Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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müssen, was spielten da denn ein paar weitere Tage für eine Rolle?

      Er setzte seine Übungen mit der ihm eigenen Beharrlichkeit fort und beobachtete sorgfältig die eigene Entwicklung.

      Am zwanzigsten Tag auf dem Pass war er soweit. Er absolvierte seine Übungen so flüssig und geschmeidig wie eh und je und die letzten Abende und Nächte hatte er schmerzfrei verbracht. Somit wusste Shandra, dass er bereit war.

      Am nächsten Morgen kroch er bereits lange vor dem Morgengrauen aus seinen Fellen. Zufrieden stellte er fest, dass diese erneut währen der Nachtstunden fast trocken geblieben waren und als er sich erhob, seine Muskeln zu dehnen und zu strecken begann, blieb das jahrelang gewohnte Knacken der Gelenke aus. Sein Körper hatte ebenso einen Weg zurück gefunden, wie sein Geist. Er schwitzte nicht mehr unkontrolliert und ohne Grund und seine Bänder, Sehnen und Muskeln waren wieder so stark und geschmeidig geworden, wie es sich für den Körper eines Kriegers geziemte. Shandra hob seine Arme wie in einer sakralen Handlung hoch in die Luft. Seine Handflächen hielt er dem schwarzen Nachthimmel zugewendet nach oben gedreht und er dehnte seinen Brustkorb in tiefen Atemzügen. Dann sprach er leise zu sich selbst.

      „So Hexe, jetzt bin ich bereit. Heute steige ich den Berg hinab. Heute Abend schlage ich mein Lager auf deinem Plateau auf und morgen Abend werden wir beide wissen, wohin sich die Waagschale geneigt hat. Morgen Abend wird nur noch einer von uns beiden am Leben sein.“

      Shandra hatte sich nicht verschätzt.

      Er benötigte tatsächlich den ganzen Tag, um seine schwer beladenen Rentiere über schmale Steige und oftmals geradezu abenteuerliche Kletterpassagen vom Grat hinunter zu bringen. Erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichte er den Ausstieg aus dem Berg und die ebene Fläche des großen Plateaus.

      Den ganzen Tag über hatte er auf seinem Abstieg einen treuen Begleiter gehabt.

      Die große Katze, der mächtige sibirische Tiger hatte sich von seinem Beobachtungsposten erhoben und war voraus gegangen. Er hatte Shandra wiederum den Weg gewiesen. In seiner Spur war der Krieger ins Tal geklettert und wann immer er zurück blickte, erkannte er, dass die Katze ihm den leichtesten und sichersten Weg herunter gewiesen hatte.

      Shandra fragte sich, welches Interesse die Hexe wohl haben mochte. Warum achtete sie so sorgsam darauf, dass Shandra so wohlbehalten und sicher als irgend möglich den Abstieg bewältigte? Ging es ihr einfach und allein darum, sich einem möglichst gleichwertigen Gegner zu stellen oder war da noch etwas anderes?

      Shandra schob die Gedanken und Überlegungen zur Seite. Sie waren für den Augenblick bedeutungslos geworden. Er hatte das Plateau erreicht und da es bereits nahezu dunkel war, blieb ihm noch eine Nacht, um sich auf das vorzubereiten, was ihn erwartete.

      Wie lange war es her, dass sich Shandra auf eine Schlacht hatte vorbereiten müssen?

      Viele hundert Jahre lagen zwischen der letzten großen Schlacht im Kampf gegen das Imperium des unseligen Großkönigs von Anglialbion. Plötzlich waren die Erinnerungen an diese Schlacht ebenso wieder in ihm lebendig, wie die Kampfreflexe und die alte Geschmeidigkeit.

      Shandras Geist und damit auch sein Körper begannen sich zu erinnern, wie es sich anfühlte zu kämpfen und zu töten. Er erinnerte sich an die Momente, da eine stählerne Klinge auf weiches Fleisch traf, dieses durchtrennte und sich dann in Knochen biss, sich durch diese hindurch fraß, wenn die Wucht des Hiebes stark genug war, um dann in den relativ weichen Brei der Innereien einzudringen, wo sie ihr tödliches Werk vollendete. Er erinnerte sich an die Erschütterungen, die sich durch die eigene Muskulatur in den eigenen Körper hinein ausbreitete, er erinnerte sich aber auch an den Ausdruck der tödlichen Angst in den Blicken der Getroffenen, die sich dann bis hin zu der entsetzlichen Leere der Erkenntnis des unmittelbar bevorstehenden Todes veränderte. Es war stets leichter gewesen, mit dem Bogen, den Shuriken oder den Wurfmessern zu töten, als im Nahkampf mit dem Schwert oder gar dem langen Jagdmesser. Der unmittelbare Kontakt zum Sterben und Tod eines Menschen, den der Schwertkampf verlangte, drang unvermeidlich auch tief in die Seele dessen ein, der sich als der stärkere Kämpfer, als der Sieger erwiesen hatte. Eindrücke, Shandra erinnerte sich nur zu gut an sie, die dafür sorgten, dass so mancher Krieger - nach dem Sieg in der Seele wund - schlaflose Nächte verbrachte. So wurde trotz allem auch aus dem Sieger letztendlich ein Verlierer. Es gab nur einen Ausweg aus diesem Dilemma. Ein Schwertkämpfer musste lernen, während des Kampfes all seine Gefühle und Empfindungen auszublenden. Nur dann war es möglich, sich mit dem Schock des Tötens abzufinden und als Kämpfer nicht an sich selbst zu verzweifeln.

      Das ganze Wissen, die unsägliche Erfahrung mit dem Tod, all das erwachte nach vielen Jahrhunderten in dieser letzten Nacht in Shandra wieder zum Leben. Er erinnerte sich und er fand sich damit ab, den alten, verblassten Erinnerungen neue hinzu fügen zu müssen. Der Krieger war erwacht, er war zurück und Shandra war bereit zu töten, aber auch selbst zu sterben.

      Er verbrachte die Nacht in tiefer Meditation. Er begab sich in einen Zustand der Versenkung, sein Geist war abgeschirmt von allen Einflüssen, die ihn aus dem Gleichgewicht hätten bringen können und als die Sonne am Horizont erschien und der Tag heraufzog, war er endgültig bereit.

      Ein letztes Mal bewegte sich sein Körper in den langsamen Bewegungen des Thai Chi, so wie es ihn Minaro dereinst gelehrt hatte. Dann, als er den höchsten Grad der Einheit zwischen Geist und Körper erreicht hatte, nahm er die beiden Katanas auf, ließ sie in die Rückenscheiden gleiten und machte sich auf den Weg zum südlichen Rand des Plateaus. Dorthin, wo er das riesige rote Zelt der Hexe gesehen hatte.

      Die Sungaiten gehörten nicht zu den Langschläfern unter den Menschen. Lange zu schlafen war ein Privileg der Reichen, so hieß es im Kodex der Sungaiten und deshalb nur den Lieblingen der Hexe vorbehalten. Er musste also zusehen, dass er mit seinen Kampfvorbereitungen fertig war, ehe der Erste seiner Gegner aus einem der Zelte trat. Wachen hatten die Sungaiten nicht aufgestellt. In einem menschenleeren Land, an einem derart exponiert liegenden Platz wie diesem, hatten sie Wachen für überflüssig erachtet.

      Die Krieger der Sungaiten gehörten nicht zu den Reichen und Privilegierten. Doch sie gehörten zu den Starken unter den Völkern der Tundra und der Steppe. Unter der Führung der Mutterhexe musste niemand hungern oder frieren. Sie alle hatten stets genug zu essen und geeignete Kleidung sowohl für die kurzen, feuchtheißen Sommer als auch für die endlos langen und klirrend kalten Winter, die das Klima ihres angestammten Lebensraumes bestimmten. Wie alle Völker der Tundren und Steppen bildeten die Jagd und in einem geringen Maße der Handel mit benachbarten Völkern und Stämmen ihre Lebensgrundlage und daraus ergab sich fast zwangsläufig auch die Tatsache, dass sie ebenso gut Krieger waren, wie Jäger und Händler.

      Sie waren gut genährt, gut gekleidet und im Kampf geschult, also ernst zu nehmende Gegner für jeden anderen Stamm. Insbesondere aber für einen einzelnen Krieger wie Shandra.

      Shandra hatte den Punkt auf dem Plateau erreicht, da er sich genau auf der Höhe der beiden am weitesten vom Zentrum entfernten Zelte befand und ganz exakt östlich vom Eingang des roten Zeltes. Damit hielt er eine strategisch ungemein wichtige Position. Seine Gegner würden aus den Zelten kommend zunächst in das grelle Licht der aufgehenden Sonne schauen müssen, sie würden sich also schwer tun, von ihm mehr als einen schwarzen Schattenriss zu erkennen, während er seine Ziele bestens ausgeleuchtet vor sich hatte. Zu allem Überfluss fand er genau an diesem Platz eine leichte Erhöhung, hinter der er immer wieder verschwinden und so für ein paar Momente Schutz finden konnte. Die Hexe schien vergessen zu haben, welche Fähigkeiten Shandra besaß. Oder aber sie war von ihren eigenen Möglichkeiten so überzeugt, dass sie keine weiteren Gedanken an strategische Belange verschwendet hatte.

      Shandra fragte sich auch, weshalb er nicht erwartet wurde.

      Der Tiger hatte ihn genau beobachtet und seine Informationen mit Sicherheit an die Hexe weitergegeben. Warum also waren von den Sungaiten weder Wächter aufgestellt worden noch andere Sicherungsmaßnahmen vorbereitet?

      Natürlich kannte er die Hexe und ihr Gefolge, doch als derart überheblich hatte er sie nicht in Erinnerung gehabt.

      Wie auch immer, Shandra erkannte seine Chancen und sofort begann sich in seinem Kopf ein Plan