Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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erahnen.

      Nun wandte er sich um und sah hinaus in seine unmittelbare Zukunft.

      Er hatte richtig vermutet, sein Weg hatte ihn zu einem Punkt eines mächtigen Gebirgsmassives geführt, der ihm eine wirklich erstklassige Aussicht auf das Gelände ermöglichte. Zugleich befand er sich vielleicht sogar an der einzigen Stelle, an welcher die wuchtig und schroff zum Himmel aufragenden Berge und Massive überwindbar aussahen. Von seinem Punkt aus hätte er am frühen Morgen wohl einen wunderbaren Ausblick in das tiefer liegende Land gehabt, jetzt aber, am Nachmittag, blendete ihn die bereits tief im Westen stehende Sonne zu sehr. So vermochte er nur zwei Erkenntnisse als sicher zu registrieren.

      Zum einen konnte er sich davon überzeugen, dass er sich tatsächlich auf dem höchsten Punkt seines Weges befand und über welch gewaltiges Gebirgsmassiv ihn dieser Weg geführt hatte.

      Dann, als seine Augen an dem vor ihm liegenden Abstieg entlang wanderten, erkannte er tief unter sich ein Plateau. Es war schwer zu sagen, über welche genaue Fläche sich dieses Plateau ausbreitete, doch so viel war zu erkennen, klein war es nicht.

      Es war jedenfalls groß genug, dass die Zelte, die dort unten aufgebaut waren, wie kleine bunte Flicken auf einem grünen Teppich aussahen. Shandra konnte, von der klaren Bergluft nicht behindert, fünfzehn solcher Farbtupfer zählen. Vierzehn dieser Flecken waren in hellen Tönen, irgendwo zwischen weiß und einem sattem Gelb liegend eingefärbt. Das fünfzehnte Zelt aber leuchtete in einem kräftigen Rot und war bedeutend größer, als die anderen.

      Shandra atmete mehrmals tief durch.

      Sein Brustkorb hob und senkte sich unter so kräftigen Atemzügen, als hätte er den Aufstieg auf den Pass rennend hinter sich gebracht. An seinen Schläfen bildeten sich dicke, pulsierende Adern und die Farbe seines Gesichts glich beinahe der Farbe einer reifen Buchecker. Sein ganzer Körper stand plötzlich unter einer enormen Spannung und diese innere Spannung verschaffte sich Luft, indem sich Shandras Wangenmuskeln wie dicke, harte und ständig zuckende Stränge über seine Kieferknochen spannten.

      Dort unten wartete die schlimmste aller Feindinnen auf ihn.

      Die Zelte gehörten den Sungaiten und das große, rote Zelt war ganz sicher das Zuhause der Stammesmutter, der Hexe Sungaeta.

      Die Zelte waren in einer eindeutigen Struktur angeordnet, so wie er es von Sungaiten kannte. Das rote Zelt der Hexe bildete das Zentrum einer Zange. Der Eingang des roten Zeltes zeigte nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen. Zu beiden Seiten, also nach Süden und Norden standen je sieben helle Zelte und in jedem dieser Zelte lebten in aller Regel zehn sungaitische Krieger. Die Krieger eines jeden Zeltes bildeten aber keinesfalls eine zufällig entstandene Gemeinschaft. Nur enge Blutsverwandte lebten in einem gemeinsamen Zelt. Väter und Söhne, Brüder und allenfalls noch Vettern. Sie bildeten eine Sippe und zugleich eine Kampfgemeinschaft.

      Der Abstand von Zelt zu Zelt betrug jeweils etwa dreißig Schritte und mit diesem Abstand signalisierten die einzelnen Sippen, dass sie zwar zu einem Stamm gehörten, aber dennoch sehr viel Wert auf die Unabhängigkeit der Sippe legten.

      Shandra wusste, das vom Geist des Bären angekündigte Ziel war nun ganz nahe.

      Die Sungaiten waren Nomaden und ihr Volk war klein. Nur wenige mehr als zweihundert Seelen gehörten dem Stamm an.

      Sungaiten….

      Sie allesamt waren direkte Nachkommen der Hexe. Kinder, Enkel und Urenkel, bis hin zur fünften Generation bestand der Stamm ausschließlich aus Menschen, in deren Adern Sungaetas Blut floss. Sungaetas Blut aber zeugte einen ganz besonderen Menschenschlag. In wessen Adern Sungaetas Blut auch zirkulierte, es stattete diesen Menschen mit finsteren Kräften, mit schwarzer Magie und mit eiskalter Grausamkeit aus. Ein Sungaite tötete ein Lebewesen mit der gleichen gleichgültigen Beiläufigkeit, wie der Tiger ein Reh riss. Der Unterschied war nur, dass der Tiger nur zum Erhalt seines Lebens und zur Sicherung des Fortbestandes seiner Art tötete. Sungaiten hingegen töteten aus purer Lust.

      Nur so war auch zu versstehen, dass, so klein das Volk der Sungaiten auch war, die anderen Nomadenvölker in Tundra und Steppe den Stamm fürchteten wie kaum etwas sonst. Nur wenig von dem, das ihnen in der Weite ihrer Länder begegnen konnte, erzeugte ähnliche Gefühle. Es sah aus, als wäre nahezu der komplette Stamm durch die Berge gezogen und hatte dort unten auf dem Plateau sein Lager aufgeschlagen. Die Völker in Steppe und Tundra konnten aufatmen.

      Shandra war sich absolut sicher, dass sich Sungaeta nur aus einem einzigen Grund dort unten festgesetzt hatte. Sie wartete auf ihn, auf Shandra el Guerrero, denn so wie Shandra den Bärengeist als Informant besaß, so verfügte auch die Hexe über Informanten und Berater aus dem Reich der Geister. Ihr Schicksal und sein eigenes waren seit Jahrhunderten eng mit einander verwoben und dort unten auf dem Plateau sollte sich ihrer aller Los verwirklichen.

      Shandra benötigte bestimmt drei oder vier Dutzend tiefer Atemzüge, ehe er sich wieder so weit unter Kontrolle hatte, dass er sich mit dem Abstieg befassen konnte.

      Seine Blicke schweiften den Berg hinab, seine Augen suchten nach dem bestmöglichen Abstieg hinunter zu dem Plateau und da entdeckte er ein kleines Stück unter sich einen mächtigen Findling, einen Quader von mindestens Mannshöhe, auf dessen Oberfläche sein indirekter Begleiter und Wegbereiter auf ihn zu warten schien.

      Wie hingegossen lag der große Tiger auf dem Fels, ließ sich von den Strahlen der Nachmittagssonne das Fell wärmen und hob jetzt, da Shandra begann seine Rentiere an den Abstieg zu führen, in eleganter Grazie seinen beeindruckend großen Schädel, gähnte ausgiebig und starrte Shandra erwartungsvoll entgegen. Zwischen ihm, dem Menschen, und dem Tiger lag bestimmt ein Abstand von gut fünfzig Schritten. Dennoch hatte Shandra das Gefühl, der riesigen Katze direkt in die Augen zu sehen. Das intensive Leuchten der gelben Katzenaugen mit den schmalen, senkrecht stehenden schwarzen Pupillenschlitzen drang tief in Shandras Inneres ein und da war etwas, das Shandra unruhig werden ließ, ihm sagte, dass es da etwas gab, was er vielleicht nicht ausreichend beachtet haben könnte. Etwas seltsames, geheimnisvolles. Etwas, das möglicherweise auch der Aufmerksamkeit des Bärengeistes entgangen war?

      Der Krieger in Shandra regte sich und begann endgültig wieder zu erwachen. Alle Instinkte des Kriegers warnten ihn eindringlich vor dem, was die große Katze verkörpern mochte.

      Shandras Verstand hatte die Warnsignale kaum registriert, als auch schon die Bestätigung für diese Warnungen fühlbar wurde.

      Zuerst war es ein leichtes Kitzeln in seinem Kopf, im hinteren Teil des Schädels und dieses Kitzeln war Shandra schon beinahe fremd geworden. Der letzte Mensch mit telepathischen Fähigkeiten, der sich in seiner Nähe aufgehalten hatte, war Rollo gewesen. Allerdings hatten sie seit dem Tag, da sie zu zweit in die Einsamkeit der Tundra hinaus gezogen waren, also seit mehreren hundert Jahren, keinen telepathischen Kontakt mehr gepflegt. Wozu auch? Sie waren allein, niemand war da gewesen, vor dem sie Gedanken hätten verheimlichen müssen. Was sie sich zu sagen gehabt hatten, konnte bedenkenlos ausgesprochen werden.

      Deshalb war er nicht nur überrascht, sondern zugleich überaus unangenehm berührt, als sich plötzlich das Kitzeln in seinem Gehirn einstellte und er kaum einen Augenblick später eine Nachricht empfing.

      „Nun ist es also geschehen, alter Freund. Unsere Wege kreuzen sich ein weiteres Mal, denn du bist der Spur der Katze gefolgt. Ich grüße dich und heiße dich willkommen an einem Ort, der unser beider Schicksal bedeutet.“

      Shandras Gehirn wollte die Annahme dieser Botschaft spontan verweigern, all seine Gefühle sagten ihm, dass es nur klug gewesen wäre, sich gegen gerade diesen Kontakt zu verschließen, sich hinter einem sicheren Schutzwall zu verbergen, denn der Absender der Botschaft war niemand Geringeres als die Hexe Sungaeta selbst. Sein Verstand allerdings erinnerte sich an die Botschaft des Bären und so ließ er den Kontakt zu und erwiderte:

      „Man sagte mir, dass sich unsere Wege ein letztes Mal kreuzen werden. Wenn dies der Ort ist, an welchem es geschehen soll, mag mir das Recht sein. Was willst du von mir, Hexe?“

      Da telepathische Verbindungen durchaus