Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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Mehr noch, die Zwischentöne der hinter Worten verborgenen Empfindungen wurden unter Telepathen weitaus deutlicher ausgetauscht, als dies je mit Worten möglich gewesen wäre und so konnte Shandra der Hintersinn in Sungaetas Worten unmöglich entgehen.

      „Du hast mich natürlich sofort erkannt, alter Krieger. Ich habe es auch nicht anders erwartet. Einen alten Fuchs wie dich zu täuschen, ist offenbar kaum möglich. Seit wann weißt du, dass die Katze meinem Geist gehorcht?“

      Shandra war sich absolut sicher, dass es sich hierbei um eine Fangfrage handelte. Die Hexe hatte nichts anderes im Sinn, als ihn zu verunsichern. Ihr ganzes Verhalten, ihr Denken, alles was sie war, kannte nur ein einziges Ziel:

      Shandra el Guerrero endgültig zu vernichten.

      Um dieses Ziel zu erreichen, gab sie keinen Vorteil aus der Hand, selbst wenn dieser noch so klein und unbedeutend erscheinen mochte. Daher ihre scheinheiligen Fragen.

      „Du weißt genau, dass ich das wahre Wesen des Tigers gerade in diesem Moment erst begriffen habe. Ich vermute, du warst schon lange im Kontakt mit meinen Gedanken und hast mich durch deinen vierbeinigen Sklaven überwacht. Ich hätte es ahnen können, ja, wissen müssen, aber ich war offenbar taub und blind für die Wege des Geistes und der Geister. Nun gut. Jetzt weiß ich Bescheid und kann mich wappnen.“

      „Oh, sieh an, welch neuartige Bescheidenheit du an den Tag legst! Hast du gelernt und begriffen? Wenn ja, wer war dein Lehrer?“

      „Versuch nur weiter, dich über mich lustig zu machen. Es stört mich nicht. Nichts, was du tust stört mich mehr, denn du hast keine Macht mehr über mich, Hexe. Jetzt aber sag mir, was du willst und dann lass mich zufrieden.“

      „Was ich will? Nun, das ist einfach. Ich will dich endlich tot sehen. Dich und alles was du verkörperst. Du bist der einzige Mensch auf dieser Welt, so hat es mir mein Geisttier verkündet, der mich noch daran hindern kann, meine Hände nach dem Herzen des Wissens und der Macht auszustrecken. Solange du am Leben bist, werde ich das Wissen nie ungestört und für mich allein haben können. Du musst also sterben und ich habe mir vorgenommen, dass dein Tod ein gänzlich anderes Format haben muss, als der den Jelena, Shakira und Rollo starben. Auch ein anderes Format als der Tod meiner beiden Urenkelinnen, Sorcha und Kithuri. Sie alle sind einfach und schnell gestorben und diese Freude soll dir keinesfalls vergönnt sein. Langsam sollst du sterben. In vielen kleinen Abschnitten. Steig nur den Berg herunter, komm zu meinem Lager und deine Freundin Sungaeta wird dir zeigen, mit wie viel Phantasie sie ausgestattet ist, wenn es darum geht, dich ins Jenseits zu befördern!“

      Die Worte der Hexe, ihre Drohungen, dröhnten in Shandras Geist, als wären sie mit hartem Metall unterlegt. Mehr noch, zusammen mit den Worten begannen auch noch andere Empfindungen in Shandras Kopf zu sickern und dort Form anzunehmen.

      Das stärkste dieser Gefühle war die Angst.

      Eine schreckliche, geradezu hündische Angst vor der bösartigen Macht der Hexe. Sie begann sich in Shandras Geist zu manifestieren und diese Angst versuchte das zu bewirken, was bis zu diesem Tag bei jedem seiner Versuche, die Tundra zu verlassen ausgelöst worden war.

      Das Bedürfnis, die Reise abzubrechen, umzukehren und in der Unendlichkeit der Tundra nach Sicherheit vor dieser bösartigen Macht zu suchen. Die Angst wurde nahezu übermächtig in seinem Geist.

      Shandra begann am ganzen Körper zu zittern, seine Blicke zuckten fahrig hin und her, er war nicht mehr in der Lage, der großen Katze in die gelben Augen zu schauen. Doch plötzlich war da etwas an seinen Beinen. Zuerst an der linken Seite und im nächsten Augenblick auch auf der rechten Seite. Die Berührung von weichem Fell, kühle Nasenknollen, die sich in seine Handflächen drückten und den bis dahin hilflos hinunter hängenden Händen ein Ziel, einen Halt boten. Die beiden Wölfe hatten sich eng an Shandras Beine geschmiegt und von dieser Berührung ging eine Kraft aus, die rasch und auf seltsam mühelose Art und Weise in der Lage war, die Emanation der Angst zunächst zu dämpfen und dann ganz zu verdrängen.

      Plötzlich war es Shandra, als ob sein Geist von einem hellen Licht durchflutet würde, ein Licht begleitet von Wärme und dem Gefühl überschäumender Lust und Lebensfreude, ein gewaltiger Strom innerer Kraft, der die von der Hexe gesandten Ängste einfach wegspülte. Shandras Geist klärte sich, sein Körper lockerte und löste sich, er richtete sich aus der momentan eingenommenen verkrampften, zusammengezogenen Pose auf, das Zittern verschwand aus seinen Gliedmaßen und Shandra stand hoch aufgerichtet und stolz auf der Höhe des Grates, erwiderte die Blicke des Tigers voller Stolz und gleichzeitiger ruhiger Gelassenheit, dann antwortete er der Hexe:

      „Ich nehme deine Einladung an, alte Hexe. Ich werde kommen und ich verspreche dir, du wirst dir wünschen mit deinen Äußerungen behutsamer gewesen zu sein. Ich habe eine lange Liste von Untaten, die du zu verantworten hast und wir werden diese Liste zusammen abarbeiten. Danach magst du versuchen mich zu töten. Wenn es dir gelingt, bin ich nicht wert, auf dieser Welt zu sein. Doch ich denke, ich muss mir keine Sorgen machen. Es wird dir nicht gelingen. Shandra el Guerrero wurde noch niemals besiegt.“

      Rollos Schwerter waren sorgfältig in fettige Lappen eingewickelt und staken unter den dicken Packen mit Fellen, die er einem der Rentiere aufgeladen hatte. Neben den Schwertern, die Shakira und Jelena getragen hatten, hatte er sich auch von diesen beiden Erinnerungsstücken nicht trennen können. Nun holte Shandra die beiden starken Klingen hervor, legte das Gehenk an, das die Schwerter in ihren Rückenscheiden hielt und stellte sich in Position. Er atmete tief durch und er befolgte die Anweisungen, die in seiner Erinnerung begraben, auf die Wiedererweckung gewartet hatten. Erinnerungen an die Lehren seiner früheren Fechtmeister, dem Samurai aus Ama no Mori und Inaka, dem Inuitgeist des magischen Schwertes, das er dereinst getragen hatte.

      Langsamste Bewegungen, wie abgezirkelt. Ausatmen und dabei Spannung aufbauen. Spannung halten, einatmen und dabei Spannung abbauen. Seine Füße erinnerten sich an die Muster, die ihn Minaro gelehrt hatte, er bewegte sich in den Kreisen des Schwertes wie es eines Kriegers würdig ist. Seine Arme vollführten die Schwünge, seine Hände lagen locker am Heft der Klinge und aus einem zu Anfang ein wenig ungelenk und stockend wirkenden Bewegungsablauf wurde rasch ein geschmeidiges Dahingleiten, ein tödlicher Tanz mit blitzenden Klingen aus grün schimmerndem Stahl.

      Obwohl die Klingen für Shandra zu lang waren, fühlten sie sich doch gut in seinen Händen an. Er verstand sie zu führen, er wurde eins mit den Katanas und als er seine Übungseinheiten beendete, war er zwar in Schweiß gebadet, doch sein Atem ging ruhig und seine Muskeln gehorchten den Befehlen seines Gehirns, als wäre er soeben nach tiefem und erholsamem Schlaf aus seinen Fellen gekrochen.

      Shandras Geist entwickelte Bilder von Kampf und vom Töten und dank dieser Bilder war er in der Lage, seine Kata, die Übung der Kampfkunst in derselben Form zu absolvieren, wie es ihn Minaro vor so vielen Jahrhunderten gelehrt hatte.

      Seit zehn Tagen hatte Shandra sein Lager auf der Höhe des Grates aufgeschlagen. Ein kleines Feuer brannte am Fuß des mächtigen Monolithen und Shandras Kleidung und seine Felle lüfteten und trockneten neben diesem Feuer. Seit zehn Tagen absolvierte Shandra täglich drei Übungseinheiten mit den Schwertern, den Wurfmessern und den Shuriken. Sein Körper begann mehr und mehr, die so lange verborgen gebliebenen Befehle der Kampfkunst wieder zu akzeptieren. So erkannte Shandra, dass der Geist des Bären die Wahrheit gesagt hatte:

      Der Krieger in ihm war zurück und je weiter Shandra in seinen Übungen voran kam, desto stärker wurde auch die in ihm aufkeimende Lust am Kampf und am Sieg. Allerdings verlangte die Natur einen gewissen Tribut für die Rückgabe dieser Fähigkeiten. Der Schweiß floss in Strömen und am Abend, ehe der erholsame Schlaf ihn umfing, verspürte Shandra Schmerzen wie sie eigentlich nur aus einer langwierigen und schweren Krankheit entstehen konnten.

      Shandra hatte deshalb keine Eile, den Berg hinab zu steigen.

      Erst dann, wenn sich das Gefühl einstellte, wirklich bereit zu sein für einen Kampf mit sicherlich blutigem und tödlichem Ausgang für mehr als nur einen Menschen, erst dann wollte er seine Rentiere beladen und hinunter führen. Es war nicht nur der Krieger, der wieder in ihm erwacht war. Auch der Stratege, der Planer und Lenker von blutigen