Friedrich von Bonin

Der Lauf der Zeit


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ihn an, diese Augen, Bruno wusste genau, wie sie es machte, ihn so anzustrahlen: Indem sie erst leicht den Kopf neigte, dann die Augen langsam hob, während sich dieses Lächeln über ihr Gesicht zog, und sie ihn jetzt voll ansah. Bruno traute sich kaum, diesem Lächeln zu begegnen, Schauer durchfuhren ihn. Sie, Margarete, sie hatte ihn angesprochen, Margarete, die er nur von fern anhimmelte, ihn hatte sie angesprochen und ihr Lächeln, mit dem sie alle Menschen bezauberte, galt allein ihm!

      Bruno stand regungslos. Er konnte nicht glauben, dass diese Worte ihm galten, diese Augen ihn ansahen und er Adressat des Lächelns war, aber doch, es galt ihm, nach wie vor. Er lief weg, flüchtete zu seinem Platz, setzte sich und tat, als müsse er dringend noch für die nächste Stunde etwas lesen, etwas machen, irgendetwas, um zu verbergen, dass er vor Schüchternheit keinen Ton herausbringen, dass er ihr nicht antworten konnte, dass er nicht geschickt genug war, wie er sich später in der Erinnerung ausmalte, keck zu antworten: „Wieso, waren wir beide da schon einmal?“. Aber er konnte es nicht. Träumte er denn nicht seit Wochen von ihr? Freute er sich nicht jeden Morgen aufs Neue, in die Schule zu gehen, weil er sie, ihr Gesicht dort sehen konnte? War er nicht seit Wochen in sie verliebt, heimlich, sah sie an, quer durch den Klassenraum, wenn er meinte, dass sie ihn nicht sah? Lag er nicht nachts schlaflos, weil er an sie dachte, und fieberte er nicht den ganzen Nachmittag, den Abend, die Nacht und den Morgen der Schule entgegen, fuhr ihm die Bahn nicht schnell genug, damit er in die Klasse zu ihr kam, um in ihrer Nähe zu sein, sie zu sehen? Und nun sprach sie ihn einfach an, ihn, Bruno. Und er lief weg.

      Die nächsten Tage träumte Bruno von dieser Ansprache, dann wieder verzweifelte er: Margarete „ging“ mit Hans-Hermann, einem Mitschüler aus der Stadt, der natürlich attraktiver, intelligenter und sportlicher war als ausgerechnet er, Bruno. Dem könnte er nie das Wasser reichen, er versuchte es nicht einmal. Und übrigens: man nahm einem Klassenkameraden nicht das Mädchen weg, das gehörte sich nicht, was sollten denn die anderen denken. Ganz unmerklich fand Bruno Begründungen dafür, sich Margarete nicht zu nähern.

      Der Geist der Zeit, der die Jungen seiner Generation bewegte, erleichterte ihm das Ausweichen: Musste das Mädchen, das ich einmal heirate, Jungfrau sein? Bruno, fromm und pietistisch kirchlich, wie er durch den Pfarrer in Neuburgheim war, legte sich zurecht, dass es dann natürlich auch verboten war, mit einem Mädchen zu gehen. Er brachte zwar die Diskussion um die Jungfräulichkeit nicht mit Margarete in Verbindung. Rein, keusch und himmlisch, wie Bruno sie sah, war sie ohnehin Jungfrau und würde es bleiben. Und so ging dieser Tag, gingen diese Tage vorüber, Tage, Wochen und Monate, ohne dass Bruno auch nur den geringsten Versuch machte, sich ihr zu nähern. Auch Margarete wiederholte ihren Versuch nicht, nachdem er fluchtartig weggelaufen war.

      19.

      Bruno dachte nun Tag und Nacht an Margarete, er wachte auf und hatte ein Gefühl, ihm sei etwas Wunderbares widerfahren, obwohl er nicht wusste, was es war. Und dann fiel sie ihm ein, Margarete, und er wusste, warum er glücklich war. Er konnte an ihr Gesicht denken, daran, wie sie ging und daran, dass er sie heute wiedersehen würde. Sein Herz brannte, aber es glühte nach innen, er sah keine Möglichkeit, ihr nahe zu kommen, um ihr seine Zuneigung zu gestehen. Er war ratlos und verbrannte, ohne sich bei anderen Rat suchen zu können. Seine Eltern fielen als Ratgeber aus, sie würden ihn wieder zurück stoßen, ihn auslachen. Aber auch sein Freund Hans kam als Gesprächspartner nicht in Betracht. Hatte er doch ihn, Bruno, auf ein anderes Mädchen aufmerksam gemacht, Lieselotte, die sehr schöne Beine hatte. Sie gingen bewusst, die beiden Freunde, hinter ihr die Treppe hinauf, damit sie von unten die Beine betrachten konnten, ziemlich hoch hinauf. Hans war begeistert und hatte in seiner spöttischen Art Lieselottes Beine mit den „dicken Beinen“ von Margarete verglichen. Also auch Hans nicht und andere kannte Bruno nicht näher.

      Und so spielte sich auch seine Leidenschaft für Margarete ebenso wie alles, was ihm wichtig war, im Innern ab, im Gegensatz zu dem äußeren Leben, das er führte. In der Schule hatte er sich erholt. Seine Leistungen waren jetzt befriedigend, so jedenfalls die Zeugnisse, und ganz langsam löste er sich auch von der Abgeschlossenheit des Elternhauses.

      In der Schule brachte ihm ein Deutschlehrer mit großem Verständnis die Literatur nahe: Bruno hat immer gelesen, viel, wahllos, und auch früh schwierige Bücher, Oscar Wildes Dorian Grey und den Tristam Shandy, daneben aber auch immer noch und immer wieder Karl May. Herr Lührsen, der Deutschlehrer, brachte ihn, er war mittlerweile in der 11. Klasse, zum ersten Mal mit Goethe in Kontakt, mit Thomas Mann, weniger begeisternd, mit Schiller. Goethe, besonders den Faust, dort besonders die Liebesgeschichte zwischen Faust und Gretchen, hatten es ihm besonders angetan, ebenso die Leiden des jungen Werther. War das nicht seine Liebe zu Margarete, die da beschrieben wird, fragte er sich verwundert, aber woher kannte Goethe das? Bis ihm aufging, dass es außerhalb seiner Existenz und seiner Zeit, noch andere Existenzen und Zeiten gegeben hat, die sein, Brunos, Erleben, zeitlos machen, ihm aber auch die Bedeutung des Einzigartigen nahmen.

      Und mit der Erkenntnis, dass er eben nicht einzigartig in seinen Erlebnissen war, wuchs in ihm die Neugier, was sonst in der Welt geschah. Herr Nordhausen, der Lehrer für Gemeinschaftskunde, war hier wegweisend für ihn. Er ermunterte seine Schüler, Zeitung zu lesen, sich zu informieren, ermunterte sie nicht nur, sondern fragte auch aktuelle Ereignisse der letzten Woche ab. Herr Nordhausen wurde von den Schülern für einen Tyrannen gehalten, er hatte braune Augen, die höhnisch blinzelten, wenn ein Schüler vor ihm stand und nicht gelernt hatte oder nicht wusste, was in der Welt geschehen war. Und so las Bruno mit neuem Interesse die Zeitungen. Von Vietnam, diesem winzigen Land weit hinten in Südostasien, las er, wie erst die Franzosen ihre ehemalige Kolonie verließen, wie die Amerikaner die „Lücke füllten“, wie sie und Herr Nordhausen das nannten, wie sie „den Vietcong“ bekämpften, die Guerillas, Kommunisten, wie Amerikaner und Herr Nordhausen nicht müde wurden, zu betonen.

      „Die Amerikaner müssen aus Vietnam heraus“, war die Meinung der Schüler in Bruno Klasse, aber da kamen sie schlecht an.

      „Die Kommunisten verfolgen die Salamitaktik“, dozierte der Lehrer, „erst Russland, dann China, dann Nordvietnam, dann Südvietnam, dann Laos, Kambodscha und so, nach kurzer Zeit, die ganze Welt.“

      Erschlagen und genervt schwiegen die Schüler, unter ihnen Bruno. Es war nicht gut, Lehrern, und schon gar nicht diesem Lehrer, zu widersprechen, und so sicher waren sie, die das Denken gerade erst lernten, auch nicht.

      Aber abends, nach der Schule, trafen sich die Schüler in Gruppen oder zu Klassenfesten und schärften in leidenschaftlichen Diskussionen ihren Verstand. Baudelaire lasen sie in kleinen Zirkeln, Villon, als Kontrast zu den in der Schule präsentierten Klassikern Goethe und Mann. Davon wusste Bruno noch nichts. Immer noch stockte ihm die Zunge, wenn er über Dinge reden sollte, die außerhalb des Alltäglichen lagen und er nicht spötteln konnte. Er las, und das war für ihn geradezu revolutionär, seit Neuestem den „Spiegel“, den sein Vater für linksradikal und kommunistisch hielt, den er aber seinem Sohn dennoch weder verbieten noch ausreden konnte. Langsam, ganz langsam lernte Bruno, was es außerhalb Neuburgheims und seiner Familie sonst noch gab. Großartig, drohend und bis an die Zähne mit Atomwaffen gerüstet, standen sich die beiden großen Ideologien der Zeit gegenüber, der Kommunismus und die „Marktwirtschaft“, von den anderen Kapitalismus genannt, Amerikaner und Russen, die „westliche Welt“ und die Barbaren. Wir lebten in der Marktwirtschaft, die Demokratie bedeutete Freiheit, in der jeder sagen konnte, was er wollte und reisen konnte, wohin er wollte. Und ging es uns nicht glänzend, hatten wir mit unserem System nicht ein blühendes Land aufgebaut? Leise Zweifel kamen auf: War nicht das Eigentum völlig ungerecht verteilt? Hatte nicht die Währungsreform, in der „jeder mit vierzig Mark angefangen hatte“, schon den Kern zu Ungerechtigkeiten gelegt, indem die einen nach wie vor Eigentum an Produktionsmitteln hatten, die anderen eben die vierzig Mark? Und bedeutete das Eigentum an Produktionsmitteln nicht Herrschaft über die, die arbeiteten? Aber weggefegt wurden diese Zweifel in der Welt Brunos. Die anderen, das waren Kommunisten, der Sowjet, der unser Land, unser Eigentum und unser Leben bedrohte. Und der Sowjet hatte eben auch die Auseinandersetzung in Vietnam begonnen.

      Bruno hatte übrigens wahrhaftig andere Sorgen. Er traf Margarete in den Zirkeln, in denen die Schüler diskutierten. Treffen seiner Freunde, zu denen sie kam, machten ihn besonders glücklich, konnte er sie doch an Nachmittagen ebenfalls sehen. Er