Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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verdichtete sich der Dunst und das Abbild eines mächtigen, grauen Bären materialisierte vor Shandras Augen in der Luft.

      Die uralten Augen des Bären waren voller Weisheit, aber auch voller Trauer. Shandra ahnte, woher die Trauer kommen mochte. Lange tauchten die Blicke des Bären und des alten Kriegers ineinander ein, dann begann der Bär leise zu sprechen.

       „Bruder Mensch, du hast mich getötet und mein Herz gegessen und dich damit als würdigster unter den lebenden Menschen jener Zeit gezeigt. Ich vertraute dir und siehe da, ich wurde betrogen. Du warst stark. Aber am Ende warst du doch schwach, auch nur ein Mensch. Du hattest alles gewonnen und hieltest die mächtigste Magie in deinen Händen, die zu jener Zeit auf der Erde existierte. Weshalb hast du die Macht aus deinen Händen gegeben und die Schwerter versiegelt?“

      Shandra überlegte eine kleine Weile. Was der Bär ansprach lag so unendlich lange zurück, dass Shandra glaubte, nur noch eine nebelhafte Erinnerung an jene Ereignisse zu besitzen. Doch an eines erinnerte er sich noch genau.

      „Ich wusste sehr wohl um die Macht, die mir gegeben worden war. Ich wusste aber auch, dass solche Macht niemals in die Hand eines einzelnen Menschen gehören konnte. Ich hatte begriffen, dass diese Macht nicht natürlichen Ursprungs war und dass die Magie der Macht auf Dauer nicht in die Hände Einzelner gehören konnte. Kein Mensch ist stark genug, solche Macht für immer und ewig zu kontrollieren. Die Gefahr, dass die Magie der Schwerter die Kontrolle über den Geist des Menschen gewann, der sie eigentlich beherrschen sollte, war viel zu groß. Ich selbst habe die Versuchung gespürt. Ich habe damals nicht nur einen Augenblick lang darüber nachgedacht, wie es wäre, mit Hilfe der magischen Schwerter ein weltumspannendes Reich zu schaffen. Ein gutes Reich, natürlich. Aber wäre mir das gelungen? Ich war mir meiner selbst nicht sicher, wie konnte ich da erst an zukünftige Inhaber dieser Macht glauben? Nein, ich weiß genau, dass es richtig war, die Schwerter zu versiegeln und ich hoffe, ich habe es auf eine Art getan, die weder von Menschen, noch von Göttern, nicht von Trollen und Dämonen rückgängig gemacht werden kann. Die Menschen sind stark und zäh. Sie brauchen keine Magie, um auf dieser ihrer Erde zu leben und zu überleben. Ich weiß, dass ich gut daran getan habe, die Schwerter zu versiegeln. Hast du mich deshalb so lange gemieden, mein Bruder?“

      Der Bär nickte bedächtig.

      „Ja, auch deswegen. Aber auch, weil ich zu erkennen glaubte, dass du mit den Schwertern auch jene Art von Mut abgelegt hattest, die dich von allen anderen Menschen unterschied. Du warst der geborene Krieger und hast aufgehört, dieser zu sein. Erst jetzt habe ich begriffen, dass du der Hexe nicht gewachsen warst, weil du um dich um diejenigen sorgtest, die dir wichtig waren. Auch ich bin nichts weniger als allwissend. Als ich erkannte, dass der Krieger in dir wieder erwachte, als der Scheiterhaufen deines Ziehbruders zu brennen begann, beschloss ich, dich auf deinem letzten Weg zu begleiten. Du hast es verdient.“ „Mein letzter Weg steht bevor? So darf ich endlich den Menschen folgen, die mir zu ihren Lebzeiten so viel bedeutet haben?“ „Die Zeichen sagen es.“ „Dann machen mir die Zeichen seit langer Zeit wieder einmal Freude. Kannst du mir Genaueres sagen, Bruder Bär? Wann werde ich meine letzte Reise beginnen? Wohin wird mein letzter Weg mich führen? Werde ich Rollo wiedertreffen? Oder gar Shakira? Wo werde ich im Leben nach diesem Leben jagen?“ „Du weißt, dass die Zeichen über solche Einzelheiten keine Auskunft erteilen, nicht wahr? Du weißt es, also weshalb fragst du? Der letzte Weg steht dir unmittelbar bevor, dies sagen die Zeichen. Sie sagen aber nicht, wann dieses Unmittelbar sein wird und nicht, wie lange der Weg selbst sich dahin ziehen mag. Doch in deinem ganz besonderen Fall sagen sie etwas absolut Ungewöhnliches. Deshalb bin ich auch hier.“ Der Bär legte eine kleine Pause ein, während welcher er Shandra mit seinen gelben Raubtieraugen durchdringend musterte. Dann aber fuhr er fort:

      „Dein letzter Weg könnte sogar schon begonnen haben. Doch da du bist, wer du bist, kann dieser Weg nicht zu Ende sein, ehe du nicht noch ein paar Aufgaben – kleinerer oder auch größerer Art, wer mag das schon beurteilen – erledigt hast.“

      Wieder entstand eine kleine Pause, ehe der Bär fortfuhr.

      „Du musst deine Rache an der Hexe vollziehen. Ich habe mit den Schmieden darüber gesprochen und auch mit anderen, für gewöhnlich weisen und kühl überlegenden Wesen. Die Hexe Sungaeta darf nicht mehr am Leben sein, wenn du diese Welt verlässt. Sie stellt einen Anachronismus dar und ein Ungleichgewicht auf der Erde, in dem Moment, da du nicht mehr bist. Das darf nicht sein, es würde die Welt aus den Angeln heben und alles vernichten, was in den letzten fast viertausend Jahren neu geschaffen wurde. Die Schmiede und Ihresgleichen haben nicht mehr die Möglichkeit, unmittelbar in die Ereignisse einzugreifen, seit du die Magie der Schwerter versiegelt hast. Deshalb kommt dir die Aufgabe der Vollstreckung zu. Sie haben das Urteil gefällt. Dies ist eine deiner Aufgaben.“

      „Eine lösbare Aufgabe, die nur wenig Zeit in Anspruch nehmen wird.“

      „Die Hexe wird dir etwas hinterlassen. Ein lebendes Wesen, dessen Bedeutung vielleicht sogar noch größer für die Welt ist, als es einstmals die deine war. Deine Aufgabe wird es sein, diesem Lebewesen das notwendige Rüstzeug mitzugeben, dass es den Aufgaben gewachsen sein wird, die es erwarten.“

      „Ich soll wieder einmal den Lehrer spielen? Nun gut. Von welcher Art ist dieses ominöse Lebewesen?“

      „Das wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass es sich ohne entsprechende Anleitung zu einem schrecklichen Monster entwickeln kann und wahrscheinlich auch wird. Das muss vermieden werden. Du wirst das Wesen auf den richtigen Weg bringen, ehe du dein Lebensziel erreichen kannst.“

      „Hast du noch mehr Ansprüche dieser Art an mich?“

      „Bruder, diese Forderungen stammen nicht von mir. Nicht allein von mir, jedenfalls. Erfülle sie und du wirst es nicht bereuen.“

      Der silbern glänzende Astralleib des Bären verblasste nun rasch und Shandra fühlte sich plötzlich nicht mehr wirklich wohl außerhalb seines Körpers. Rasch sah er sich um, dann glitt er hinunter und hinein in die Hülle, die sein Körper war und er war froh, die beiden Wölfe an seiner Seite, in seinem Leben zu wissen. Ganz eng an ihn geschmiegt sorgten sie für Sicherheit, Wärme und Geborgenheit und Shandra konnte sich mit genügend Zeit und Gelassenheit in seinem Körper wieder zurechtfinden.

      Es war lange her, dass sich Shandra in einer ähnlichen Situation befunden hatte und damals waren es die Urahnen der beiden Wölfe gewesen, die ihm jetzt zur Seite standen. Shandra wusste, dass es sich auch bei diesen beiden Tieren um ein Mysterium handelte, denn wie sonst war es möglich, dass sie sich schon so oft erneuert hatten? Immer dann, wenn der natürliche Lebenszyklus der Wölfe erreicht war, hatten diese sich eines Nachts gemeinsam davon gemacht. Doch stets waren wenige Tage später neue Wolfswelpen in Shandras Leben aufgetaucht und in diesen neuen Tieren waren stets die Eigenschaften und Erfahrungen all ihrer Vorgänger vorhanden gewesen. Seltsamer Weise war es Shandra nie eingefallen, sich gegen dieses Mysterium, gegen diese Magie zu wehren. Er hatte die Existenz der Wölfe stets dankbar angenommen und sie zu einem Teil seines Lebens werden lassen.

      Nun, da er zwischen den beiden starken Tieren lag und ihre Wärme in seine Glieder strömen fühlte, liebte er die beiden besonders intensiv, denn sie waren zu seiner letzten und einzigen Bindung an das Leben in dieser, seiner Welt geworden.

      Shandra schlief zwischen die beiden Wölfe geschmiegt ein. Sein Schlaf war tief und traumlos und als er früh am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich ausgeruht und entspannt und die Erinnerung an seine Begegnung mit dem Bären der Grazalema glich der Erinnerung an ein reales Ereignis.

      Er nahm die ihm gegebenen Informationen ebenso an, wie er die ihm gestellten Aufgaben akzeptierte. Er wusste nun, wohin sein Lebensweg führte und was er zu tun hatte. Das Wie würde sich wie von selbst ergeben. Dessen konnte er sich sicher sein. Shandra befand sich an der Grenze seines Seins und er freute sich darauf, diese Grenze zu überschreiten, obwohl ihm bewusst war, dass auch er diese Welt nicht verlassen würde, ohne Wunden und Narben zu hinterlassen.

      Die Wölfe verließen das Lager lange, ehe Shandra seine Packlasten auf den Rentieren festgezurrt hatte und ebenfalls zum Aufbruch bereit war. Sie waren Jäger und sie versorgten sich selbst. Dennoch, das wusste Shandra, waren sie nie soweit von ihm weg, als dass sie in einer