Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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Gefühlen ein, was er zu bieten hatte. Er versuchte den Schmerzen zu widerstehen, indem er die Schmerzzentren seines Gehirns in einen weiteren, dicken Schutzmantel hüllte und dann, als das aufsteigende Feuer ein wenig in seiner Wirkung eingedämmt war, begann er mit ganzer Kraft gegen die Tentakel der Hexe anzukämpfen. Allerdings musste er schon bald feststellen, dass die Stärke der Gefühle dafür sorgte, dass ihm die Hexe an schierer mentaler Kraft überlegen war. Er musste einen anderen Weg finden, um auch diesen mörderischen Kampf zu gewinnen. Plötzlich war da eine weitere Kraft, eine Quelle, die ihm fremd war, die er aber dennoch gerne annahm und zugleich erwachte noch etwas in ihm. Ganz tief aus seiner Seele heraus tauchte eine Erinnerung auf und aus dieser Erinnerung schöpfte er die zusätzliche Kraft, die er benötigte.

      „Du kannst manchen Feind nur dadurch besiegen, dass du nachgibst. Wenn die Überlegenheit deines Gegners so groß ist, dass deine eigenen Kräfte, deine Schnelligkeit und dein Verstand nicht mehr ausreichen, um einen Sieg zu erlangen, dann musst du die Kräfte deines Gegners für dich nutzbar machen. Schau dir die Bäume im Sturm an und du wirst sehen, dass die mächtige Eiche bricht, während die schlanke und geschmeidige Weide den Sturm schadlos übersteht. Dieses Prinzip wende für dich an, dann wirst auch du jeden Sturm überstehen können.“

      Minaros Worte kamen aus den Tiefen der Vergangenheit und mit den Worten kehrte die Erinnerung an die unzähligen Übungsstunden zurück, die der alte Samurai aus Ama no Mori damit verbracht hatte, seinen Schülern das Weidenprinzip nahe zu bringen. Shandra war sein Musterschüler gewesen.

      Langsam, ganz allmählich begann er seinen Widerstand gegen den Angriff der Tentakel erlahmen zu lassen. Auch den Schmerzen gab er sich hin, hieß sie willkommen, umarmte sie und wurde auf diese Weise besser mit ihnen fertig, als wenn er weiter gegen sie gekämpft hätte. Er gab auch alle Schutzwälle auf, die seine peripheren Systeme schützten, nur um den allerinnersten Kern seines Egos legte er einen Kokon von diamantener Härte. Diesen Schutz würde die Hexe niemals durchbrechen können, dessen war er sich absolut sicher. Nun aber hatte er Kräfte frei und er nutzte sie für einen Gegenangriff von ausgeklügelter Hinterhältigkeit. Er begann feinste Fäden zu spinnen, die sich entlang der massigen Tentakel auf den Geist der Hexe zu hangelten. Fäden, die so fein waren, dass sie der Aufmerksamkeit der Hexe vielleicht auch dann entgangen wären, wenn sie sich nicht in einen derart hasserfüllten Angriff auf Shandra verwickelt hätte. Die Fäden erreichten den Ursprung der Tentakel und es war, wie Shandra vermutet hatte. Der Vernichtungswille stellte das alles andere überlagernde Bedürfnis in Sungaetas Geist dar und er war so ausgeprägt, dass die Gegnerin auf jeden eigenen Schutzschirm verzichtet hatte. Die feinen Fäden drangen in ein ungeschütztes Gehirn ein, suchten und fanden die Zentren der verschiedenen Gedanken und Gefühle, des Verstandes, der logischen Verknüpfungen und nun war es nur eine Sache von der Dauer eines Lidschlages.

      Ein grellweißer Blitz schoss durch das Gehirn der Hexe und löschte in einem winzigen Augenblick alles, was aus einem reinen Organismus letztendlich einen Menschen machte.

      Die Tentakel brachen zusammen und verschwanden. Die flüssige Flut der Schmerzen verschwand aus Shandras Geist. Die im einen Moment noch bösartig funkelnden Augen der Hexe, ihr zu einer boshaften Maske verzerrtes Gesicht, all das brach zusammen und erlosch und zurück blieb ein Lebewesen, das sich auf dem emotionalen Niveau einer Wiesenpflanze befand. Aus einem von starken Gefühlen und einem wachen Verstand angetriebenen Lebewesen wurde in einem winzigen Augenblick ein stumpfes, vor sich hin sabberndes Etwas, das nicht mehr das Geringste mit dem Menschen gemein hatte, der es vor weniger als einem Atemzug noch gewesen war.

      Shandras Gegenangriff war sowohl in seiner Stärke als auch im zeitlichen Ablauf perfekt geplant und ausgeführt worden. Die Manipulationen in Sungaetas Gehirn waren meisterlich gelungen und nicht mehr reversibel. Sungaeta war tot. Zurück blieb ein Wesen, das man wohl eher mit einer Pflanze als einem Menschen vergleichen mochte.

      Sungaeta wandte sich von Shandra ab.

      Mit stumpfem Gesichtsausdruck und wie abgehackt wirkenden Bewegungen ging sie um das rote Zelt herum und erreichte mit wenigen Schritten den Rand des Plateaus. Dort stürzte der Fels viele hundert Schritte tief ab. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern tat Sungaeta den entscheidenden Schritt und verschwand in der Tiefe des Abgrunds.

      Shandra betrat das rote Zelt nur zögerlich.

      Doch er musste hinein, denn er war verwundet worden und seine Wunden bedurften der Pflege. Einer Pflege, die ihm leichtfallen würde, das begriff er, als er den links des Hexenthrons stehenden Tragepfosten näher betrachtete. Dort hingen fein säuberlich an goldenen Haken befestigt, die beiden Artefakte, die Sungaeta ihm gestohlen hatte. Die Haut und das Horn Olifant befanden sich wieder in seinem Besitz.

      Aber nicht nur die Artefakte erwarteten ihn.

      Im Zelt war auch das Wesen, das ihm der Bär zwar angekündigt aber nur vage beschrieben hatte. Moira na Perm kauerte auf einem Stapel wundervoll gegerbter Pelze und starrte dem blutenden Krieger mit weit aufgerissenen Augen entgegen. Sie erwartete offenbar ihren eigenen Tod. Zum ersten Mal blickte Shandra in die Augen des Menschen, der die Inkarnation seines letzten Lebensabschnittes bildete. Er sah Augen, wie er sie nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Doch Shandra sah mehr als nur diese Augen. Er suchte und fand die Aspekte im Wesen eines Mädchens, fast noch eines Kindes und was er fand, ließ ihn erschauern und rief ein eigenartiges Gefühl der Schwäche in ihm hervor.

      Das Mädchen entstammte ganz sicher mehr als einer Welt und nie zuvor war ihm ein Mensch begegnet, in dessen innerstem Ich sich Gut und Böse, schwarz und weiß so sehr die Waage hielten. Mehr noch, im Wesen dieses Mädchens gab es keine Grauzonen zwischen schwarz und weiß. Alles war absolut. Der Grat zwischen den Aspekten war nicht breiter als die Schneide an einem seiner Schwerter. Die Entscheidung, in welche Richtung sich das Kind entwickeln wollte, war allerdings noch nicht gefallen, doch egal wie diese Entscheidung ausfallen würde, ihre Auswirkungen mussten enorm sein, denn das Potential des Mädchens war unvergleichlich.

      Zum ersten Mal begriff Shandra die Tragweite seiner Aufgabe und die Knie wollten ihm weich werden.

      Er brauchte mehrere Tage, um seiner körperlichen Wunden Herr zu werden. Die Pfeilwunden hätten ohne die Haut sicherlich zu eitern begonnen, denn die Knochenspitzen waren voll giftigem Dreck gewesen. Noch schlimmer aber waren die Wunden, die er sich im Kampf mit der Hexe eingehandelt hatte. Für deren Behandlungen benötigte er mehrere Monde. Die Wunden der Erinnerung heilen nun mal sehr viel langsamer als Fleisch, Haut und Bindegewebe. Er nutzte die Zeit, um sich mit Moira na Perm zu unterhalten und ihre Geschichte kennenzulernen.

      Das Mädchen wusste erstaunlich viel über ihre Heimat und ihre Abstammung.

      „Perm, so erzählte man sich in meinem Stamm, war viele Jahrhunderte lang ein Zentrum des Wissens und der Macht. Seine Bewohner, so sagte man, stammten von einer wilden Amazonenreiterin ab, die Perm zusammen mit einem Steppenkrieger gegründet hatte, um ihrem Sohn eine seiner eigenen Abkunft entsprechende Heimstatt bieten zu können. Als der Steppenkrieger in einem Kampf gegen einen Bergstamm ums Leben kam, tat sich die Amazone mit einem Emigranten der fliegenden Stadt Ninive zusammen und gebar ihm noch mehrere Kinder. Vom ersten Sohn der Amazone stammen bis heute alle Herren Perms ab, doch die späteren Kinder zeugten die vielen hochrangigen Techniker, welche die Stadt Perm nach Idealen formten, die ihnen von der fliegenden Stadt her geläufig waren. Doch leider ging das Wissen in der Umgebung der Wildnis viel rascher verloren, als es die Gründerin erwartet und befürchtet hatte.

      Schon die vierte Generation der in Perm lebenden Menschen hatte jegliches Interesse an Wissenschaft und Technik verloren. Die jungen Männer trieben sich viel lieber auf den Steppen und in den Wäldern herum, die Perm umgaben, als dass sie sich mit den theoretischen Kenntnissen der Mechanik und anderer wichtiger Bestandteile der Natur auseinander setzten.

      Perm verlor an Macht und Einfluss in seiner Region und schon bald war es von der Heimat technisch gebildeter und versierter Menschen zu einem Platz geworden, an dem sich Jäger und Trapper, Bauern und Viehzüchter niedergelassen hatten. Aus den einstmaligen feinsinnigen und gefühlvollen Nachkommen Ninives waren innerhalb weniger Generationen im ganzen Umland gefürchtete Rabauken, Schläger, ja sogar Banditen geworden.

      Nur einer widersetzte sich diesem