Manfred Rehor

Gerrit aus Neukölln


Скачать книгу

mit seinen geringen Sprachkenntnissen war er dort verloren. Er war auf jemanden angewiesen, der ihn verstand. Leider überstiegen die Kosten eines Hotelzimmers auf Dauer seine finanziellen Möglichkeiten.

      „Das Geld kommt in den nächsten Tagen“, behauptete Jürgen möglichst zuversichtlich. „Mein Sohn überweist es. Sie wissen ja, Gerrit aus Berlin. Hat einen tollen Job dort und unterstützt mich, bis meine Geschäfte hier besser laufen.“ Diese Versprechungen hatte er dem Thailänder schon oft gemacht. Manchmal kam auch etwas von Gerrit. Dann wurde ein Teil der Schulden abgetragen, um nicht aus dem Hotel zu fliegen.

      Rayankoon nickte. „Acht Wochen sind noch offen. Meine Frau jammert, wenn sie die Buchhaltung macht, weil Sie nicht zahlen. Und mein Hotel verursacht Kosten, Kosten, Kosten. Wenn Sie bis Ende des Monats nicht alles bezahlt haben, müssen Sie ausziehen.“

      „Klar, ich habe verstanden“, sagte Jürgen begütigend. „Ich werde meinem Jungen Bescheid sagen. Er soll mir mehr als üblich schicken. Dann regeln wir das. Außerdem sollten Sie eines nicht vergessen: Ein Teil meiner Kunden wohnt in diesem Hotel. Da verdienen Sie doch auch daran.“

      „Deutsche sind ehrliche Leute“, behauptete der Thailänder, während er zur Tür ging. „Zahlen immer ihre Rechnung. Nur deshalb lasse ich Sie überhaupt noch hier wohnen.“

      „Ja, wir sind zuverlässig und ehrlich, ganz bestimmt. Ich bezahle.“ Jürgen schloss die Tür hinter ihm. Ein Glück, dass der Kerl so sentimental an seine Zeit in Deutschland zurückdachte.

      Aber Gerrit wurde langsam zu einem Problem. Warum schickte der Bengel nicht mehr Geld? Jürgen Klein hielt nicht viel von seinem Sohn, dazu kam Gerrit viel zu sehr nach seiner Mutter. Gerrit hat einfach nicht meinen Geschäftssinn, dachte Jürgen. Manchmal hatte er sogar den Verdacht, Gerrit sei gar nicht sein Sohn. Einer so gefühlsduseligen Frau wie Rosa war schließlich auch ein Seitensprung zuzutrauen.

      In solchen Situationen wie heute, wenn Jürgen völlig von Gerrit abhängig war, hasste er ihn geradezu. Irgendwann würde er ihn nicht mehr brauchen. Dann würde er ihn genauso eiskalt stehenlassen, wie er es bei Rosa getan hatte. Dieser Typ Mensch war einfach unbrauchbar.

      Aber noch benötigte er Gerrits Unterstützung, noch musste er sich den Jungen warmhalten. Deshalb hatte er auch den Brief, der jetzt unterwegs war, mit besonderer Sorgfalt formuliert. Der hatte hoffentlich die gewünschte Wirkung.

      Wie ein Gauner in einem Polizistenhaushalt fühlte sich Gerrit, seit Mickey sich an seine Mutter herangemacht hatte. Völlig fehl am Platz also. Und wenn sie sich so ausgiebig abknutschten, dann sowieso. Jetzt galt es, Mickeys Schikanen und dem täglichen Streit beim Frühstück zu entgehen.

      Gerrit drängte zwischen den beiden durch in die Wohnung hinein und ging ins Badezimmer. Er zog seine dreckigen Klamotten aus, ließ sie fallen, wo er stand, und wusch sich Hände und Gesicht. Jede Bewegung tat ihm weh, aber damit konnte er sich abfinden.

      In der Ecke des Badezimmers lagen Mickeys Kurzhanteln. Gerrit griff danach. Er wollte sich selbst beweisen, dass er trotz der Missgeschicke dieser Nacht ein echter Kerl war. Aber Mickey hatte neue Gewichte aufgeschraubt. Gerrit kippte fast vornüber und musste die Hanteln wieder auf die dicke Matte fallen lassen. Das gab ihm den Rest. Niedergeschlagen verließ er das Bad.

      Jetzt schnell ins eigene Zimmer gehen und sich einschließen. Das war eine lächerliche Verhaltensweise, dessen war sich Gerrit bewusst. Als Kind hatte er sich so vor den seltenen Schimpfereien seiner Mutter in Sicherheit gebracht. Und vor ihren viel häufigeren Weinanfällen. Wenn seine Mutter heulte, empfand er das immer auch als Angriff auf sich. So, als hätte ausgerechnet er die Schuld an allem Elend dieser Welt.

      Im Flur fing ihn seine Mutter ab. Gerrit spürte natürlich seine Schürfwunden im Gesicht und am Körper und die blauen Flecke. Er hatte sie auch im Spiegel gesehen. Aber nun fielen sie seiner Mutter auf. Sie entdeckte sogar Blut auf seinen Armen.

      Sie schrie nur ein Wort: „Mickey!“

      Gerrit wollte kehrt machen, aber Rosa hielt ihn fest. Mickey kam, ebenfalls nur in Unterhosen, aus dem Schlafzimmer. Er warf einen abschätzigen Blick auf Gerrit und ließ seine Muskeln spielen, die er reichlich besaß. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung, wie er sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit anbrachte. Besonders wenn es um Gerrit ging. „Das sind nur ein paar Kratzer“, behauptete er.

      Durch die offene Tür sah er Gerrits Kleider im Bad auf dem Boden liegen. Er hob sie auf und zeigte sie mit gerümpfter Nase Rosa: „Stinken nach Kneipe. Aber wie!“ Er warf sie zielsicher in den Wäschekorb. Dann nahm er mit einer lässigen Bewegung die Kurzhanteln hoch, als wären sie gewichtslos. Er trug sie hinüber ins Schlafzimmer.

      Das ärgerte Gerrit so, dass er fassungslos im Flur stehenblieb und die offene Schlafzimmertür anstarrte.

      Rosa holte derweil aus dem Arzneischränkchen Jodsalbe und Verbandsmaterial. Sie kniete sich neben Gerrit auf den Boden und begann, ihn wie in kleines Kind mit Pflastern zu bekleben. „Das tut nicht weh“, versicherte sie. „Und jetzt erzähle Mama, was passiert ist.“

      „Nichts!“, entgegnete Gerrit. „Ich gehe jetzt schlafen.“

      „Keine Chance“, rief Mickey aus dem Schlafzimmer. „Es ist schon nach sechs. Wir machen Frühstück und dann gehst du zu deinem Praktikum. Die werden staunen, wenn du mal morgens der Erste bist.“

      „Keine Lust.“

      „Dann erst recht!“ Mickey schloss die Schlafzimmertür. Deshalb hörte er nicht mehr, wie Gerrit ihn einen Scheißbullen nannte.

      Als wäre das noch nicht genug, hatte Gerrit nun auch noch das todtraurige Gesicht seiner Mutter zu ertragen. Sie sah ihn schweigend an und ging dann in die Küche. Es war nicht auszuhalten! Das ganze Leben bestand nur aus Vorwürfen gegen ihn.

      Dabei fiel Gerrit noch jemand ein, der ihn bald sehr böse ansehen würde: Ahmed, dem er den Verlust der Ware und des Geldes erklären musste. Gab es überhaupt etwas, für das es sich zu leben lohnte? Ja, eindeutig: seinen Vater und Janine. Durch diesen Gedanken getröstet ging Gerrit in sein Zimmer und suchte sich saubere Klamotten zusammen.

      Das Frühstück begann wie erwartet ungemütlich. Der Ärger und der Frust wühlten noch in Gerrit. Da er seine Gefühle nicht an seiner Mutter auslassen wollte, lästerte er über Mickeys Appetit. Dann rümpfte er über den spärlich gedeckten Frühstückstisch die Nase. Brot, Margarine und ein fast leeres Marmeladenglas waren das ganze Angebot. „Keine Flakes?“, murrte er, während er sich Kaffee einschenkte. „Das wird jeden Tag weniger. Der Bulle frisst mehr als wir beide zusammen.“

      Mickey setzte zu einer Antwort an, aber ein Blick von Rosa verschloss ihm wieder den Mund.

      „Mickey isst nur wenig, er will fit bleiben“, sagte sie zu Gerrit. Dabei legte sie Mickey beruhigend die Hand auf den Unterarm. „Außerdem meint er es doch gut mit dir. Er hat dir sogar das Praktikum beschafft.“

      „Jeden Tag arbeiten gehen und nichts dabei verdienen. Toll!“ Dieses Thema war seit Wochen ein Grund für Streitereien. Aber Gerrit fand, er könne nicht oft genug darauf hinweisen, was da von ihm erwartet wurde. Wo gab es denn so etwas noch? Und alles nur, weil vielleicht im Herbst eine Lehrstelle dabei herausspringen könnte. Die wollte Gerrit aber gar nicht haben. Lebenslänglich Fahrräder zusammenflicken? Kam gar nicht in Frage!

      Mickey schwollen die Zornesadern, er konnte sich nicht mehr zurückhalten: „Du bist kein Kind mehr. Es wird Zeit, dass du dich entscheidest: Entweder du arbeitest oder du verschwindest. Ganz einfach.“

      Rosa blieb vor Schreck der Mund offen stehen. Aber Gerrit hatte genau auf eine solche Entgleisung gehofft. Gelassen entgegnete er: „Lieber heute als morgen. Wenn ich wüsste, wohin und von welchem Geld.“

      Mickey fand zu Gerrits Bedauern zu seiner üblichen Gelassenheit zurück. Er trank seinen Kaffee aus, stand auf, ging zum Küchenschrank und nahm eine alte Geldbörse aus der Schublade. Die hielt er Gerrit unter die Nase. Es steckten mehrere Fünfzig-Euro-Scheine darin. „Weißt du, von wem das Haushaltsgeld ist? Von mir! Ich zahle meinen Anteil. Im Gegensatz zu dir und deinem feinen Vater.“