Manfred Rehor

Gerrit aus Neukölln


Скачать книгу

war er sich nicht. Jedenfalls alt genug, um Geld zu verdienen. Es sollte in Deutschland eine Kleinigkeit sein, die paar tausend Dollar zusammenzubekommen. Jedenfalls redet sich Jürgen das ein. Vor allem, wenn der Junge auch nur ein wenig vom Geschäftssinn seines Vaters geerbt hatte. In Euro war es ja sogar noch weniger, weil der Kurs so gut stand.

      Kein Problem also, eigentlich. Hoffentlich parierte Gerrit. Schließlich hatte Jürgen ihm regelmäßig Briefe geschrieben, um ihn sich warmzuhalten. Als Rückversicherung für genau solche Fälle.

      Als Jürgen Klein sein schmuddeliges Hotel erreichte, war er schon wieder zuversichtlich. Würde schon alles klappen, hatte ja immer geklappt!

      Gerrit fühlte sich wieder sicher, nachdem er eine Weile unbehelligt geblieben war. Unten an der nächsten Kreuzung entdeckte er noch eine Kneipe. Neuköllner Eck nannte sie sich. Sie unterschied sich von außen nicht von allen anderen Kneipen in den einfachen Wohnbezirken Berlins. Trotzdem war Vorsicht angebracht, wie das Erlebnis in dem Nachtklub eben wieder gezeigt hatte. In einer Studentenkneipe musste man anders vorgehen, als in einer normalen Kiezkneipe. Und wenn man als Sechzehnjähriger nachts eine Schwulenbar betrat, dann war es besser, man war darauf vorbereitet.

      Gerrit öffnete die Kneipentür nur einen Spalt weit und warf einen Blick in den Schankraum. Schlechte Luft, gesättigt von Zigarettenqualm, kam ihm entgegen. Eine Stereoanlage spielte Volksmusik. Nur noch an wenigen Tischen saßen Gäste. Es waren ältere Männer, von denen vermutlich keiner mehr nüchtern war. Einige brüteten schweigend über ihr Glas Bier gebeugt vor sich hin. Andere stritten lautstark über Skatregeln.

      Nicht die Kundschaft, die Gerrit suchte, aber er durfte nicht wählerisch sein. Er drückte die Tür ganz auf und ging hinein.

      Der kahlköpfige Wirt spülte Gläser. Er machte ein grimmiges Gesicht, sagte aber nichts. Gerrit würde ihn im Auge behalten. Nun galt es herauszufinden, was hier am einfachsten loszuschlagen war: ein Handy, eine Digitalkamera, ein MP3-Player oder etwas Anderes.

      An einem Ecktisch saßen zwei Männer und redeten über Fußball. Einer rauchte und trank Bier. Der andere hatte drei leere Schnapsgläser und ein volles vor sich stehen. Gerrit ging zu ihrem Tisch und hörte zu.

      „... und dann das Tor, wa!“

      „Hertha ist für mich die Nummer eins.“

      „Wollja. Immer gewesen. Prost.“

      Das waren ideale Opfer: betrunken, gut gelaunt, gelangweilt. Sie diskutierten weiter über das letzte Spiel, das Hertha BSC mit viel Glück für sich entscheiden konnte. Gerrit hatte in seiner Sporttasche genau das Richtige für sie. Aber nun galt es, sich keinesfalls aufzudrängen. Also blieb er einfach wie absichtslos in ihrer Nähe stehen.

      Es dauerte eine Weile, bis die Männer ihn bemerkten. „Wat willste denn, Kleiner?“

      „Ich bin auch Hertha-Fan“, behauptete Gerrit. Stimmte zwar nicht, aber wer verkaufen will, muss seinen Kunden nach dem Mund reden. Das hatte er schnell gelernt auf seinen nächtlichen Touren.

      „Recht so. Ist aber kein Grund, hier Wurzeln zu schlagen.“

      „Ich habe da ein Problem: Weil ich Geld brauche, muss ich mein Handy verkaufen.“ Gerrit öffnete seine Tasche. Hoffentlich achteten die Männer nicht auf das Bayern-München-Logo, das auf ihr prangte. Er nahm ein Handy heraus, das eine Oberschale in den Vereinsfarben von Hertha BSC hatte. „Toll, was?“

      „Geiles Teil“, gab der Biertrinker zu. „Soll‘n das kosten?“

      „Achtzig. Sind noch zehn Euro Guthaben drauf.“

      „Achtzig? Da müsste ich ja erst einen Kredit beantragen.“

      Sein Kumpel trank das Schnapsglas leer und mischte sich ein: „Vorsicht, das riecht nach Betrug! Ist das wirklich dein Handy, Junge?“

      „Ich schwöre!“ Auch das gehörte zum Geschäft. Ein Schwur wirkte besonders bei Ausländern, aber auch Deutsche nahmen einen dann ernster. Gerrit schaltete das Handy ein und hielt es dem Biertrinker hin.

      Die Skatspieler am Nachbartisch hatten ihren Streit beigelegt und sich auf einen Gewinner geeinigt. Sie standen auf und kamen heran, um zu sehen, was los war.

      Der Biertrinker nahm das Gerät und drehte es unschlüssig hin und her. „Eigentlich habe ich schon ein Handy“, sagte er.

      „Probieren Sie es doch mal aus“, ermunterte ihn Gerrit. „Vielleicht können Sie jemanden ärgern, wenn Sie ihn jetzt in der Nacht anrufen.“

      „Jau! Ich weiß, was ich mache!“, rief der Mann und sein Gesicht leuchtete auf. „Ich rufe meine Alte an, die schläft bestimmt schon.“ Er tippte eine Nummer ein und wartete. Dann säuselte er mit verstellter Stimme ins Handy: „Guten Abend, gnädige Frau. Ich würde gerne Ihren Herrn Gemahl sprechen. ... Wie bitte?“ Er schaltete das Handy ab, bevor er mit normaler Stimme fortfuhr: „Sie sagt, ich sei saufen, und ich soll morgen wieder anrufen.“

      Die ganze Runde lachte. Gerrit lachte mit, denn bei guter Stimmung war ein Verkaufserfolg fast garantiert.

      Der Schnapstrinker griff nach dem Handy. „Mal sehen, was meine Olle sagt.“ Er wählte und wartete. Offenbar meldete sich seine Frau nicht.

      „Ja, wo isse denn?“, lästerte einer der Skatspieler. „Sitzt wohl nicht zu Hause und wartet auf Männe, wa?“

      Das Gelächter der Männer dröhnte durch die Kneipe, dass Gerrit die Ohren schmerzten.

      Ein paar Minuten später war das Geschäft besiegelt. Der Biertrinker zählte drei Zehn-Euro-Scheine auf den Tisch. Der Schnapstrinker legte einen Zwanziger drauf. „Fünfzig. Mehr wird es nicht“, sagte er.

      „Geht in Ordnung.“ Schnell griff sich Gerrit das Geld und steckte es in seine Sporttasche. „Schönen Abend noch.“

      Er warf noch einmal dem Wirt einen Blick zu. Der spülte weiter Gläser und interessierte sich nicht für ihn. Vermutlich war es dem gerade Recht, seine Gäste in guter Laune noch eine Weile hier zu behalten. Das ginge nicht, wenn er sie vor der Hehlerware warnte oder gar die Polizei rief.

      Draußen auf der Straße sah Gerrit sich um. Niemand in der Nähe. Wahrscheinlich hatten die Verfolger aufgegeben. Umso besser. Das eben in der Kneipe war so gut gelaufen, da konnte er jetzt nicht aufhören. Am nächsten Straßeneck, zweihundert Meter weiter, war wieder ein Lokal. Gerrit machte sich auf den Weg.

      Das Schild neben dem Eingang verhieß Dart, Billard und Sportfernsehen. Es war vermutlich wieder eine ganz normale Eckkneipe. Gerrit rüttelte an der Tür. Verschlossen. Enttäuscht wandte er sich ab - und sah drei Jugendliche vor sich stehen, etwas älter als er. Seine Verfolger hatten ihm hier aufgelauert. Sie hatten ihn dabei beobachtet, wie er von Kneipe zu Kneipe zog. Also verfolgten sie ihn nicht weiter, sondern passten ihn hier ab.

      Gerrit verschwendete keine Zeit mit Fragen. Er gab dem ihm nächststehenden Jungen einen Stoß und rannte an ihm vorbei. Gerrit war sich seiner Vorteile bewusst: Er war klein, leicht und vom Typ her ein Sprinter.

      Aber er hatte die Tasche bei sich, die ihn behinderte, und er war morgens um drei nicht mehr topfit. Als sich jemand von hinten gegen ihn warf, wusste er, dass er verloren hatte, und ließ sich fallen. Er war unbewaffnet, aus Prinzip und weil er sich vor Waffen fürchtete. Blieb nur die Frage, ob seine Gegner das respektierten.

      Die Jungs gingen schnell und geschickt vor. Zwei knieten sich auf Gerrit und drückten ihn auf den Asphalt, was ihm höllisch weh tat. Der dritte öffnete die Sporttasche. Das Gesicht dieses Jungen konnte Gerrit nicht erkennen. Es war unter einem Schal oder Tuch versteckt.

      „Ist noch etwas drin“, stellte dieser Junge fest. Seine Stimme hatte einen Akzent, den Gerrit nicht zuordnen konnte. „Sogar Geld. Macht ihn fertig.“

      „Sollen wir nicht erst herausbekommen, wer er ist?“, wollte einer von denen wissen, die Gerrit am Boden hielten.

      „Uninteressant“, sagte der Anführer.

      Gerrit bekam von ihm einen Tritt in die Seite. Eigentlich konnte er jetzt nur