Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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die Klingen ausliefern. Nicht dir und auch nicht jemand anderem. Ich habe sie versiegelt und sie sollen bis ans Ende aller Zeit in dieser Versiegelung bleiben. Es ist dies die vernünftigste Lösung für alle.“

      Sungaeta kochte vor Zorn. Ihre Wut, ihr Hass, aus grenzenloser Enttäuschung geboren sprengten alle Schranken der Vernunft. Eines Tages schickte sie Mörder aus und ließ Kithuri und ihre Kinder umbringen. Auch Sorcha und Shandras Nachkommen starben unter den Stichen und Hieben von Meuchelmördern, zugleich verhängte die Hexe einen wilden Fluch und Bannzauber über Shandra und Rollo. Sie ließ die beiden von ihren Schergen aus Karakorum hinaus in die Tundra jagen und verhängte den Bann über sie.

      In Rollos Eingeweiden begannen urplötzlich wilde Schmerzen zu toben, welche durch nichts und niemand zu lindern waren und Shandra verlor jeglichen Mut und Willen, sich woanders als in den Weiten der Tundra aufzuhalten.

      Rollos Sterben wurde zu einer schrecklichen Angelegenheit, denn die Kraft seines mächtigen Körpers machte es auch den Hexenkünsten Sungaetas nicht leicht. Sein Siechtum nahm kein Ende und Shandra saß wie willenlos, wie paralysiert dabei, beobachtete das Leiden des Freundes und fand nicht die Kraft, etwas dagegen zu unternehmen.

      Rollos Tod, sein Abschied in die Geistwelt des Clans der Grazalema hatte letztlich den Fluch gebrochen. Shandra war wie aus einem bösen Traum erwacht und plötzlich in der Lage, seine längst beschworene Rache anzugehen.

      Über all diesen Erinnerungen und Grübeleien verging Shandra die Reise wie im Flug.

      Er war noch zwei Reisetage vom Saum des Waldlandes entfernt, als über ihm der erste große Keil der Wildgänse am roten Abendhimmel auftauchte und das Ende des Winters ankündigte.

      Es begann zu tauen, das Wetter wurde von Tag zu Tag milder und der Schnee schmolz in rasender Geschwindigkeit, fast so schnell wie er im vergangenen Herbst gekommen war. Von den Flüssen und Strömen erklang Tag und Nacht das dröhnende Krachen des brechenden Eises und wenn die Eisschollen in der Strömung gegen einander geschmettert wurden, war das Ächzen und Knirschen bis zum Saum der Taiga hinauf zu hören. Die Tundra begann sich zu verändern und als sich Shandra am Rand der Taiga umwandte und auf seiner Spur zurück blickte, lag dort eine völlig andere Landschaft, als er sie in den letzten Tagen durchzogen hatte.

      Die vorherrschende Farbe war ein dreckiges Braun, durchbrochen von tosenden, lehmgelben Fluten, reißenden Bächen, die rasch zu Flüssen, Strömen, ja zu wahren Meeren wurden.

      Shandra hielt sich nur wenige Atemzüge lang damit auf, zurück zu blicken. Wichtig war nicht, was hinter ihm lag. Wichtig war, was ihn über kurz oder lang erwartete.

      Zusammen mit Rollo war Shandra schon einige Male ins Waldgebiet vorgedrungen und bislang waren sie immer nach einigen Tagen von Sungaeta und ihren Helfern aufgehalten und zurück getrieben worden. Shandra hatte nie herausfinden können, auf welche Weise die Hexe von ihrem Eindringen in die Taiga erfahren hatte, doch wie auch immer, es war ihr nie verborgen geblieben. Aus diesem Grund nahm er an, dass sie auch diesmal erfahren würde, wo er, Shandra sich aufhielt und sie würde wie immer auftauchen und versuchen, ihn in die Tundra zurück zu zwingen.

      „Du wirst dich wundern, Hexe. Diesmal wird alles anders sein als du es erwartest!“

      Shandra hatte schon vor langer Zeit aufgehört, seine Kampfreflexe zu üben. In der Einsamkeit der Tundra hatte es nichts gegeben, gegen das zu kämpfen es sich gelohnt haben würde. Doch seit die Jurte verbrannt war und sein Ziehbruder diese Welt verlassen hatte, war in Shandra der alte Kampfgeist wieder erwacht. Er hatte seine Übungen wieder aufgenommen und jetzt, da er den entscheidenden Schritt in den Schatten des Urwaldes tun musste, war er bereit wie seit vielen hundert Jahren nicht mehr. Seine Muskeln, die Bänder und Sehnen waren wieder geschmeidig und belastbar, wie es sich für einen Krieger geziemte und seine Reflexe wieder so schnell wie die einer Katze. Seine Schwerttechnik war ein wenig anders, denn das Dai Katana, das Rollo getragen hatte, war eigens auf dessen hünenhaften Masse angefertigt worden. Shandra hatte gelernt, mit der mächtigen Klinge umzugehen. Auch mit den Wurfmessern und Shuriken hatte er wieder und wieder geübt und er war sich sicher, es auch mit einem Dutzend Gegnern zugleich aufnehmen zu können. Genau darauf aber, so nahm er an, musste er sich gefasst machen. Sungaeta würde ihn ganz sicher nicht ohne Helfer erwarten.

      So weit war es allerdings noch nicht.

      Auf Grund der früheren Erfahrungen rechnete er damit, ungefähr drei oder vier Tagesmärsche tief in die Taiga eindringen zu können, ehe er von Sungaeta gestellt werden würde. Dann erst musste er kämpfen. Bis dahin konnte er noch weiter üben.

      Shandra übte und er suchte und fand auf seinem Weg durch die Taiga genügend Übungspartner, die ihm alles abverlangten. In den Wäldern lebten eine Reihe von Räubern, die in Shandra und seinen Rentieren eine leichte und am Ende des Winters hoch willkommene Beute zu erkennen glaubten und ihn oft ohne zu zögern sofort attackierten.

      Zweimal waren es Schneeleoparden, dann ein starker Luchs, doch sie alle gingen leer aus. Auch ein kleines Rudel schwarzgrauer Wölfe versuchte sein Glück. Dann war es ein mächtiger Braunbär und am Morgen des vierten Tages begegnete er dem eigentlichen König der Taiga.

      Ein gewaltiger Tiger, lehmgelb mit kräftiger, schwarzgrauer Zeichnung, einer nahezu rein weißen Kehle und ebenso fast weißen Tatzen tauchte am Grat eines mit dichtem Buchengestrüpp bewachsenen Hanges auf und beobachtete, wie sich Shandra mit seinen vier schwer beladenen Rentieren genau den Hang hinauf quälten. Kein Mensch ist in der Lage, die Mimik eines Tieres mehr als nur zu erahnen. Auch nicht ein so alter und erfahrener Krieger und Waldläufer wie Shandra. Aber Shandra verfügte über andere Möglichkeiten und, obwohl er diese über eine sehr lange Zeit hinweg nicht genutzt hatte, glaubte er zu erkennen, was hinter den leicht zugekniffenen gelben Augen der mächtigen Katze vor ging.

      Wenn die kleine Truppe ihren Kurs nicht änderte, würde ihr praktisch im Rachen des Tigers münden und es hatte den Anschein, als freute sich das riesige Raubtier bereits auf eine leicht erbeutete Mahlzeit.

      Shandra fixierte das riesige Tier, studierte es und fragte sich im nächsten Augenblick, auf welche Art er einen Angreifer dieses Kalibers am besten bekämpfen sollte. Zugleich wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er einem Gegner dieses Kalibers höchstens einmal in seinem langen Leben gegenüber gestanden hatte. Er gönnte sich den Luxus und ließ seine Gedanken kurz schweifen. Der graue Bär der Grazalema, dessen Fell ihn seit nunmehr länger als neun Jahrhunderten begleitete, mochte sich in einer ähnlichen Kategorie befunden haben, wie dieser sibirische Tiger dort oben auf dem Kamm.

      Ein Entschluss musste gefasst werden und Shandra traf seine Entscheidung so, wie es sich für einen einstmals gefürchteten Krieger geziemte.

      Er griff in die Führleinen der Rentiere und hieß diese anzuhalten. Als nächstes suchte er nach einer Möglichkeit zum Anbinden und da sich nichts anderes anbot, wickelte er die Leinenenden um einen großen Stein, der aus dem Firnschnee ragte.

      Shandra legte langsam seinen schweren Mantel ab, dann begann er absolut zielstrebig den Hang hinauf, dem Tiger entgegen zu steigen.

      Die riesige Katze beobachtete Shandras Bemühungen und Vorbereitungen mit ihren gelb funkelnden Augen ganz genau und ließ dabei dennoch keinerlei Merkmale von aufkommendem Jagdfieber oder dergleichen erkennen. Fast hatte es den Anschein, als würde die Katze es akzeptieren, wenn Shandra einfach weiter zöge. Doch Shandra wollte nicht einfach weiterziehen. Er suchte die Auseinandersetzung mit dem mächtigen Tier, denn er wollte wissen, wo er in Sachen Kraft, Schnelligkeit und Tötungswillen bereits wieder angekommen war. Gelang es ihm, dem Tiger standzuhalten, ihn vielleicht sogar zu besiegen, dann würde er auch mit einem halben Dutzend Schergen der Hexe keine größeren Probleme bekommen. Allerdings war es ihm nicht daran gelegen, den Tiger tatsächlich zu einem Kampf zu zwingen und ihn gar noch zu töten. Nur seine Reflexe wollte und musste er prüfen.

      Solange der den Hang unter sich hatte, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als fast auf allen Vieren zu gehen. Der Hang war steil und unter der immer noch gut einen Fuß starken Schicht aus hartem Firn befand sich eine dicke Lage alten Laubes