Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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Anhänger des beinahe schon vergessenen Ninives und seiner technischen Errungenschaften. Doch was kann ein Mann allein in einer Ansiedlung ausrichten? In seiner Eigenschaft als Anführer der Stadtwache war der Koloman – sein Name war Rushan – zugleich auch der Erste unter den Bürgern Perms und dennoch schaffte er es nicht, die Werte und Errungenschaften Ninives zu bewahren.

      Rushan war mein Vater.

      Mein Vater war ein Kämpfer und seine Fähigkeiten, Dingen des täglichen Lebens und Vorgängen in der Natur bis in die tiefsten Abgründe ihrer Lebensessenz zu schauen ergänzten sich mit seinem Kampfgeist. Nie wurde er es müde, immer neue Geräte und Hilfsmittel zu ersinnen, diese selbst herzustellen oder von geeigneten Handwerkern bauen zu lassen. Obwohl sehr häufig sehr gut brauchbare und oftmals auch sehr hilfreiche Gerätschaften entstanden, erntete er bei seinen Mitmenschen zumeist nur Hohn und Spott. Die Menschen von Perm waren an seinen Erfindungen nicht interessiert. Sie erwarteten ganz andere Leistungen von ihm.

      Jemand anders aber zeigte schon Interesse an seinen Fähigkeiten.

      Niemand hat jemals erfahren, wie die Nachricht von den Gaben Rushans in die Weite der Steppe bei Karakorum gedrungen ist. Eines Tages tauchte jedenfalls eine Horde Wilder vor den Häusern von Perm auf und verlangten von meinem Vater, dass er und seine Familie mit ihnen nach Nordosten zog. Ihre Schamanin Sungaeta wollte mit ihm reden und ihm unter Umständen eine neue, glänzende Zukunft bieten. Rushan lehnte das Ansinnen der fremden Horde ab und das war ein Fehler. In der darauf folgenden Nacht drangen die Wilden – Sungaiten, Kinder der Sungaeta – in die Häuser von Perm ein und veranstalteten ein grauenhaftes Blutbad. Sie brachten die gesamte Bevölkerung von Perm einfach um. Nur Rushan und seine einzige Tochter – also ich – blieben am Leben und wurden von den Sungaiten in die Steppen von Karakorum verschleppt. Ich war damals noch nicht ganz zehn Sommer alt.

      Rushan überlebte die Reise nicht.

      Der Tod seiner Stadt hatte seinen Lebensnerv an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Obwohl er unverletzt gefangen genommen worden war, wurde er während der Reise krank und siechte immer mehr dahin und als wir nur noch eine Tagesreise von unserem Ziel entfernt waren, starb er. Nur ich blieb am Leben. Die letzte Überlebende der Stadt Perm.

      Ich verbrachte die letzten gut drei Jahre bei den Sungaiten. Sungaeta hatte zunächst in der Hoffnung gelebt, die Talente meines Vaters könnten auch in mir schlummern. Als sich aber herausstellte, dass ich nicht die kleinste Fähigkeit meines Vaters geerbt hatte, wurde ich zum ganz persönlichen Spielzeug der Hexe degradiert. Ich schlief Nacht für Nacht in ihrem Bett und ihre Gedanken, Hoffnungen und Wünsche lebten so sehr in meinem Geist, dass ich manchmal Mühe hatte, ich selbst zu bleiben, meine eigene Identität zu bewahren.

      Nun kennst du meine Geschichte. Was hast du vor? Was willst du mit mir anstellen?“

      Shandra hatte dem Mädchen während ihrer ganzen Geschichte aufmerksam gelauscht und sie auch nicht einmal unterbrochen. Er hatte sie unter den gesenkten Augenlidern hervor beobachtet, sie studiert und zugleich war sein Geist aktiv gewesen. Mit behutsamen Sondierungen hatte er den Wahrheitsgehalt ihrer Worte geprüft und war an keiner Stelle auf Zweifelhaftes gestoßen. Er saß auf einer Art Diwan im Inneren des roten Zeltes, der aus mehreren Dutzend lose über einander gestapelter Teppiche bestand und Moira hatte sich nur einen Schritt entfernt auf die Kante des Teppichstapels gesetzt. Schon bei seinem Eintreten in das rote Zelt hatte er sowohl die kleine Rolle mit der Haut als auch das Horn Olifant gefunden. Jetzt hatte er die Haut sowohl um sein verletztes Bein als auch weiter oben um seine Rippen geschlungen. Er gab sich der sofort einsetzenden Heilwirkung dieses wundersamen Teils hin und befasste sich mit dem freien Teil seiner Gedanken mit Moira.

      Seine Sondierung hatte ihm gezeigt, dass Moira ein beachtliches telepathisches Potential besaß, dessen sie sich allerdings kaum bewusst war.

      Shandra hatte auch die körperlichen Eigenschaften des Mädchens erfasst und erkannt, dass in ihrem schlanken Körper lange Muskeln und starke Knochen zu stecken schienen. Diese Beurteilung war ihm nicht besonders schwer gefallen, denn Moira trug lediglich einen hauchdünnen weißen Schleier als Gewand. Ein Nichts von einem Gespinst, dessen Dichte allenfalls einem Spinnennetz zu Ehre gereicht hätte. Ganz so eben, wie es sich für die Gespielin der Hexe geziemte. Unter dem Schleier war sie nackt und deshalb war auch nicht zu übersehen, dass ihr gesamter Körper sorgfältig enthaart worden war. Sie trug keinerlei Schmuck, nicht das kleinste Stück Metall war an ihr zu entdecken.

      Sie war überdurchschnittlich groß gewachsen für eine Frau. Selbst in ihrem noch jungen Alter von noch nicht einmal vierzehn Jahren hätte sie die meisten anderen Frauen um einen halben Kopf oder mehr überragt. Zudem verfügte sie über Attribute, die er seit unglaublich langen Jahren bei keiner Frau mehr gesehen hatte. Plötzlich fühlte Shandra ein schmerzliches Ziehen in seiner Brust, denn die junge Moira erinnerte ihn an die Kriegerfrauen und Amazonen, die ihn durch einen überaus wichtigen Teil seines Lebens begleitet hatten. Vor allem aber erinnerte sie ihn an die Frau, die er über alles geliebt hatte.

      Moira wirkte auf Shandra fast wie die Wiedergeburt Shakiras, obwohl die Äußerlichkeiten in vielen Bereichen nicht identisch waren.

      Moiras langes Haar war nur leicht gelockt und besaß die Farbe reifer Kastanien. Der rötliche Schimmer kam in der Sonne besonders gut zur Geltung. Sie trug ihr Haar offen, so konnte man den Eindruck gewinnen, als trüge Moira ein Tuch oder eine Stola aus schwerer, rotbrauner Seide über ihrem Kopf, dessen Enden bis über ihre Hüften herunter reichten.

      Ihre Augen waren groß und ausdrucksvoll und ihre Pupillen besaßen die Farbe von Bernstein. Ein satt leuchtendes, goldenes Gelb und in diesem Grundton waren grüne Sprenkel wie winzige Smaragdsplitter eingestreut. Das intensive grüne Leuchten des Zentrums dieser Augen verlieh den Blicken des Mädchens etwas Katzenhaftes, etwas geheimnisvoll Mystisches.

      Ihre Gliedmaßen waren lang und gerade gewachsen. Allerdings fehlte es ihr rundum an Muskulatur, was bei ihrer Größe besonders auffiel. Die schmale Taille, die runden Hüften und die bereits sehr gut entwickelten Brüste erinnerten Shandra an längst vergangene Zeiten, in denen er auf den Anblick eines solchen Mädchens auf die einzig vernünftige Art, nämlich die eines gesunden und kräftigen Mannes, reagiert hätte. Diese Zeit war vorbei. Lange vorbei und der letzte Kontakt zwischen Shandra und einer reizvollen Frau lag mehrere hundert Jahre zurück. Dennoch erkannte und registrierte er, dass Moira eine überaus attraktive Erscheinung abgab.

      „Du bist mir als ein Wesen in meinen Träumen geschildert worden, welches dringend meiner Hilfe bedarf. Nein, mehr als meiner Hilfe, meiner Leitung und Lenkung, meines Rates und meiner Eingebungen.

      Ich, Shandra el Guerrero bin der letzte Zeuge einer Zeit, die so lang vor deiner Geburt begann, dass sich selbst deine entferntesten Ahnen nicht mehr an sie erinnern können. Ich habe geträumt, dass du in dieser Welt eine wichtige Rolle spielen solltest, aber ich habe auch geträumt, dass aus dir ohne meine Hilfe ein Wesen werden könnte, welches die gesamte Existenz unserer Welt zu bedrohen in der Lage wäre. Meine letzte Aufgabe ist es, so habe ich in meinen Träumen erfahren, dir alles beizubringen, was dazu dient, damit du deinen eigenen Weg finden und gehen kannst. Ich soll dich lehren und dir helfen, denn du bist die letzte Aufgabe, die ich auf dieser Welt auszuführen habe.

      Danach hat sich mein Leben erfüllt.“

      Moira war überrascht aber sie war auch skeptisch, das war nicht zu übersehen. Sie mochte nicht so recht glauben, was Shandra sie soeben hatte wissen lassen.

      „Du willst mein Lehrer werden? Nicht mein neuer Herr? Nicht nur eine andere Form dessen, was Sungaeta in meinem Leben verkörperte?“

      „So ist es. Nichts von dem was geschehen soll, wird unter Zwang geschehen. Nichts davon kann unter Zwang geschehen. Dein freier Wille ist von allergrößter Bedeutung zur Erreichung des Ziels, das mir meine Träume gezeigt haben. Ich stelle dir mein Wissen und Können zur Verfügung und du entscheidest, was und wie viel du davon für dich haben willst. Ich rate dir allerdings, so viel als möglich mitzunehmen, denn was immer das Leben für dich noch vorgesehen hat, Menschen mit deinen angeborenen Talenten haben es nie leicht.“

      „Talente? Ich habe keine Talente. Wie kommst du darauf dennoch welche bei