Friedrich von Bonin

Der Lauf der Zeit


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sein sollen? Was wollte er von ihr? Sie küssen? Das ging nicht, er traute sich das nicht und das war auch unkeusch, unsittlich, vertrug sich nicht mit seinem Glauben. Christus hatte doch, so hatten ihn die Pastoren gelehrt, zur Enthaltsamkeit gemahnt. Und so schlief Bruno diese Nacht wiederum an sein Hemd gekuschelt, das nach ihr roch.

      22.

      Sie hatten ein Motorrad gekauft, Bruno und sein jüngerer Bruder, eine 250 iger BMW, die sie abwechselnd und nach Absprache nutzten. In diesem Jahr war Bruno an der Reihe, damit in Urlaub zu fahren. Mit einem Freund auf dem Sozius fuhr er los, nach Holland, nach Brüssel, nach Paris. Eine furchtbare Reise, fast ununterbrochen regnete es. Die beiden Freunde schliefen im Zelt, das in der zweiten Nacht durchregnete. Am Tage kämpften sie sich gegen die Kälte und den Regen nach Süden vorwärts, hielten sich in Brüssel vier Tage auf, weil dort die Sonne schien, fuhren weiter nach Paris, zelteten dort, besichtigten Eiffelturm, Louvre und die Clochards und fuhren den ganzen Rückweg durch Regen, Kilometer um Kilometer. Sie ernährten sich die ganzen vierzehn Tage lang von Dosen, Linsen in Dosen, die sie mit dem Messer öffneten und kalt auslöffelten. Aus Paris schrieb er eine Ansichtskarte an Margarete, in der er die Erlebnisse kurz und spöttisch schilderte.

      „Das muss ja abenteuerlich gewesen sein“, sprach sie ihn nach den Ferien an, „vielen Dank für die Karte.“ Bruno erzählte von der Fahrt.

      „Und das Motorrad, hast Du das noch? Ich bin noch nie mit einem Motorrad gefahren.“ „Willst Du mal mit mir fahren?“, fragte er zurück. „Ich kann Dich am Wochenende abholen, wenn das Wetter gut ist, nicht im Regen“, bot Bruno an. „Am Sonntag wäre toll“, lächelte sie. „Ich bin Sonntag um 11 Uhr mit dem Motorrad bei Dir und hole Dich ab, wenn es regnet, rufe ich Dich an.“

      Und Bruno betete drei Tage lang, Donnerstag, Freitag und Sonnabend, um Sonne für Sonntag. Jeden Tag sah er sie, war aber immer noch zu schüchtern, um sie noch einmal darauf anzusprechen oder ihr seine Vorfreude mitzuteilen.

      Und Sonntag schien die Sonne mit aller Kraft, es schien, als wolle sie Bruno Mut machen. Mit lachendem Herzen stieg er auf die BMW und fuhr los, der Wind wehte ihm warm ins Gesicht, die Haare flatterten ihm am Kopf. Jubelnd genoss er die Landschaft, die sonst meistens grau und flach war und auf ihn etwas trist und melancholisch wirkte, jetzt aber, im Sonnenlicht, leuchtete. Bruno sah die Frucht auf den Feldern, den Roggen, golden die Ähren, reif, die Kartoffelpflanzen in grünen Reihen und zwischen den Feldern die Bäume, hochsommerlich dicht belaubt. Nie hatte er diese Landschaft in so herrlichen Farben gesehen, die Dörfer, Kampshausen, Altkirchen, Neukirchen. In Neukirchen läuteten die Glocken einer Kirche, voll, dunkel, sonntäglich und bezeugten sein Glück.

      Sie fuhren spazieren, gingen im Waldsee baden, trafen einen Schulkameraden, der Hand in Hand mit seiner Freundin ebenfalls den sommerlichen Tag genoss, gingen aber nebeneinander, ohne dass Bruno sich getraute, ihre Hand zu fassen, gingen durch Wälder, an Feldrainen vorbei, spürten das Land, die Natur, sogen die Kraft in sich auf, die Wärme, den leichten Wind.

      Auf dem Rückweg fühlte er ihren Körper hinter sich auf dem Soziussitz.

      Vor ihrem Haus angekommen, stieg sie von der BMW, er blieb sitzen. Schweigend stand sie, schweigend saß er auf dem Motorrad. Sie sah ihn an: „Was willst Du eigentlich von mir?“, fragte sie ihn und sah ihn liebevoll an. Bruno fühlte sich ertappt. Ja, was wollte er eigentlich von ihr? Mit ihr durch das Land fahren, ja, und weiter? Bruno wagte nicht, weiter zu denken, sie vielleicht küssen? War das das Äußerste, das er sich vorstellen konnte? Aber das würde sie bestimmt ablehnen, wie könnte eine so strahlende schöne Frau mit einem hässlichen dicken Mann wie ihm auch nur gehen wollen, geschweige denn ihn küssen oder gar noch mehr? „Ich will dich nicht heiraten“, antwortete er wieder fast barsch, gab Gas, ließ die Kupplung kommen und fuhr davon, ließ sie stehen.

      23.

      Bruno verlor sich in seinen Büchern, denn er traute sich kaum, von Margarete zu träumen, er ängstigte sich, seinen Phantasien nachzugeben. Er las all das, was in der Schule nicht gelehrt wurde. Zeit hatte er genug, die Schule forderte ihn nicht ernsthaft, er war wach in den Unterrichtsstunden. Hier kam ihm die Eigenschaft zugute, die er erst in späterer Zukunft schätzen lernte: er fasste sehr schnell auf, was Lehrer in der Stunde erklärten, er war aufmerksam und konzentriert, was den Vorteil hatte, dass er nicht nacharbeiten musste. Die eigentlichen Schularbeiten erledigte er in kürzester Zeit und hatte dann Muße, um mit Hans durch das Dorf zu schlendern. Nun sprachen sie mehr, aber immer noch spöttisch, über Politik. Sie tauschten sich aus über das, was sie gelesen hatten. Die DDR war es, an der sich die Freunde abarbeiteten. Bruno, konservativ von seinem Vater geprägt, war „gegen die Kommunisten“. Die hatten die Mauer gebaut, und im Übrigen waren Kommunisten von vornherein unakzeptabel. Hans war da noch unentschlossener. Klar, Ulbricht war ein Unterdrücker, aber Sozialismus, das hatten auch die Sozialdemokraten auf dem Banner, und das war gut. So stritten die Jungen.

      Und dann wurde ruchbar, was die Amerikaner in Vietnam trieben. Sie bekämpften die Kommunisten, damit war Bruno noch ungeteilt einverstanden, aber sie brachten Zivilisten um, wahllos, in Mengen, mit furchtbaren Waffen, sie verbrannten ganze Wälder. Konnte, durfte man ein ganzes Land entvölkern, entlauben, verbrennen, verwüsten, nur um den Kommunismus zu bekämpfen?

      Und je älter sie wurden, desto schärfer wurden die Debatten, desto mehr entfernte sich allerdings auch Bruno von den Ansichten seines Vaters. Sicher, immer noch verstand er, wie behindernd das Verbot zu reisen sein konnte, er wusste die Pressefreiheit zu würdigen, alles das gab es in den Ländern, in denen der Sozialismus die herrschende Lehre war, nicht. Aber Pressefreiheit? Wer hatte die denn in den sechziger Jahren in Westdeutschland? Sah Bruno nicht jeden Morgen die hetzenden Schlagzeilen der Bildzeitung, die, ebenso wie „Die Welt“ und alle Zeitungen des Springerverlages die tatsächlichen Gegebenheiten nicht akzeptieren wollten, die noch von der „sowjetisch besetzten Zone“, der „sogenannten DDR“ schrieb und die DDR in Gänsefüßchen setzte, als alle anderen schon längst die Existenz dieses zweiten deutschen Staates anerkannt hatten? Und schließlich, jenseits aller dieser praktischen Erwägungen, war das nicht eine großartige Idee, die von der Überwindung von Klassen und dem Absterben des repressiven Staates? Und die Russen? Warum hatte der Vater und hatten alle seiner Generation solche Angst vor den Russen? Bruno hatte Gräuelgeschichten gehört von den Taten der russischen Armee 1945 und hatte sie auch geglaubt. Aber anders als die Alten fürchtete Bruno nicht den Überfall der Sowjetarmee auf Westdeutschland, Bruno hatte die neuere Geschichte sorgfältig gelesen: Nie waren es die Russen gewesen in der Neuzeit, die zuerst nach Deutschland gekommen waren, immer waren entweder die Deutschen in den beiden Weltkriegen, oder vorher Napoleon mit seiner Armee, nach Russland einmarschiert und hatten erst so die russische Armee auf den Plan gerufen. Warum sollten eigentlich jetzt, in den sechziger Jahren, die Russen erstmals einfallen, ohne vorher überfallen worden sein? Bruno stellte die Frage ruhig, unprovokant seinem Vater, der darauf seinem Sohn überlegen antwortete, er kenne eben den Sowjet, den Ivan, nicht. Bruno schwieg.

      Bruno schwieg mittlerweile zu allen Ansichten seiner Eltern. Sie waren gefangen in ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen Wertvorstellungen und Erinnerungen. Sie hatten mit den Dingen, die er lernte, nichts zu tun und konnten dazu wohl auch keinen Zugang haben.

      Seine Eltern sprachen von den Dorfbewohnern immer noch als den „einfachen Leuten“. Wohl fühlten sie sich, wenn sie mit Mitgliedern der eigenen „Kiste“, so nannten sie das, zusammen waren, das waren Verwandte oder andere Flüchtlinge, die wie die Eltern von großen Gütern geflohen waren. Alle anderen waren einfach. Die tägliche Existenz der Eltern und der Familie sah komplett anders aus: Bruno hatte bei der „einfachen“ Frau Koopmann und der Schlachterin um Einkaufskredit betteln müssen. Wieso sollte er, der betteln musste, vornehmer sein als die, die er anbetteln musste? Bruno hatte dies nie verstanden. Und als Primaner sah er den Vater in seinem bürgerlichen Beruf als Versicherungsvertreter mit Herrn Hansmeyer konkurrieren, der ebenfalls Versicherungsvertreter war. Herr Hansmeyer ein „einfacher Mann“, der Vater dagegen nicht?

      „Junge, sieh doch nicht aufs Geld, wenn du darüber nachdenkst, das ist doch nicht eine Frage des Geldes oder des Reichtums!“, war die Ermahnung der Eltern, wenn er sie darauf ansprach. Bruno schwieg wieder. Er wusste selbst, dass es nicht der Reichtum war, den die Eltern