alba gehörte. Da! Nun hörte sie es noch einmal. Etwas scharrte an ihrer Tür. Vorsichtig öffnete sie und etwas Weißes flitzte herein und rieb sich an ihren Beinen.

      „Minka! Hast du mich erschreckt! Was machst du denn hier?“

      Oma Luises Katze hatte sich wohl ins Haus geschlichen, als Mama und Manuela die Bilder zum Auto gebracht hatten.

      „Na, magst du eine Extraportion Hüttenkäse? Komm mal mit!“

      Minka, an und für sich äußerst gefräßig, fuhr total auf Hüttenkäse ab, doch dieses Mal folgte ihr Minka beinahe widerwillig in die Küche, beschnupperte den Napf argwöhnisch, um ihn dann unangetastet stehen zu lassen und zurück in Rikes Zimmer zu flitzen.

      Kapitel 7: Die verlorene Kugel

      Minka rekelte sich auf dem Bettvorleger und schnurrte, als Rike sie streichelte und Rike schlüpfte wieder in ihr Bett. Vielleicht gelang es ihr noch einmal, nach Alba, ins Land der Schneekönigin zu kommen. Es interessierte sie brennend, wer oder was sich in der Felshöhle verbarg und wo die Frau abgeblieben war, die sie auf dem Schlitten gesehen hatte. Rike grübelte und grübelte und war darüber im Handumdrehen eingeschlafen.

      Als sie wach wurde, war es Mittag. Rike rieb sich die Augen. Sie hatte zwar etwas im Zusammenhang mit der Schneekönigin geträumt, doch dieser Traumfetzen ließ sich nicht mehr fassen, vor allen Dingen, seitdem sie ihm so krampfhaft nachjagte.

      Ihr Atem stockte, als sie zu ihrem Nachttischchen sah. Die Tüte mit den Kaugummikugeln hing über den Rand des Nachttischchens hinunter. So hatte sie den Beutel sicher nicht abgelegt.

      Mit einem Ruck saß Rike kerzengerade auf ihrem Bett, schnappte argwöhnisch nach der Tüte, kippte den Inhalt auf die Bettdecke und fing an, die Kugeln zu sortieren. Die Kugel, die sie zuletzt genommen hatte, war die Nummer 1, Weiß. Sie fand die Kugeln mit der Nummer 2 und 4 auf Anhieb. Die Kugel, die fehlte, war eindeutig die Nummer 3. Hastig griff Rike nach der Tüte und zählte die Kugeln der Reihe nach hinein. Keine weitere fehlte mehr. Doch was war mit Kugel Nummer 3 passiert?

      Nebenan hörte sie Nele in ihrem Zimmer rumoren. Anscheinend war sie wieder von der Schule zurück.

      Rike schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Natürlich! Nele! Dieses gemeine Biest war doch gestern schon so versessen auf das Farbenbuch gewesen. Rike hatte sich sowieso darüber gewundert, dass Nele am ersten Abend keine der Kugeln probieren wollte. Wahrscheinlich hatte sie Angst gehabt, sie könnten irgendwelche Nebenwirkungen auslösen und so hatte sie gerne Rike den Vortritt gelassen. Was wieder einmal typisch für Nele war. Und nun war sie doch neugierig geworden. Vielleicht hatte sich Nele in ihr Zimmer geschlichen, die Tüten entdeckt und die Finger nicht von den Kugeln lassen können. Schließlich war das schon immer so gewesen.

      Wenn Rike etwas ausprobieren wollte, ob es nun Ballett war oder auch ein Musikinstrument, das Rike erlernen wollte, dann musste Nele unbedingt das Gleiche machen. Mit dem Ergebnis, dass die universaltalentierte Nele anschließend riesiges Lob einheimste und Rike, vergleichsweise reichlich unbegabt und deswegen eher versteckt in der hintersten Ecke stand und sich die ganzen Lobreden auf ihre herausragend, ach so reizende Schwester auch noch anhören musste.

      Rikes Verdacht verhärtete sich mehr und mehr. Wo war eigentlich das Farbenbuch abgeblieben? Hatte sich Nele das auch noch geschnappt? Was wusste Nele bereits über die Geschichte der geheimnisvollen Kugeln?

      Fieberhaft suchte sie das Buch neben dem Bett, unter dem Bett, auf dem Nachttischchen, im Schub und ihre Miene wurde von Sekunde zu Sekunde finsterer, denn auch das Buch war wie vom Erdboden verschluckt.

      Wutentbrannt stapfte Rike zu Neles Zimmer und riss die Tür auf. Wie der Racheengel höchstpersönlich stand sie da und fixierte Nele mit grimmigem Blick.

      Nele hatte gerade zu einem „Was ist los?“ angesetzt, als Rike sie anpflaumte: „Was los ist? Das traust du dich auch noch zu fragen, du gemeines Biest? Wieso schnappst du dir einfach klammheimlich eine meiner Kugeln, während ich schlafe? Du bist so fies. Wirklich. Aber das war ja schon immer so.“

      Während Rike nahezu endlos ihren Dampf abließ, guckte Nele mit großen Augen und offen stehendem Mund zu ihr hin. „Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst!“, sagte Nele dann so leise und zaghaft, dass