Friedrich von Bonin

Der Lauf der Zeit


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oder nicht. Ganz langsam, Bruno steht inmitten der Häuser und Menschen, verzieht sich sein Mund, er kann es spüren, wie sein Mund breiter wird, wie gleichzeitig mit den Tränen sein Mund beginnt zu weinen, und dann weint der ganze Junge, er kann es nicht aufhalten, Schluchzen schüttelt ihn und nun weint auch seine Stimme. Er hat den Bissen vom Brötchen, das ihm seine Mutter gekauft hat, noch im Mund, der ihm gerade noch so gut geschmeckt hat und den er jetzt vor Kummer und automatisch weiter kaut. Bruno steht mitten auf dem Bürgersteig in Hannover, von hastenden Menschen umgeben, mutterseelenallein und kaut und schluchzt und weint zum Gotterbarmen. Nie wieder wird er aufhören können zu weinen, seine Mutter ist weg, nie wird sie wiederkommen, sie wird ihn hier allein lassen, mit den Fremden, den Unmenschlichen, den Riesen, und er steht allein und schluchzt und weint und beißt vor lauter Verzweiflung noch mal in sein Brötchen und kaut und weint und in seinem Mund vermischen sich Brötchen, Tränen und Schnodder.

      Menschen stehen um ihn herum: „Was hat der Junge bloß? Warum weint er denn so?“ Er kann ihnen nicht antworten, er schluchzt und weint und ist zu verzweifelt, um sie zu hören. Sein ganzer kleiner, fast zehn Jahre alter Körper bebt unter dem Schluchzen und dem Leid, dass seine Mutter weg ist. „Mama“ schluchzt er, mit der Betonung auf der letzten Silbe.

      Eine ganz weiche, liebevolle Stimme spricht neben ihm. Er kennt sie nicht, aber sie ist vertrauenserweckend und ihm zugeneigt: „Wo ist denn deine Mama?“, fragt sie und so, als ob sie ihm helfen will. „Weiheiß nihicht“, schluchzt er und versucht, die anzusehen, deren Stimme er vertraute. Er sieht eine Frau in der Hocke neben ihm. „Wollen wir sie nicht suchen gehen?“, fragt sie. Bruno nickt.

      Sie richtet sich auf und nimmt seine Hand. „Wo hast du deine Mama denn zuletzt gesehen?“ Er blickt zu ihr auf „Hier“, antwortet er. Sie steht etwas unentschlossen da. „Vielleicht ist es das Beste, wenn wir hier einen Moment warten, vielleicht kommt sie dich holen“, schlägt sie vor. „Aber Du gehst nicht weg?“, fragt er angstvoll. Da hört er plötzlich eine vertraute Stimme „Bruno, wo bist du denn?“, Er reißt sich los und rennt auf die Stimme zu „Mama! Mama! Hier bin ich!“, und schließt seine Mutter in den Arm und lässt sich von ihr hoch heben. Die junge Frau nähert sich: „Na also, habe ich mir doch gedacht, dass Deine Mutter nicht weit sein kann. Also dann Tschüs, Junge, und verlauf Dich nicht wieder.“ Sie verabschiedet sich, nachdem die Mutter ihr herzlich gedankt hat.

      Wieder kamen Bruno vierzig Jahre später die Tränen, als er an den kleinen einsamen Jungen in Hannover dachte. Wie einsam war er damals gewesen, wie oft ist er seitdem verlassen worden und wie einsam ist er jetzt. Ablenken wollte er sich von Margarete und tauchte wieder ein in die Erinnerungen, auf der Suche nach seiner Geschichte.

      11.

      In Neuburgheim zurück standen große Veränderungen an. Bruno sollte zum Gymnasium. Das war in der ungefähr 30 Kilometer entfernten Kreishauptstadt Hermstadt gelegen. Hanna war schon ein Jahr früher dorthin gegangen, deshalb wusste Bruno, was ihn erwartete: Jeden Morgen um 6 Uhr aufstehen und mit dem Zug eine Stunde bis nach Hermstadt fahren.

      Und es gab viele aufregende Neuigkeiten!

      Eine Sensation war am Bahnhof in Hermstadt der Bildzeitungsverkäufer. Der schrie die Schlagzeilen aus und machte bei den Arbeitern, die nach Hermstadt zur Arbeit fuhren, ein blendendes Geschäft. Bruno war wie seine Mitschüler fasziniert über die Laute, mit denen der Verkäufer die Schlagzeilen ausschrie. Die Schlagzeile etwa „Adenauer: Wir brauchen das Militär“ kam so: „A!“ Luft holen „Nauer!“ Luft holen „Mi!“ Luft holen „tär!“ Der Ausruf „Strauß!“ Luft holen „Krieg!“ kündigte beim näheren Hinsehen die Schlagzeile an „Strauß: Nie wieder Krieg!“ Bruno und seine Kameraden pflegten später Wetten abzuschließen, wer am besten von den Lauten auf die dazugehörige Schlagzeile schließen konnte.

      Das Gymnasium machte Bruno ebenso viel Spaß wie die Volksschule. Er hatte nicht den Eindruck, dass sich viel geändert hatte. Er merkte nur, dass sein Ansehen weder bei den Lehrern noch bei den Schülern so hoch war wie in Neuburgheim. Im Gegenteil, sein einziger Mitschüler aus Neuburgheim, Gunther, wollte mit ihm nicht so viel zu tun haben. Gunther war 2 Jahre älter und sprach von Bruno immer nur als Kleiner.

      Die Überraschung kam nach ungefähr einem Monat: Ziemlich schnell hatten sie eine Klassenarbeit in Deutsch geschrieben, Bruno hatte in seiner gewohnten Art eine Geschichte erzählt. Er bekam eine 5! Bruno verstand die Welt nicht mehr. Warum denn so schlecht? Und kurz darauf bekam er die erste Arbeit in Mathematik, wie jetzt das Rechnen hieß, zurück. Eine 5! Bruno war verzweifelt. Seine Eltern wussten ebenfalls keinen Rat. Sie fuhren zum Klassenlehrer nach Hermstadt, der zuckte die Achseln: „Ja, ich weiß, welche Zensuren Ihr Sohn in der Volksschule hatte, aber hier jedenfalls reichen seine Leistungen keinesfalls aus.“

      Das Herbstzeugnis war verheerend. Lauter fünfen, mal mit einer vier dazwischen. Wenn Bruno so weiter machte, blieb er zu Ostern sitzen, und zwar gleich in der ersten Gymnasialklasse. Das kam nicht in Frage. Bruno wusste bis heute nicht, wie und was die Eltern gedeichselt hatten. Jedenfalls aber hieß es kurz nach den Herbstferien: „Bruno geht zurück zur Volksschule, er war zu jung für das Gymnasium, deshalb war er krank und kam nicht mit.“ Er würde den Rest der Klasse in der Volksschule besuchen und dann, nach einem halben Jahr, es noch mal versuchen.

      Bruno erinnerte sich noch wie heute an den ersten Schultag nach der Zurückversetzung. Er hatte mit nichts gerechnet, fand normal, dass er in seine alte Klasse zurückkam. Nicht so seine Mitschüler. Sie standen in der Klasse, als er hereinkam, deuteten mit den Fingern auf ihn und schrien: „Ahhhhh! Da isser wieder! Hats nicht geschafft aufe Oberschule! Ahhhh!“ Das ging so lange, bis Fräulein Blume hereinkam und dem Treiben ein Ende setzte. Sowohl Bruno als auch seine Mitschüler gewöhnten sich schnell wieder an die neue Situation, Bruno bekam erneut nur gute Noten, seine Mitschüler und Fräulein Blume achteten ihn wieder und für eine Zeit war die Welt wieder in Ordnung.

      12.

      Als das Schuljahr vorbei war, ging Bruno wieder auf das Gymnasium. Die Lesart war nicht etwa, Bruno habe es nicht geschafft, sondern, er sei zu jung gewesen, deshalb krank geworden und nun, ein Jahr älter, könne er es schaffen. Eine gewagte Hypothese, von der Bruno aber erst sehr viel später erfahren hatte. Hätte er sie damals gekannt, wer weiß, vielleicht hätte der Leistungsdruck ihn erneut scheitern lassen, er hätte nicht weiter lernen können, er hätte . . . Bruno dachte auch im Alter diese Hätte’s nicht weiter, es kam anders und damit Schluss.

      In der ersten Zeit war das noch anders in der Schule in Hermstadt, aufregend, neue Klassenkameraden, neue Anforderungen. Nach einem Jahr wusste er, sein Verstand und sein Fleiß reichten aus: Jetzt galt es, 8 lange Jahre zu der gleichen Schule zu gehen, den gleichen Tagesablauf zu absolvieren, anstrengende und leichte Tage hinter sich zu bringen, Schularbeiten machen, Zug fahren, mit den Klassenkameraden reden, Lehrern antworten, Hausaufgaben machen, Ausreden erfinden, wenn man sie nicht gemacht hatte und der Mutter Krankheit vorzutäuschen, wenn man absolut nicht zur Schule gehen wollte, acht lange Jahre.

      13.

      Bruno kam nach Hause. Er hatte in dem einzigen Kino in Neuburgheim, das nur mittwochs und freitags Programm hatte, einen Film aus dem zweiten Weltkrieg gesehen. Heldenverehrung der Kämpfer, Grausamkeiten. Bruno war mit seinen zwölf Jahren tief bewegt. Seine Eltern saßen ausnahmsweise einträchtig beim Kaffee. Bruno fing an, ihnen seine Gedanken zu dem Film zu erzählen. „Gelernt habe ich“, so erklärte er ihnen, „dass Gott will, dass die Menschen friedlich miteinander leben, aber die Menschen gehorchen ihm nicht. Deshalb gibt es Kriege.“ Seine Eltern sahen sich an, schwiegen einen kleinen Moment und brachen dann in lautes, belustigtes Gelächter aus ob der Weisheiten, die ihr ältester Sohn ihnen da unterbreitete. Bruno sah sie schweigend an und ging dann wortlos hinaus. Von diesem Moment traute Bruno seinen Eltern nicht mehr. Nie mehr vertraute er ihnen seine geheimen Gedanken an. Er wurde still, verschlossen, freundlich, skeptisch.

      Jetzt, in der Erinnerung, wusste Bruno, dass diese Reaktion seiner Eltern seine Kommunikationsmethoden der nächsten Jahrzehnte geprägt hatten. Mit seinem besten Schulfreund, Hans Rink, redete er nie ernsthaft. Immer und alles wurde bespöttelt. So wusste Bruno heute noch nicht, was Hans eigentlich damals gedacht, übrigens auch nicht, was er selbst gedacht