Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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weitaus besser im Ziel.

      Doch er war durch die beiden Treffer in seiner Beweglichkeit mehr als nur ein wenig eingeschränkt und musste sich deshalb besonders in Acht nehmen, wollte er diese Schlacht überleben. Vor allem der Pfeil, der in seinem Bein steckte, behinderte ihn ziemlich. Zum Glück besaßen die Sungaiten keine Metallspitzen an ihren Pfeilen und die Beinspitzen, die sie verwendeten, waren einfach glatt geschnitzt und ohne Widerhaken. Shandra zog sich für ein paar Momente hinter die Erderhebung zurück, die ihn, als er sich nieder kauerte, vollständig den Blicken seiner Feinde entzog. Er hockte sich auf die rechte Ferse und streckte das linke Bein lang aus, entspannte seine Muskulatur, dann griff er zu und zog den Pfeil mit einem entschlossenen Ruck aus seinem Fleisch.

      Zurück blieb ein Loch in seinen ledernen Leggins und im Oberschenkel eine runde Wunde, die nicht einmal übermäßig stark blutete. Ein paar tiefe Atemzüge sorgten dafür, dass Shandra sich auf das Bein konzentrieren konnte, dann war es, als schaltete sein Gehirn die Schmerzzentren für diesen Bereich des Körpers einfach aus. Wenig später tauchte Shandra wieder hinter der Erdfalte auf und sein Hinken war kaum zu sehen, so sehr kontrollierte der Geist des Kriegers seinen Körper. Der schwere Hornbogen begann erneut sein Werk der Vernichtung auszuüben.

      Die Hexe stand vor ihrem Zelt und beobachtete den Krieger fasziniert.

      Es war lange her, dass sie beide sich so nahe gewesen waren, wie an diesem Morgen und Sungaeta konnte nicht umhin, Bewunderung für den Mann zu empfinden, den sie im Begriff zu vernichten war. Trotz ihres hohen Alters und ungeachtet der Tatsache, dass sie seit mehr als einhundertfünfzig Jahren kein eigenes Kind mehr zur Welt gebracht hatte, verspürte sie das immer noch in ihrer Erinnerung schlummernde Ziehen zwischen ihren Schenkeln. Sungaeta wusste, sie wäre nach wie vor bereit, sich diesem Mann immer wieder zu unterwerfen und seine Kinder zu gebären, wenn er dies nur wollte.

      Aber Shandra wollte sie nicht, er hatte sie nie gewollt.

      Nicht damals, als sie sich zum ersten Mal in der Weite der Steppe vor Karakorum begegnet waren, auch später nicht, als er und sein Begleiter Rollo sich die Nachkommen der Hexe als Buhlinnen in ihr Zelt geholt hatten. Er würde sie auch jetzt nicht wollen, dabei wäre eine Verbindung zwischen ihnen mit einer geradezu unglaublichen Nachkommenschaft gesegnet gewesen. Dessen war sich die Hexe absolut sicher. Er und sie, niemals wäre die Weltherrschaft so sehr in greifbarer Nähe gelegen, als in ihrer Vereinigung.

      Weshalb hatte er sie nie gewollt?

      Sungaeta war nach wie vor das, was jedermann mit Fug und Recht als Schönheit bezeichnet hätte. Obwohl sie die Mutter aller Sungaiten war und unglaublich alt, konnte man dieses Alter nicht sehen. Sie war von mongolischem Blut und, wenn die Aufzeichnungen stimmten, eine der vielen Nachkommen der großen Chane, die diese Welt von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unter ihrem Zepter vereinigt hatten. Temudschin und Börke, Kubilai und Usbek, das waren Namen, die in Karakorum auch jetzt noch wie Heiligtümer behandelt wurden, obwohl ihre ursprünglichen Träger schon seit vielen Jahrtausenden die Welt verlassen hatten.

      Sungaeta war groß.

      Groß für eine Frau und erst recht groß für eine Frau mit den schrägstehenden Katzenaugen, den langen, jettschwarzen Haaren und der feingliedrigen Statur ihres Volkes. Ihre Brüste waren immer groß und schwer und als Nahrungsquelle für die fast zwei Dutzend direkte Nachkommen unersetzlich gewesen. Ihre Hüften luden weit aus, in ihrem Schoss war stets genügend Platz für große, starke Kinder gewesen. All diese Attribute hatte sie behalten, obwohl sie nahezu genauso alt war wie Shandra. Achthundertvierundvierzig Jahre waren über die Hexe hinweg gegangen. Jahre, die ihr Wissen und ihre Macht innerhalb ihres Volkes einzigartig und unangreifbar hatten werden lassen. Sungaeta behauptete von sich, ein erfolgreiches Leben geführt zu haben. Erfolgreich bis auf einen Punkt. Ihr einziger Misserfolg stand ihr an diesem Morgen gegenüber.

      Sie fragte sich einmal mehr, warum ausgerechnet dieser Mann sie nicht gewollt hatte und weshalb seine Ablehnung in ihr einen derart abgrundtiefen Hass auslösen musste. Es war dieser glühende, gleißende Hass gewesen, der sie zu Handlungen getrieben hatte, wie sie in ihrem früheren Leben undenkbar gewesen wären. Erst aus Shandras Ablehnung und aus dem Hass, der daraus entstanden war, hatte sich die Schamanin und Heilerin zur Hexe entwickelt. Shandra el Guerrero war der Katalysator gewesen, der in Sungaetas Wesen Schwarz und Weiß, Gut und Böse getrennt und polarisiert hatte. Erst durch Shandras Zurückweisung war – davon war Sungaeta überzeugt - aus einer helfenden Schamanin eine machthungrige, boshafte und durch und durch eiskalte Hexe geworden….

      Mittlerweile war es beinahe taghell geworden und nur noch wenige Momente, dann musste die Sonne über dem östlichen Horizont aufgehen. Sungaeta war nicht in der Lage, ihre Blicke von dem Krieger zu nehmen, der solch tiefe Gefühle in ihr ausgelöst hatte. Sie beobachtete, in welch rasender Geschwindigkeit und mit welch unglaublicher Präzision er seinem Werk des Tötens nachging und es dauerte eine Weile, bis sich in ihrem Verstand die Erkenntnis ausbreiten konnte, dass dieser Satan, dieser von ihr zugleich so gehasste und geliebte Mann im Begriff war, alles zu vernichten, was die Hexe sich im Laufe ihres langen Lebens geschaffen hatte.

      Mehr als die Hälfte ihrer Krieger – ihrer Kinder – lagen bereits tot oder sterbend auf dem Boden. Immer noch staken mehr als zwei Dutzend dieser teuflischen Pfeile mit ihren stählernen Spitzen vor Shandra im Boden. Immer noch huschte der Krieger gleich einem schwarzen Schemen von Pfeil zu Pfeil und immer noch sang der schwere Hornbogen mit dröhnender Stimme sein Lied vom Tod.

      Die Hexe raffte sich auf, sie löste den Bann des Beobachtens auf und konzentrierte all ihre mentale Kraft auf den Geist des Kriegers. Sie griff Shandra mit allem an, was ihr bösartiger Geist an Kraft entbehren konnte und das war eine ganze Menge. Doch zu ihrem Erstaunen reichte ihre Kraft plötzlich nicht mehr aus. Ihre Angriffe krachten mit wütender Gewalt gegen eine eisblaue Wand aus härtestem Kristall, zerfaserten, zersplitterten, lösten sich in ein betäubendes Nichts auf. Shandras Geist war in einen unzerstörbaren Schutzkokon eingehüllt und wo immer die Hexe ansetzte, ihre Kräfte glitten wirkungslos ab.

      Der Krieger aber tobte weiter und schlachtete die Kinder der Hexe ab.

      Soeben hatte Shandra seinen letzten Pfeil, einen schweren, wuchtigen Bolzen mit weißer Fiederung hinaus gesandt und die massive Spitze hatte einem der älteren Männer unter seinen Feinden das Brustbein zerschmettert, war dort nach oben abgeglitten und dann tief in die Luftröhre des Mannes eingedrungen. Er war röchelnd in sich zusammen gefallen, rang nach Luft, die er nicht bekam und erstickte schon bald darauf an seinem eigenen Blut, welches ihm durch die Verletzung in die Lunge drang.

      Shandra ließ seinen Bogen fallen.Er stand auf dem höchsten Punkt der Erdfalte, sah seinen Feinden höhnisch entgegen und rief ihnen zu:

      „Nun werdet ihr Shandra el Guerrero aus nächster Nähe erleben! Seid ihr bereit, Kinder der Hexe, eure schwarzen Seelen aufs Spiel zu setzen und denen von euch zu folgen, die bereits von meinen Pfeilen auf die lange Reise geschickt wurden? Nun, dann passt auf, denn ich komme!“

      Er kam. Und wie er kam! Ein tollwütiger Wolf, der in eine Lämmerherde einbricht, kann sich nicht schlimmer gebärden als Shandra dies nun unter den vielleicht noch siebzig überlebenden Sungaiten tat.

      Sein Angriff glich einem akrobatischen Tanz, er schlug Räder und Salti, er sprang einen Flickflack am anderen und seine Bewegungen waren so schnell, dass es allenfalls einem unglücklichen Zufall gelingen mochte, ihn mit einem gezielten Pfeilschuss zu treffen. Shandra überbrückte auf diese Weise den Abstand zu den Sungaiten in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit und brachte sich in die Distanz, die am besten für den effektiven Einsatz seiner Wurfmesser und Shuriken geeignet war. Zehn bis fünfzehn Schritte vom jeweiligen Ziel entfernt war der richtige Abstand. Diesen hatte er erreicht und nun brach ein weiteres Debakel über die Sungaiten herein.

      Gleich einem wahnsinnigen Dämon raste Shandra an der Reihe der Sungaiten entlang und schleuderte aus beiden Händen Tod und Verderben unter sie. Zuerst waren es die schweren Wurfmesser, die mit einem ekelerregend klingenden Klatschen auf Knochen und Weichteile trafen und zumeist tödliche Wunden schlugen. Dann ergoss sich die Flut der schwarzen Stahlsterne über Shandras Feinde und als auch dieser tödliche Strom bösartiger Geschosse zu Ende war, stand Shandra hoch aufgerichtet