Friedrich von Bonin

Der Lauf der Zeit


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einem Schüler aus der oberen Klasse, besonders nett? Margarete, so träumte er Tag und Nacht, so träumte er nachmittags in seinem Zimmer im elterlichen Hause. Schularbeiten brauchte er kaum zu machen, wenn er um halb vier nach Hause gekommen und Mittag gegessen hatte, konnte er träumen und denken. Und wie viel hatte er zu denken! Am Ende der 11. Klasse, Bruno war jetzt achtzehn Jahre alt, hatte es ein Klassenfest gegeben. Bruno hatte sich einen Anzug angezogen und war mit Schlips und Kragen mit dem frisch erworbenen Führerschein und mit Vaters Auto in die Stadt zum Fest gefahren. Mitschüler führten Sketche auf, die in Mode waren und dann wurde getanzt. Irgendwann nahm Bruno all seinen Mut zusammen, zu sehr litt er unter seiner Liebe, stand auf, ging zum Platz von Margarete und forderte sie formell zum Tanzen auf. Und Margarete lehnte nicht ab, sie lächelte ihn freundlich an, sagte „Gern“, stand auf und sie tanzten! Bruno brachte kein Wort heraus. Selig schwebte er über die Tanzfläche, Margarete im Arm, und folgte den Rhythmen der Musik. Nachher führte er sie zum Tisch, wie er es gelernt hatte, verbeugte sich und schwebte an seinen Platz zurück. Später wusste Bruno nicht mehr, wie der Rest des Abends verlief, er wusste auch nicht, wie er und wann nach Hause gekommen war. Er wachte am nächsten Morgen auf, sein weißes Nyltesthemd, das er am Abend getragen hatte, an seine Nase gepresst: es atmete noch den schwachen Geruch von Margaretes Parfüm.

      Bruno hatte im großen Elternhaus jetzt ein Zimmer für sich. Karg war es eingerichtet, nüchtern bis zur Lieblosigkeit, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl davor, ein Bücherregal und daneben ein Sessel. An der Lehne eine Klemmleuchte. Bilder gab es keine, schon gar nicht Pflanzen, nichts, was den kahlen Raum verschönert hätte. Auf dem Sessel wurden alle seine Phantasien Wirklichkeit. Hier träumte er von Margarete, hier las er, bis ihn die Müdigkeit übermannte. Seine Verweigerung des Abendessens hatte Erfolg gehabt. Bei gleich bleibendem Gewicht war Bruno in einem Jahr zwanzig Zentimeter gewachsen, war jetzt ein schlanker, großer Jüngling, mit gerader Nase, vollen Lippen, dunkelbraunem Haar und hoher Stirn. Finster blickte er zumeist in seine Umgebung, nur selten lachte er oder lächelte auch nur. Wenn er aber lachte, strahlten seine Augen in einem hellen Glanz, sein ganzes Gesicht war Licht. Er fand sich aber immer noch zu dick, er betrachtete mit Misstrauen seinen Körper, war hier nicht noch etwas zu viel Fett und da nicht auch? Bestärkt wurde sein Gefühl von seinen Kameraden, die ihn immer noch „Dicker“ nannten.

      20.

      Bruno erinnerte sich genau, wie er sich täglich gefragt hatte, wann er Margarete wieder so nah sein oder wenigstens mit ihr sprechen konnte. Ein Tag, an dem sie ihn ansprach, war ein guter Tag, wenn er auch noch passabel geantwortet hatte, war das noch besser, ein Moment, von dem er tagelang zehrte. Er hätte in den Pausen sich ihr nähern können, in den großen Pausen mussten sie alle auf den Schulhof gehen, ob es auch regnete und schneite. Die Kleinen tobten dort herum, die Großen, zu denen Unterprimaner allemal zählten, gingen in kleinen Gruppen und Grüppchen auf dem Schulhof auf und ab. Natürlich hätte Bruno zu Margarete gehen und ihr seine Begleitung antragen können, aber was würde sein Schulfreund Hans dazu sagen Außerdem würde Heike, mit der Margarete jede Pause verbrachte, ja nicht weggehen, man müsste also zwei Mädchen fragen. Außerdem, was hätte er sagen sollen? Bruno nahm die Bedeutung von Worten sehr genau, lieber verzichtete er auf den Gebrauch eines Wortes, als dass er in Kauf nahm, dass es nicht genau das traf, was er hatte sagen wollen. Ein Satz wie „ich liebe dich“ war für ihn nicht auszusprechen, nie, unter keinen Umständen, nicht einmal Margarete gegenüber, denn, war er sich seiner Sache sicher? Wie konnte er sich sicher sein, dass es Liebe war, die er empfand? Er schwieg und Schweigen war tatsächlich das ihm angemessene Verhalten, obschon er schmerzlich das Unpassende des Schweigens empfand, zumal, wenn er in der Nähe von Margarete war, der er gerne mit Eloquenz imponiert hätte. Nein, Margarete in der Pause einfach ansprechen und mit ihr über den Schulhof gehen, das ging nicht. Aber wie sollte es weitergehen?

      Wie konnte er wieder eine Situation herbeiführen, in der er Margarete näher begegnen, vielleicht sie wieder zum Tanzen auffordern konnte? Bruno war mittlerweile in der Klasse, mit der er dem Abitur zustrebte, integriert, hielt mit allen gute Kameradschaft, war beliebt. So fiel sein Vorschlag, man könne doch häufiger Klassenfeste feiern, auf fruchtbaren Boden. Alle zwei Monate trafen sie sich jetzt zum Tanzen. Bruno war nie ein Liebhaber moderner Musik gewesen, jetzt begann er sie zu schätzen: Wild oder ganz langsam tanzte er mit Margarete zu den Rolling Stones mit Satisfaction, Beatles mit Sergeant Pepper, immer wieder, für Bruno am liebsten ohne Pause, schnell, langsam und an irgend einem Abend, nach irgend einem wilden Tanz mit ihr, legte jemand sehr langsame, sehr sanfte Musik auf. Er hielt Margarete am Arm, mit Abstand, wie sie immer wieder und wieder getanzt hatten und da kam sie auf ihn zu, legte ihre Arme um seinen Hals, tanzte Körper an Körper mit ihm. Er drückte sie fest an sich, ohne dass ein Wort fiel, so tanzten sie, den ganzen Abend, immer unterbrochen von schnellen, wilden Tänzen, in denen sie sich widerwillig voneinander lösten und nach denen sie wieder in ihre Umarmung zurückkehrten. Der Himmel stand Bruno offen.

      Irgendwann war der Abend vorbei. „Darf ich dich nach Hause bringen?“, war der erste Satz, den er leise zu ihr sagte und sie nickte. Im Auto saß sie neben ihm, er war sich ihrer Anwesenheit, wie den ganzen Abend, auch hier mit schmerzlicher Intensität bewusst. Fahrend legte er den Arm um sie. „Margarete“, begann er und wollte ihr nun seine tiefe Liebe gestehen. „Nein, bitte, sieh auf die Straße und halte beide Hände am Lenkrad, ich habe sonst Angst.“ Er nahm den Arm zurück, nahm innerlich auch das „Margarete“ zurück und fuhr sie nach Hause. Dort angekommen, stellte er den Motor ab. Sie saßen nebeneinander, er hörte sie atmen, bemerkte ihr Zögern und traute sich nicht, noch einmal anzufangen, das „Margarete“ gleichsam wieder aufzunehmen. Sie wartete und, nachdem auch sie nur sein Atmen hörte und er sich ihr nicht näherte, flüsterte „Gute Nacht“, stieg aus und verschwand im Haus, nicht ohne sich an der Tür um zudrehen und ihm zuzuwinken.

      Bruno fuhr nach Hause und verbrachte eine weitere Nacht mit seinem Nyltesthemd, das diesmal viel stärker ihr Parfüm ausströmte.

      21.

      Eines Nachmittags saß er zu Hause, die Schularbeiten waren gemacht, er hatte gelesen, Thomas Mann war sein neuester Favorit, nun sehnte er sich, Margarete wiederzusehen. Vorsichtig fragte er bei seinem Vater an, ob dieser das kleine Auto, einen Opel Kadett, heute Abend brauche. „Nein, brauche ich nicht“, antwortete der Vater, „aber du kennst ja die Konditionen. Fünf Pfennig pro Kilometer ziehe ich dir vom Taschengeld ab.“ Zitternd ging Bruno zum Telefon, verzagt, in sich die Frage: Soll ich oder soll ich nicht? Er griff zum Telefon, wählte die Nummer in Hermstadt, die er längst auswendig wusste, obwohl er sie noch nie gewählt hatte, und hoffte, dass sie abnahm, und nicht die Eltern. Erleichtert atmete er auf, als er ihre Stimme hörte, die reine Altstimme „Ja? Hier Margarete Leuchtenfeld?“ „Bruno ist hier“, zögernd und schwankend zwischen Hitze und Kälte, Schüchternheit und Draufgängertum. „Bruno, wie schön, was möchtest Du?“ „Ich hatte gedacht, wir könnten heute Abend tanzen gehen, in den Club, wir beide.“ Sie zögerte. „Ja, ich überlege, doch, das geht, soll ich nicht Anna anrufen und Karl, dann gehen wir zu viert?“ Mit Anna redete Bruno sehr gern, Anna war mit Karl befreundet, wie Bruno vom Land stammend, der aber häufig in der Stadt war, um Anna zu besuchen. Bruno wäre gern auch mit Margarete allein gegangen, aber mit Anna und Karl war er einverstanden, Hauptsache, Margarete ging mit. „Ich hole Dich um ½ acht ab. Sagst Du Anna Bescheid?“ „Ja, ich erwarte Dich.“

      Hoch klopfte das Herz Brunos, als er los fuhr, es klopfte immer noch, als er bei ihr klingelte und sie öffnete und er ihr Gesicht sah, das ihn anstrahlte, mit ihren Augen, mit ihrem Mund und er sehen konnte, dass sie sich freute.

      Sie tanzten. Bruno hatte sich daran gewöhnt, sie eng an sich zu ziehen und er war glücklich mit ihr, ohne zu reden. „Hast Du mich denn ein bisschen gern?“ fragte sie ihn und riss ihn damit aus seinen Träumen. Er hatte von ihr geträumt, die er doch in den Armen hielt. Ja, er hatte sie gern, und mehr als nur ein bisschen? Nein, er hatte sie nicht gern, er liebte sie doch, mit seinem ganzen Herzen und mit der ganzen Seele, er schrie nach ihr. Aber traf das Wort Liebe den Kern? Durfte man, durfte er, Bruno, ihr so etwas sagen, mit diesem Wort, rein, hehr, keusch, war er dieses Wortes und dieses Gefühls würdig? Wie sollte er ihrer würdig sein, was tun, um ihr zu zeigen, wie tief seine Gefühle für sie gingen? Er konnte das nicht. „Wie soll ich Dir das denn beweisen?“, fragte er, fast barsch, und „gar