Friedrich von Bonin

Der Lauf der Zeit


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„siehst du, deshalb habe ich diesen Gedanken spottend vorgebracht, ich meinte ihn selbst nicht ernst“.

      Nichts im ernsten Ton diskutieren, nicht einmal mit Schulfreunden oder später mit befreundeten Kollegen, noch mit dreißig Jahren pflegte Bruno diese Art der Kommunikation, und behielt sich bei jedem Gedanken den Rückzug vor.

      Und seine Freunde machten sich ebenso lustig. Es war eine logische Konsequenz, dass derjenige, der den Gedanken von Bruno spöttelnd serviert bekam, ihn auch spöttelnd zurückgab; und Bruno nahm an, dass genau das eingetreten war, was er befürchtet hatte: der andere mache sich über ihn lustig. Da nahm Bruno im nächsten Satz seine Gedanken wieder zurück. Für ernsthaft an Bruno interessierte Menschen war dies eine kaum zu überwindende Barriere.

      Zwei Jahre nach dem Kinobesuch nahm sein Vater ihn beiseite:

      „Bruno!“, sagte er, „du bist mein ältester Sohn. Du wirst nach meinem Tode einmal der Erbe meines Rittergutes werden. Es ist an der Zeit, dass du dich mit diesen Gütern vertraut machst und damit, was wir als erstes machen, wenn wir die Ostgebiete zurückbekommen.“

      Bruno war verblüfft. Aus Erzählungen wusste er von den Gütern seines Vaters in den Ostgebieten, jenseits der Oder-Neiße-Linie. Dass sein Vater aber so gewiss damit rechnete, diese Güter zurück zu bekommen, hatte Bruno nicht geahnt. Er selbst war in Neuburgheim in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass er in einer armen Familie lebte. Er wusste, wie seine Eltern um die Höhe des Haushaltsgeldes stritten, weil nicht genug da war. Das war sein Leben. Dass es einmal anders werden könnte, hatte er sich nie vorgestellt. Er hörte morgendlich Nachrichten und darin von Eisenhower und Stalin sprechen. Adenauer war fest auf der Seite des Westens, wie sollten da die Ostgebiete jemals wieder deutsch werden? Alle hielten das für eine Illusion, und hier kam sein Vater, versprach ihm das Erbe des Rittergutes und wollte mit ihm den Wiederaufbau diskutieren.

      Bruno sagte nichts. Sein Vater rollte eine riesige Generalstabskarte des Rittergutes aus. Er hatte schon vorgearbeitet. Riesige grün umrandete Areale waren, wie sein Vater erklärte, die Forsten der Güter, die Ackerbauflächen waren rot umrandet.

      „Wir können natürlich nicht alles von Anfang an bewirtschaften“, sagte sein Vater, „sondern erst einmal einen kleinen Teil. Hierfür brauchen wir einen von den modernen Mähdreschern, die du sicher schon gesehen hast.“

      Bruno hatte sie gesehen. Früher waren der Bauer und alle Knechte mit ihren Sensen gekommen, hatten das Korn geschnitten und zu Garben aufgestellt, um es trocknen zu lassen. Wenn die Garben trocken waren, wurden sie auf hohe Wagen gestakt und zum Dreschen auf den Bauernhof gefahren. Diese Art der Ernte war vor einigen Jahren von Mähdreschern abgelöst worden, riesigen Maschinen, die das Korn selbst schnitten, dann in ihrem Inneren verarbeiteten und schließlich aus einem gigantischen Speirohr das fertig gedroschene Korn auf nebenher gezogene Anhänger warfen.

      „Aber ist denn so eine Maschine nicht furchtbar teuer?“, fragte Bruno.

      „Das müssen wir aus den Erträgen bezahlen, die wir aus dem Forst machen. Wir werden da zuerst viel Holz schlagen und verkaufen müssen. Von dem Geld kaufen wir den Mähdrescher und übrigens auch die Kartoffelerntemaschine, denn wir können dort nur Roggen und Kartoffeln anbauen. Mehr gibt der Boden nicht her.“

      Und der Vater legte Bruno eine Kalkulation vor, die den Preis für Mähdrescher, Kartoffelerntemaschine, Trecker und Saatgut enthielt. Auf der anderen Seite waren penible Berechnungen angestellt, wie viel Holz man schlagen und zu welchem Preis verkaufen musste, um die Investitionen zu bezahlen und leben zu können.

      Bruno blickte abwechselnd auf die Kalkulation, die Pläne und auf seinen Vater. Sein Vater war groß gewachsen und in letzter Zeit dick geworden. Er hatte tiefe Geheimratsecken, wie er es nannte, man konnte auch sagen, er hatte eine Glatze mit einem Haarkranz drumherum, der jetzt grau wurde. Seine Stimme, die laut, herrisch und aggressiv sein konnte, war in dem riesigen Wohnzimmer, in dem sie saßen, weich geworden, wenn er an sein Gut dachte. Nachdenklich saß Bruno da und hörte dieser Stimme zu und merkte, dass er seinem Vater nicht mehr glaubte.

      Zu groß war der Widerspruch, unter dem er seit einiger Zeit lebte: Seine Eltern erklärten ihm und seinen Geschwistern immer, sie seien etwas Besseres, mit ihrem Namen. Aber Brunos Freund Hans Rink hatte viel mehr Taschengeld als er und seine Geschwister. Seine Eltern waren wesentlich reicher. Brunos Vater war Versicherungsvertreter, aber das war Herr Hannsmeyer auch. Was also war es, was sie besser machte? Der adelige Name vielleicht? Aber sie nahmen in der Schule gerade die Zeit im Mittelalter durch, als die Adeligen durch Deutschland gezogen waren und die Armen geplündert hatten. Immer, wenn der Geschichtslehrer, Herr Nordmann, von diesen Ereignissen erzählte, trafen Bruno höhnische Blicke von seinen Klassenkameraden. Herr Nordmann, diese Blicke bemerkend, sprach Bruno direkt an: „Die Halcans, die waren doch nur ein ganz billiger, verarmter Landadel.“ Das machte es auch nicht besser.

      Wie unterschieden sie sich von den „einfachen Leuten“, wie die Eltern ohne Ausnahme alle anderen - bis auf die Verwandten - nannten? Etwa dadurch, dass sein Vater früher ein Gut gehabt hatte, das die hiesigen Höfe an Größe um ein Vielfaches übertraf? Aber es gehörte seinem Vater nicht mehr. War man etwas Besseres, nur weil man früher Besitztümer gehabt hatte? Bruno dachte hierüber viel nach, ohne sich aber einen Reim darauf machen zu können.

      Brunos Vater war am Ende des ersten Weltkrieges auf dem Gut, das heute Gegenstand ihrer Betrachtungen war, geboren. Er hatte in der regulären Schule Schwierigkeiten gehabt und hatte deshalb kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges auf einem Internat Abitur gemacht. Kurz danach war er eingezogen worden. Im Krieg war er sehr schnell avanciert, war mit Ritterkreuz und der goldenen Nahkampfspange ausgezeichnet worden und beendete den zweiten Weltkrieg mit einer Verwundung als Major.

      Mitten im Krieg hatte er die Mutter geheiratet. Bruno hatte verschiedene Geschichten über die Heirat gehört. Seine Mutter hatte, so erzählten die Verwandten der Mutter, eine erhebliche Mitgift in die Ehe gebracht. Diese sei dringend vonnöten gewesen, denn die Güter des Vaters seien praktisch pleite gewesen. Der Vater der Mutter, ein versierter Kaufmann, Landrat und Jurist seines Zeichens, hatte zur Bedingung der Mitgift gemacht, dass er die wirtschaftliche Zukunft des Gutes bestimmen und den Schwager des Vaters, der das Gut während der Abwesenheit des Vaters führte, feuern durfte. Nur deshalb, so diese Erzählung, hatte das Gut am Ende des Krieges noch bestanden.

      Die Verwandten des Vaters erzählten die Geschichte anders: Der Schwager habe das Gut durchaus erfolgreich geführt. Dann sei aber der Schwiegervater mit seinem Geld gekommen und habe seiner Tochter einen adeligen Mann und sich selbst ein Betätigungsfeld als Gutsbesitzer gekauft.

      Welche Geschichte auch richtig war, der Krieg hatte alles durcheinander gewürfelt: Statt auf einem Rittergut als angesehene Gutsbesitzer zu leben, fanden sich Brunos Eltern nach dem Krieg in einer Nissenhütte am Ende der Welt, das heißt Westdeutschlands, wieder, ohne Besitz, ohne Vermögen, arm. Der Vater wollte möglichst viele Kinder haben, die Mutter nicht. Der älteste Sohn war im Krieg an Diphtherie gestorben. Nach dem Krieg hatte die Mutter auf der Flucht Hanna, dann in fast jährlicher Reihenfolge Bruno, Malte und Hendrik geboren, ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, wie sie sich und ihren Mann, geschweige denn die Kinder den nächsten Tag ernähren sollte.

      So waren sie in Neuburgheim gelandet, so wuchs Bruno in den ersten Jahren auf.

      Jetzt, mehr als vierzigjährig, verstand der sich erinnernde Bruno den Widerspruch. Was sonst hätte seine Eltern wohl in der Nissenhütte, verarmt, mit vielen Kindern, aufrecht erhalten sollen, wenn nicht die Illusion, sie seien hier ganz falsch, sie seien die Besseren, anders als die einfachen Leute.

      14.

      Wenn er weder mit dem Vater den Wiederaufbau des Rittergutes noch mit den Geschwistern und Freunden Indianer spielte, las Bruno. Er las erst wahllos, was ihm in die Hände kam: Karl May, Comics, Abenteuerbücher für Kinder vom Schneider Verlag. „Käpt´n Rickys tollster Flug“ war darunter, Heidi, die Bücher seiner Schwester, egal, Bruno las alles. Seine Patentante schickte in einem Weihnachtspaket die Märchen von Oscar Wilde. Bruno, 11-jährig, verschlang sie und bedankte sich überschwänglich für das Geschenk. „Aber“, schrieb seine Tante zurück, „das war doch noch gar nichts für dich,