Manfred Rehor

Gerrit aus Neukölln


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ist er. Damit er keinen Unterhalt zahlen muss.“

      „Er ist nicht abgehauen!“ Das war für Gerrit eine heilige Wahrheit, die niemand anfechten durfte. „Er ist ins Ausland gegangen. Da geht es ihm besser als in Deutschland.“

      „Logisch. Bei dem Vorstrafenregister, das der Gauner hier hat.“

      Gerrit sprang vom Stuhl auf. Erst durch einen Aufschrei seiner Mutter und Mickeys abwehrbereite Haltung bemerkte er, dass er das Brotmesser stichbereit in der verkrampften Hand hielt. Erschrocken über sich selbst öffnet er die Hand und ließ es fallen. So sehr hatte er noch nie die Beherrschung verloren.

      Rosa holte tief Luft und sagte dann bettelnd zu Mickey: „Du darfst ihn nicht so reizen, Schatz.“

      „Er muss lernen, dass man ohne Arbeit zu nichts kommt im Leben. Höchstens zu einer kriminellen Karriere.“

      Gerrit machte kehrt und ging in sein Zimmer.

      „Gerrit, Liebling“, rief ihm Rosa nach. „Ich mache deine Stullen zurecht. Beeil dich, bitte, sonst kommst du zu spät!“

      Gerrit knallte die Tür seines Zimmers hinter sich zu. Er warf sich aufs Bett und fühlte die ganze Bitterkeit seiner Situation. Er konnte es niemandem recht machen und wurde in seinem Zuhause von einem Fremden erniedrigt. Warum hatte sich seine Mutter nicht mit einem anständigen Kerl eingelassen, einem mit dem man reden konnte? Auf Anhieb fielen Gerrit ein paar Typen in der Nachbarschaft ein, die dafür in Frage kamen. Okay, die hatten alle keinen Job. Aber lieber wenig Geld, als so einen geschleckten Beamten mit spießigen Ansichten im Haus!

      Gerrit riss sich zusammen. Er musste jetzt überlegen, was heute alles zu tun war. An diesem Tag stand ihm noch einiges bevor!

      Kapitel 3

      Von wegen Praktikum! Für Gerrit gab es Wichtigeres. Ahmed musste über den Überfall informiert werden. Ein Angriff auf einen seiner Leute war noch nie vorgekommen. Jedenfalls nicht, seit Gerrit für ihn arbeitete. Deshalb konnte Gerrit auch nicht abschätzen, wie Ahmed reagieren würde. Hoffentlich blieb der Türke so cool wie immer.

      Außerdem hoffte Gerrit, heute wieder einen Brief von seinem Vater zu bekommen. Vielleicht konnte er den Brief diesmal vor Mickeys Zugriff in Sicherheit bringen.

      Pünktlich wie gewünscht ging Gerrit von Zuhause los. Er versprach seiner Mutter, ohne Umwege zu dem Praktikumsbetrieb zu gehen. Aber solche Versprechen unter Zwang galten nichts.

      Seine Mutter stand am Fenster. Sie winkte ihm nach, als wäre er ein sechsjähriger ABC-Schütze auf dem Weg zur Schule. Kaum war sie außer Sicht, bog Gerrit vom rechten Weg ab. Er ging zu seinem Lieblingsplatz, den Treppenstufen vor dem Rathaus Neukölln. Zwar tat ihm praktisch jede Stelle am Körper weh, aber davon wollte er sich den Tag nicht vermiesen lassen.

      Er setzte sich in die Morgensonne, öffnete das Stullenpaket und sah hinein. Margarinebrote, belegt mit Gurkenscheiben. „Gesund und billig“, sagte seine Mutter immer, wenn sie ihm so etwas in die Hand drückte. Gerrit stand auf, spazierte hinunter zum nächsten Papierkorb und warf die Brote hinein.

      „Was ist denn mit dir passiert?“, hörte er Janines Stimme hinter sich. Schnell drehte er sich um. Hoffentlich hatte sie nicht mitbekommen, was er gerade getan hatte!

      Janine trug trotz des warmen Wetters ihren knallbunten Lieblingspulli. Sie hatte auch ihre blöde Plastikhandtasche dabei, grell rosa mit aufgeklebten Herzchen. Natürlich hütete sich Gerrit, darüber auch nur ein Wort zu verlieren.

      „Hallo!“, sagte er und gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange. Das Küssen in der Öffentlichkeit war für Janine ein Problem, deshalb musste er sich da zurückhalten. Wie bei so vielem, was sie betraf. Wobei es andererseits einer der Vorteile von Janine war, ihn nicht mit heftigen Gefühlsausbrüchen zu belästigen. Nichts wirkte lächerlicher als Jungs, die von ihren Freundinnen ständig bedrängt und abgeknutscht wurden.

      „Was ist passiert?“, fragte sie noch einmal. Sie strich mit dem Finger an einer Schürfwunde entlang, die sich von Gerrits Backe den Hals nach hinten zog.

      „Nichts. Ich bin hingefallen“, redete er sich heraus. Natürlich durfte Janine nie erfahren, was er nachts so alles trieb. Sie hatte da ganz eigene Ansichten und hätte sofort mit ihm Schluss gemacht.

      Janine ging zu dem lebensgroßen, bunt bemalten Plastikbären, der vor dem Rathaus aufgestellt war. Auch dem wünschte sie einen „Guten Morgen!“

      Das war eines der Rätsel, die Gerrit manchmal beschäftigten, wenn er an seine Freundin dachte: Wie konnte sie zu Gegenständen so nett sein, als wären es ihre liebsten Freunde?

      Die Gehsteige der Einkaufsstraße wurde allmählich belebter, während der Berufsverkehr nachließ. Die ersten Typen mit Bierflaschen in der Hand sammelten sich vor der Bäckerei gegenüber. Einige kamen auch zu der großen Freitreppe vor dem Rathaus. Sie setzten sich nicht weit von Gerrit entfernt in die Sonne. Janine fürchtete sich vor deren großen Hunden, wie Gerrit sehr wohl wusste. Aber heute jammerte sie nicht deswegen, es war also ein guter Tag.

      Doch Gerrits gute Laune hielt nicht lange an. Ausgerechnet jetzt kam eine Nachbarin vorbei: Frau Schmitz, die redseligste alte Schachtel in Berlin und Umgebung. Sie war mindestens sechzig, hager und hatte Krallenhände. In ihr faltiges Gesicht war ihre ganze Gehässigkeit eingeprägt. Aber sie hielt sich noch für jung. Deshalb färbte sie sich Strähnchen ins Haar und fuhr Fahrrad, um fit zu bleiben.

      Gerrit betrachtete sich als im Krieg befindlich mit ihr, was Frau Schmitz aber gar nicht auffiel. Sie hielt ihn für einen ganz normalen Rüpel, wie sie seiner Mutter regelmäßig im Treppenhaus erklärte. Rosa ging sogar manchmal zu Frau Schmitz zum Kaffeetrinken. Das war eines der Dinge, die Gerrit sofort abstellen würde, wenn er etwas zu sagen hätte. Aber es gab ja niemand etwas auf seine Ansichten.

      Frau Schmitz war auch eine große Petze, die jeden anschmierte, wo sie nur konnte. Gerrit hatte keine Möglichkeit, sich zu verstecken oder abzuhauen. Blieb nur, so zu tun, als würde er sie nicht sehen.

      Das nützte natürlich nichts.

      „Hallo, Gerrit!“, jubelte Frau Schmitz. Sie war immer begeistert, wenn sie jemanden traf, mit dem sie schwatzen konnte.

      Gerrit zog ein saures Gesicht. In spätestens einer Stunde würde Rosa wissen, dass er sein Praktikum schwänzte.

      „Ich habe deine Mutter schon lange nicht mehr auf dem Sozialamt und im Jobcenter gesehen“, plapperte die Schmitz weiter.

      „Wir bekommen keine Stütze mehr, seit sie diesen Bullen hat.“

      „Wen?“

      „Den Polizisten. Weil der bei uns wohnt, sind wir kein Sozialfall mehr.“

      „Ach, Herrn Schmidt meinst du. Ein netter junger Mann! Das ist ja schön für euch. Beamte verdienen ziemlich gut.“

      „Von wegen. Wir haben genauso wenig Geld wie vorher. Wenn die Alte sich schon jemanden ins Bett holt, dann hätte sie sich einen suchen können, der richtig Kohle macht.“ Dieser Spruch hatte Gerrit schon zu lange auf der Zunge gelegen, er konnte ihn nicht zurückhalten. Klar, dass er nach der Äußerung nicht nur die alte Schmitz, sondern auch Janine gegen sich hatte.

      „Das gehört sich nicht, über seine Mutter so zu reden“, keifte die Schmitz. „Nun ja, man kennt dich nicht anders. Da ist jedes Wort darüber verloren.“ Sie machte kehrt und ging davon.

      „Alte Kuh!“, rief ihr Gerrit hinterher.

      Die Schmitz fuhr herum und holte tief Luft zu einer Gardinenpredigt. Aber sie ließ es bleiben, als sie Gerrits grinsendes Gesicht sah. Sie stampfte mit dem Fuß auf und ging weiter. Am Straßengeländer hatte sie ihr Fahrrad festgeschlossen. Nun öffnete sie das Schloss, stieg umständlich auf und wollte losfahren. Aber die Kette sprang ab. Beinahe wäre sie vom Rad gestürzt. Sie schaffte es jedoch, abzusteigen und schob das Rad neben sich her, nachdem sie den Schaden untersucht hatte.

      „Du bist gemein“, kommentierte Janine Gerrits lautes Lachen über diesen