Friedrich von Bonin

Der Lauf der Zeit


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in den Lkw, einen Mercedes mit ganz langer Schnauze, mit Anhänger und Plane, und sie fuhren los. Auf diese Weise nach Ibbenbüren, Bruno wusste nicht, was sie da holten, nach Lengerich, da holten sie Zement. Immer ging es am Rande des Teutoburger Waldes entlang und sogar hinein. Sie waren den ganzen Tag unterwegs.

      Wie sollte Bruno da nicht Sachverständiger sein. Auf dem Hof der Gaststätte Gruber machten viele Lkw-Fahrer Pause, darunter manchmal Holländer, und Bruno stellte sich zu ihnen und träumte davon, einer von ihnen zu sein oder mindestens zu werden.

      Bei Gruber war noch mehr los. Immer sonntags, um halb zehn, kamen die Kutschen angefahren, von zwei, manchmal vier Pferden gezogen, schwarze, weich gefederte, geschlossene Kutschen, innen luxuriös gepolstert, gefahren von Kutschern, die bäuerlich gekleidet waren. Die Ankunft einer Kutsche kündigte sich durch den Hufschlag der Pferde auf dem Kopfsteinpflaster und durch das Rollen der Räder an. Hielten die Kutschen, entstiegen ihnen die Großbauern aus der Umgebung, die in ihren schwarzen Anzügen zur Kirche gingen, und zwar zur reformierten. Ernst, schwer und im Bewusstsein ihrer Würde verließen sie ihre Wagen und wandelten würdig zur Kirche, und zwar Sonntag für Sonntag, indes die Kutscher die Pferde abspannten und in der Remise bei Gruber unterstellten. Je älter Bruno wurde, desto öfter folgte er ihnen in die Kirche und zum Gottesdienst. Sie fasste ungefähr 400 Menschen und war jeden Sonntag bis auf den letzten Platz gefüllt, die Männer links von der Kanzel, die Frauen rechts davon, die nicht konfirmierten Kinder bei den Frauen. Hier hielt Pastor Ammermeier jeden Sonntag seine Predigt, ein donnernder Redner, der den Zuhörern die Lehren Jeremias, Jesajas, Amos und all der anderen finsteren Propheten des Alten Testaments um die Ohren schlug, der aber weder mit Text noch mit finsteren Drohungen noch mit Lautstärke verhindern konnte, dass die Besucher, von der harten Arbeit der Woche ermüdet, im warmen, von Menschendunst erfüllten Kirchenschiff den Kampf mit dem süßen Schlaf verloren. Besonders erbittert war der Pfarrer, dass auch die Kirchenältesten, auf Ehrenplätzen für alle sichtbar, den Verlockungen des Schlafes an den meisten Sonntagen nicht widerstehen konnten.

      Nach der Kirche und dem Segen traf man sich auf dem Kirchplatz, wo wichtige Landgeschäfte mit Handschlag abgeschlossen, Schweinepreise diskutiert und gegenseitige Besuche verabredet wurden.

      Das war Brunos Welt in dieser Zeit. Immer kam er von seinen Erlebnissen nach Hause zu seinen Eltern, zu seinen Geschwistern, in eine vertraute Welt.

      7.

      Bruno stand, achtjährig, vor dem Verkaufstresen des Lebensmittelgeschäftes, hinter dem die Besitzerin, Frau Koopmann, bediente. Gleich würde er dran sein, würde Frau Koopmann ihn nach seinen Wünschen fragen. Bruno hielt in der kleinen verschwitzten Hand den Einkaufszettel, den seine Mutter ihm mit gegeben hatte. Bruno fühlte, wie der Kloß in seinem Hals immer größer wurde, und jetzt richtete sich der Blick der Besitzerin auf ihn.

      „Nun, Bruno, was solls denn heute sein, “ fragte sie nicht unfreundlich.

      „Ein Kilo Weizenmehl,“ las Bruno den ersten Posten auf der Liste vor und Frau Koopmann wendete sich zu der großen Schrankanlage hinter ihrem Rücken und füllte aus einer Schublade ein Kilo ab, stellte die Tüte auf den Tresen und fragte nach den nächsten Wünschen. Eine lange Liste hatte seine Mutter ihm mitgegeben, hinter ihm sammelten sich neu hinzugekommene Kunden, die Schlange wurde immer größer und der Kloß in Brunos Hals immer dicker.

      „Sonst noch was?“ fragte Frau Koopmann hinter den Tüten auf dem Tresen und sah Bruno an.

      „Nein danke“, presste er hervor und Frau Koopmann begann mit ihrem Bleistift auf einem Block zu rechen.

      „Dreiundzwanzig Mark sechzig“, sagte sie dann und sah ihn an.

      „Anschreiben lassen“, Bruno bemühte sich, seiner Stimme einen tiefen Klang zu geben, das gelang ihm aber nicht, stattdessen wurde sie noch piepsiger als zuvor.

      Und dann kam, was er befürchtet hatte, seit die Mutter ihn zum Einkaufen losgeschickt hatte.

      „Hör mal, Bruno, das geht aber nicht so weiter, weißt du eigentlich, wie viel ich schon angeschrieben habe?“ fragte Frau Koopmann ihn mit energischer Stimme, „hier stehen schon über hundert Mark, wann will deine Mutter das denn eigentlich alles bezahlen?“

      Am liebsten hätte Bruno sie gebeten, leiser zu sprechen, damit die wartenden Kunden nicht mitbekamen, dass er kein Geld hatte, um zu bezahlen, aber das ging wohl nicht an. Er zuckte die Schultern, den Tränen nahe.

      „Ich weiß nicht, meine Mutter hat gesagt, ich soll anschreiben lassen“, flüsterte er heiser und verstummte.

      „Na gut, diesmal noch, aber sag deiner Mutter einen schönen Gruß, das geht nicht mehr so weiter,“ und Frau Koopmann packte die Tüten in die Tasche, die er ihr zum Tresen hochreichte, und mit hochrotem Kopf ging Bruno aus dem Laden, froh, dass Frau Koopmann diesmal nur geschimpft, aber nicht die Waren wieder zurückgestellt hatte, so dass er mit leerer Tasche aus dem Laden hätte gehen müssen.

      Seit sie nicht mehr in der Nissenhütte wohnten, waren sie dem Dorf näher gerückt. In der Hütte war die Familie unter sich, Bruno kannte kein anderes Leben als das in der Familie. Erst als sie in das Dorf zogen, kam er mit den anderen Menschen in Berührung wie mit Frau Koopmann und ihren Kunden. Bruno merkte, sie waren arm, bettelarm.

      Nicht nur, dass er bei Frau Koopmann das gefürchtete „anschreiben lassen“ aussprechen musste, Bruno hatte nie neue Sachen, keine Hosen, keine Schuhe, keine Hemden. Immer musste er die Sachen von seiner Schwester Hanna auftragen, „Mädchensachen“ wie er nicht nur einmal in der Schule gehänselt wurde. Am Anfang, als es nur zwei Klassen gab, fiel das nicht so auf, die Bauernkinder waren nicht besser angezogen. Später, in der neuen Schule, gewannen allmählich die Bürgerkinder die Überzahl. Die Bauern gingen nach wie vor ärmlich gekleidet, aber zu denen gehörte Bruno ja nicht. Er gehörte zu den Flüchtlingen, gekleidet war er aber wie ein Bauernkind.

      Am schlimmsten waren aber die Kaufleute wie Frau Koopmann, die er hasste, übrigens auch Frau Harmsen, die Fleischersfrau oder Herrn Gerdes, den Inhaber von Kaiser´s Kaffee, wo er auch „anschreiben lassen“ sagen musste.

      Ging nichts mehr, war überall die Liste der Schulden zu lang, musste er zu Fransen. Hier kaufte man nicht gerne ein, der war katholisch. Und außerdem hatte er, beklagte sich die Mutter, nichts Frisches. Herr Fransen hatte eine ruhige, besonnene Art, die Sachen wieder wegzupacken, wenn er nicht anschreiben wollte. Meistens wollte er aber, dann schrieb er auf, ohne aber Bruno zu demütigen. Bruno fand Katholische nicht so schlimm, Herrn Fransen jedenfalls nicht.

      8.

      Je älter Bruno wurde, desto mehr veränderten sich seine Freundschaften. Immer weniger ließ er sich bei dem Bauern Hinners sehen. Der Alte war gestorben und die Söhne hatten wenig Zeit für die Kinder.

      Dafür gab es andere Bekanntschaften. Da war zum einen Dieter. Dieter war auch ein Flüchtlingsjunge, seine Eltern allerdings nicht arm wie Brunos Eltern. Der Vater arbeitete bei der Wohlmann AG, einer Ölförderfirma, bei der die meisten Flüchtlinge Arbeit gefunden hatten und gutes Geld verdienten. Dieter war immer gut gekleidet, er redete die gleiche Sprache wie Bruno und seine Eltern. Dieter war so, wie Bruno gerne sein wollte. Nur teilte er die Freundschaft nicht, die Bruno ihm entgegen brachte. Er verschwand nach einem Jahr, Bruno hörte die Lehrerin sagen, sein Vater sei „versetzt“ worden, in einen anderen Ort.

      Im Norden des Hauses, in dem Bruno wohnte, hatte sich zum Dorf hin eine kleine Siedlung gebildet. Dort zog eine Familie Klanders mit ihrem Sohn Karl ein, der ein Jahr älter als Bruno war und den Bruno und seine Brüder Kalle nannten. Kalle war ein Freund der drei Brüder, nicht unbedingt ein Freund von Bruno. Die Unterscheidung war deshalb von Bedeutung, weil sich unter den drei Brüdern ein wechselndes Verhältnis entwickelte. Bruno war der Älteste und hätte auch der Stärkste sein sollen. Nach ihm kam Malte, nur ein Jahr jünger und fast gleichstark, aber was Malte schwächer war, machte er durch größeren Mut wett: Er kletterte auf die höchsten Bäume, übersprang die weitesten Gräben. Bruno gab sich natürlich mutiger. Ohne den Ansporn seines jüngeren Bruders hätte er viele Abenteuer nicht auf sich genommen.

      Hendrik, der Jüngste, hatte gegen Malte keine Chance und gegen