Friedrich von Bonin

Der Lauf der Zeit


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gegen ihn zusammen taten. Bruno hatte noch immer Narben am Bein, die ihn an einen solchen Pakt seiner Brüder erinnerten. Diese Bündnisse wurden immer nur für kurze Zeit geschlossen, sie zerbrachen schnell und neue wurden geschlossen, In diesen Kämpfen ging es oft um Kalle, den Ältesten und Stärksten und seine Freundschaft. Im Wetteifer der Brüder um diese Freundschaft, der durch den täglichen Verteilungskampf der Geschwister beim Esstisch verstärkt wurde, sammelte sich so viel Zündstoff auf, dass die Brüder sich selten sehr lange vertrugen.

      So war das Leben in dieser Zeit in Brunos Erinnerung geprägt von Kämpfen, Bündnissen, Verletzungen, in dieser Zeit lernte er, mit anderen zu paktieren, rechtzeitig nachzugeben und zu wissen, wann er angreifen konnte.

      9.

      In der vierten Klasse hatten Bruno und seine Mitschüler Unterricht bei Fräulein Blume. Sie wusste den Heimatkundeunterricht besonders spannend zu gestalten und versuchte, den Kindern auch erste Nachrichten vom politischen Geschehen zu vermitteln. So erzählte sie den Viertklässlern eines Tages von der Atombombe.

      „Im Krieg gab es Bomben, die waren nichts gegen die neuen Atombomben, die die Russen jetzt haben. Eine solche Atombombe ist so groß wie eine Streichholzschachtel. Wenn die explodiert, ist von hier bis Hermstadt alles verbrannt und kaputt. Alles Menschen sind dann tot.“

      Von den Russen hatte Bruno schon gehört. „Die Sowjets“, wie sein Vater sie nannte, oder „die Russkis“, von denen Anni, ihr Kindermädchen zu berichten wusste, konnte man leicht erkennen. Sie wuschen sich nicht zwischen den Fingern. Anni brachte das besonders gerne an, wenn Bruno und seine Geschwister sich nicht ordentlich die Hände wuschen.

      Was half es aber, so fragte sich Bruno, wenn man sie erkennen konnte, aber nicht wusste, ob sie eine Streichholzschachtel bei sich hatten, die sich als Atombombe entpuppte? Jahrelang hatte er Alpträume, in denen solche Bomben, getarnt als Streichholzschachtel, explodierten.

      Fräulein Blume war aus Sicht des 8 jährigen Bruno alt, so 30 oder 35 und lebte in Neuburgheim. Hanna traute sich, sie ging zu Fräulein Blume, ließ sich wie andere Mädchen Häkeln beibringen und lauschte ihren Geschichten. Bruno traute sich nicht und war also auf die Erzählungen in den Schulstunden angewiesen. Man lebte in einer Demokratie, das sollte eine feine Sache sein, weil das Volk herrschte. Das Volk, so begriff es Bruno, hieß Adenauer, weil der der Chef von Deutschland war. Auch Adenauer hatte mit den Russen zu tun. Eines Tages erzählten Fräulein Blume und die Eltern zu Hause, Adenauer habe ganz viele Gefangene von den Russen nach Hause geholt. Es gab Bilder in den Zeitungen, die Bruno noch nicht lesen konnte, auf denen ein uralter Mann mit zerknittertem Gesicht neben ausgemergelten jüngeren Männern mit Soldatenmützen zu sehen war.

      Sein Vater mochte, im Gegensatz zu Fräulein Blume, Adenauer nicht, wie er zum Besten gab. Es gab einen zweiten Mann, Strauß hieß er, den mochte der Vater schon eher. Der konnte sich aber nicht richtig durchsetzen, weswegen der Vater auch eine andere Partei wählte. Was das alles bedeuten sollte, wusste Bruno nicht. Er glaubte jedenfalls fest an Adenauer, weil der den Russen die Gefangenen weggenommen hatte. Fräulein Blume versuchte dann noch, den Viertklässlern beizubringen, was ein Parlament war und wie Regierung funktionierte, aber da hörte selbst Bruno nicht hin. Fräulein Blume sah ihm das nach und gab es auf, davon zu erzählen. Sie hatte andere Sorgen. Neben Bruno saß Henrik Hanken, der schon drei Mal sitzen geblieben war, ein kräftiger Junge, über zwölf Jahre alt, der alle in der Klasse hätte verhauen können. Die Stärke nutzte ihm aber nichts, weil er nach den Maßstäben von Fräulein Blume der Schwächste war. Henrik konnte nicht einmal das Wort „König“ lesen. Wurde er hierzu aufgefordert, buchstabierte er jeden Buchstaben laut „ K-ö-n-i-g“, konnte die Buchstaben erkennen, wusste aber nicht, was die Zusammensetzung bedeuten sollte. Wurde Henrik aufgefordert, 3 und 6 zusammenzuzählen, nahm er seine Finger zur Hilfe, 3 und 6 gab 9, das war in Ordnung, fragte ihn aber jemand nach 6 und 7, reichten die Finger nicht aus. Henrik sah zu Bruno auf, er war zwar weit stärker, aber Bruno war ohne jeden Zweifel und mit weitem Abstand der beste Schüler in der Klasse. Er konnte König lesen und 3 mal 7 ausrechnen. Bruno hatte auf dem Zeugnis lauter Einsen, Henrik lauter fünfen, eine sechs gab es damals noch nicht.

      10.

      Brunos Großmutter mütterlicherseits, von den Kindern Mum genannt, lebte in Hannover. Bruno, knapp 10 Jahre alt, durfte mit seinen Eltern, ohne Geschwister, nach Hannover fahren, Mum besuchen. Nie hatte Bruno sich geborgener gefühlt, hinten sitzend in dem VW Käfer des Vaters, der Vater fuhr, die Eltern plauderten vorne, Bruno konnte nicht verstehen, was, wollte aber auch nicht zuhören, er fühlte sich einfach nur von den Eltern beschützt.

      Die Fahrt war endlos. Kurz vor Hannover wendete sich der Vater zu Bruno um und sprach ihn an.

      „Bruno, wenn wir gleich zu Mum kommen, ist da eine Dame, ungefähr so alt wie Mama. Das ist Tante Kathrin, die Schwester Deiner Mutter. Du weißt doch noch, wie ich dir den Handkuss beigebracht habe? Tante Kathrin ist eine Dame, der man den Handkuss gibt. Also nicht vergessen: Benimm dich anständig und küss ihr zur Begrüßung die Hand!“

      „Ja, Papa.“

      Bruno erinnerte sich, wie sein Vater angefangen hatte, ihm das beizubringen, was er für gutes Benehmen hielt. Schrieb man, nach Weihnachten, Dankesbriefe an Onkel und Tanten, hatten diese unterschrieben zu sein mit „Dein sehr ergebener Neffe Bruno“, begegnete man einer Dame, so hatte man ihr die Hand zu küssen, so: Papa nahm die Hand seiner Ehefrau, beugte sich darüber und hauchte einen Kuss darüber, ohne sie mit dem Mund zu berühren. Bruno machte es nach, die Mutter lachte: „Nein, nicht knutschen, nur leicht andeuten.“ Sie übten so lange, bis er es konnte. „Muss ich nun auch Frau Koopmann die Hand küssen, wenn ich bei ihr einkaufe?“ Beide Eltern lachten noch lauter: „Nein, der selbstverständlich nicht, die ist eine einfache Frau, da macht man das nicht.“ Bruno verstand das nicht, bei Frau Koopmann musste man immerhin anschreiben, da wäre man doch vernünftigerweise besonders höflich. Er hatte aber, weil in Neuburgheim nach Auffassung der Eltern nur einfache Frauen wohnten, den Handkuss noch nie probiert. Nun kam also die Probe aufs Exempel.

      Mum wohnte im 7. Stock, bis dahin musste man zu Fuß hochgehen. In der Tür stand Mum, die Bruno sehr liebte, und begrüßte sie, vor allem Bruno, mit einem Kuss. Hinter ihr, im Flur, stand eine Dame, dick, ungefähr so alt wie die Mutter. Artig ging Bruno auf sie zu, nahm die Hand der verblüfften Frau und hauchte einen formvollendeten Handkuss darüber. Alle Erwachsenen brachen in infernalisches Gelächter aus, Bruno floh ins nächste Zimmer und erfuhr daher später den Grund der Heiterkeit: Er hatte der Putzfrau von Mum die Hand geküsst, Tante Kathrin war noch nicht da. Bruno schämte sich sehr.

      Am nächsten Tag ging er allein mit der Mutter in die Stadt, die man von der Wohnung Mums zu Fuß erreichen konnte. War das eine Riesenstadt! Bruno kannte bisher nur Neuburgheim. Klar, auch da gab es eine Hauptstraße, ein Kino, Schuhladen, Zahnarzt und Kneipe. Aber weniger Menschen. Hier dagegen wimmelte es von Menschen. Um sie herum hasteten sie, liefen, verzweigten sich, trafen sich, redeten, machten Krach. Und Häuser! Häuser, die so hoch waren, dass sie in den Himmel ragten. In Neuburgheim war der Schuhladen das höchste Haus, drei Etagen hatte es. Bruno musste den Kopf schon sehr in den Nacken legen, ehe er das Dach sehen konnte. Aber hier? Hoch, hoch waren sie, es half nichts, den Kopf in den Nacken zu legen, er konnte das Dach nicht sehen. Zwischen den Häusern von der Straße aus konnte er ein kleines Stück Himmel sehen, nicht mehr. Und wo waren bloß die Wiesen zwischen den Häusern? Wiesen, die grün waren mit Kühen drauf, die einen anguckten. Hier gab es weder Kühe noch Wiesen, keine Pausen zwischen den Häusern und Menschen. Bruno stand, staunte, guckte und fürchtete sich ein bisschen. Aber die Mutter war da und beschützte ihn. Sie kannte die Stadt, sie wusste schon, wie er sich benehmen musste und wie sie wieder nach Hause, nach Neuburgheim, kamen. Ganz leise tastete seine Hand nach der Mutter. Aber seine Mutter war nicht da!

      Gerade lief sie noch neben ihm! Wo ist sie? Er ist stehen geblieben, ist sie vielleicht weiter gelaufen? Entsetzt und gehetzt sieht sich Bruno um. Keine Mutter. Auch nicht da, wo sie vielleicht weiter gelaufen sein könnte. Keine Mutter, nur riesengroße Häuser und Menschen, Menschen, aber keine Mutter. Die Menschen erscheinen ihm auf einmal immer größer, sie laufen schneller, immer schneller dreht sich um den Jungen der Kreisel der Stadt, der riesengroßen Stadt. Bruno steht