Ina van Lind

Die versteckte Welt


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war – und sein Vater tot.

      Karl sah sich um und rief: „Jakob?“.

      Nichts.

      „Bist du hier?“

      Stille.

      „Wo bist du, Jakob?“ Seine Stimme zitterte.

      „Jakob?“

      Doch so oft er auch nach ihm rief, Jakob blieb verschwunden. Schluchzend sank Karl nieder und bedeckte das Gesicht mit seinen schmutzigen Händen. Seine Schultern bebten.

      Unvermittelt sickerte ein kleines Bruchstück einer Erinnerung durch das Dunkel seiner Gedanken. Ihm fiel dieser fremde Junge mit den langen, schwarzen Haaren wieder ein, der ihn so hasserfüllt angesehen hatte, dass ihn selbst jetzt noch eine gewisse Furcht beschlich. Dabei war der Junge höchstens so alt wie er oder Jakob. Bestimmt war er auch noch keine sieben.

      Es hatte doch so harmlos begonnen:

      Jakob war wieder einmal aus dem Waisenhaus ausgebüxt, um mit ihm zu spielen. Sie hatten ein paar Brombeeren stibitzt und gerecht aufgeteilt. Da hatte Jakob eine Idee.

      „Du, ich weiß ein neues Spiel! Das hier …“, Jakob hatte auf die Beeren gedeutet, „… ist ein Zaubermittel. Wenn wir die Beeren essen, landen wir in einer anderen Welt. Dort lebt ein König - mit seinem Volk natürlich. Und außerdem gibt es einen …“

      Jakob hatte eine kurze Pause gemacht. Anscheinend musste er erst überdenken, was es Besonderes geben könnte.

      „Vielleicht einen Zauberer?“, hatte Karl begeistert Jakobs Überlegungen fortgesetzt. Er schwärmte für Abenteuerspiele und konnte den Beginn kaum erwarten.

      „Genau! Dort lebt ein ganz gemeiner Zauberer, der den König vom Thron stürzen will, damit er das Reich regieren kann.“

      Damit verblassten Karls Erinnerungen. Als ob er geträumt hätte und plötzlich aufgewacht wäre.

      Er schniefte und suchte seine Hosentaschen nach einem Taschentuch ab, doch das Einzige, was er zutage förderte, war ein Stein. Ungläubig starrte er ihn an.

      Tiefrot funkelnd und angenehm glatt lag er in seiner Hand. Er kannte sich zwar nicht mit derartigen Schätzen aus, aber ihm fiel sofort ein, dass die Vermieterin ihrer Wohnung gelegentlich einen roten Stein an einer goldenen Kette um den Hals trug und prahlte, wie wertvoll er sei. Hastig schob er ihn in seine Hosentasche zurück.

      Zuhause musste er ein sicheres Versteck finden. Wenn seine Mutter den Stein entdeckte, ging sie vielleicht davon aus, dass er der Vermieterin den Anhänger geklaut hatte.

      Und das hatte er sicher nicht getan.

      Oder womöglich doch?

      Wie kam dieser Stein bloß in seine Tasche? So sehr er es auch versuchte, er erinnerte sich nicht mehr daran.

      Kapitel 1: Rike, ein Flohmarktbesuch, ein Buch, eine Kugel und ein Zaunkönig

      Samstag, 22. Oktober 2011:

      Der Regen klopfte im Takt auf das Dachflächenfenster. Rike kauerte in ihrem Bett und lauschte. Klang es nicht so, als würde jemand mit den Fingern ans Glas pochen? Doch als sie schaudernd aus dem Bett stieg, um nachzusehen, zitterte sie noch mehr als vorher und kletterte mit eiskalten Füßen wieder zurück unter die Bettdecke.

      Was war das nur für eine seltsame Nacht? Wieso schlug ihr Herz wie wild und warum konnte sie nicht einschlafen? Der Wecker zeigte doch schon fast Mitternacht. Sie tastete nach dem Lichtschalter und las noch einmal in dem Buch, das ihr eine merkwürdige, alte Frau auf dem Trödelmarkt zugesteckt hatte.

      Rike hatte sich am Morgen, zusammen mit ihrer Schwester Nele und ihrem Vater, an einem Flohmarktstand altes Blechspielzeug angesehen, als die Händlerin einen uralten Kaugummiautomaten anpries, der ihren Worten nach wahre Wunder bewirken würde.

      Der Kasten mit der abgeblätterten roten Farbe hatte zwar alles andere als magisch ausgesehen, doch Rike bettelte, bis ihr Vater endlich die fünf Euro herausrückte, die er kosten sollte. Die Frau schaufelte eine beachtliche Anzahl ihrer „unglaublichen, geheimnisumwobenen, einmaligen Spezialkaugummikugeln“ hinein, die sie in einem großen Bonbonglas mit der Aufschrift „Zauberkugeln“ aufbewahrte und drückte Rike ein betagtes Buch in die Hand. „Bewahre es gut! Du wirst feststellen, dass es von überaus großem Nutzen ist!“

      „Die Farbenwelt - Eine Abenteuerreise zu dir selbst“, so stand in glitzernden, mystischen Schriftzeichen auf dem Buchdeckel.

      Zuhause hatte Rike sofort zu lesen begonnen. Im ersten Kapitel ging es um die Farbe Grün, die anscheinend im Zusammenhang mit einem Landstrich namens Averda stand.

      In den nächsten Kapiteln ging es um die Farben Weiß, Rot, Blau, Gelb, Orange, Lila, Braun und Schwarz.

      Auf den letzten Seiten hatte jemand etwas notiert. Namen von Personen und Edelsteinen und Eigenschaften, die den Steinen oder Farben zugeordnet wurden.

      … Grün: Frisch, gesund, aber auch unreif, bitter. Charakteristisch: Der Smaragd ist der Stein der Hoffnung, ebenso gilt er als der Stein der Weisheit, der geistigen Schöpfung und des esoterischen Wissens. Zugehöriges Land: Averda. Zugehörige Personen: Amin Abiden Vernon, Adelina Avalon (Piccio) …

      So ging es weiter, Farbe für Farbe. Rike packte das Buch weg. Was für ein Quatsch! Für sie ergab das alles keinen Sinn.

      Aber natürlich probierte sie noch am gleichen Abend, neugierig wie sie war, eine der Kaugummikugeln. Eine grüne. Furchtbar bitter hatte sie geschmeckt. Schlimmer noch als Grapefruit. Rike schüttelte es sogar jetzt noch bei dem Gedanken daran ab.

      Doch es passierte nichts. Absolut nichts. Die Alte hatte ihnen wohl das Gerät nur aufgeschwatzt, um ihnen ein paar Euros aus der Tasche zu ziehen. Rike schloss müde die Augen, kuschelte sich in ihr Kissen und war im Handumdrehen eingeschlafen.

      Der Nebel, der sich vor ihr ausgebreitet hatte wie ein fließendes, graues Seidentuch, lichtete sich plötzlich und gab den Blick frei auf eine ihr fremde, verborgene Welt.

      Für einen Moment glaubte Rike sogar, ein Wispern zu hören. Eine helle Frauenstimme flüsterte etwas von einer Reise in das ewig grüne Land Averda.

      Dann sah Rike auf ein Tal mit saftigen, grünen Wiesen, auf denen eine Schafherde weidete. Daneben stritten sich lautstark drei Kinder, wer das nächste Spiel bestimmen durfte und auf dem angrenzenden Acker klaubten ein Mann und eine Frau Kartoffeln in einen Korb. Die Frau richtete sich auf und drückte schmerzverzerrt eine Hand gegen ihren Rücken.

      Bei der Gelegenheit bemerkte Rike, welch einfache, derbe und vor allen Dingen furchtbar altmodische Sachen die Menschen trugen.

      Gegenüber der Weide erspähte Rike eine Anhöhe, die ein kleiner Tannenwald umsäumte. Ein Bach floss in ein nahe gelegenes Sumpfgebiet.

      Und noch etwas fiel Rike auf: Stille. Es herrschte ungewöhnliche Ruhe. Kein Straßenlärm, kein Dröhnen von Baumaschinen, oder ähnlichem. Nichts. Nur beschauliche Stille.

      Doch schon flog eine Schar Zaunkönige heran, landete auf einem nahen Baum und begann wild zu kreischen.

      Der ältere Junge erstarrte zunächst in seiner Bewegung, als er die Vögel bemerkte, dann jagte er davon.

      Im selben Augenblick rumpelte ein Einspänner den Feldweg entlang, bis er bei dem Acker ankam. „Brrrr“, knurrte der alte Mann, der ihn lenkte.

      Er trug einen dunklen, zerknitterten Anzug. Der Hemdkragen sah abgewetzt aus und war zudem schief geknöpft. Seinen Hut benutzte der Greis offenbar auch als Kissen. Völlig zusammengedrückt saß er auf seinem Kopf. Mit seinen grauen, buschigen Augenbrauen, dem gezwirbelten, weit abstehenden Schnurrbart und der verlotterten Kleidung sah er aus wie eine alte Vogelscheuche.

      Erstaunt sah die Frau zu ihrem Mann.

      „Das ist der alte Zaunkönig Refugio aus Brunolino“, raunte er ihr zu.

      „Zaunkönig?“