Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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und um ihn trauern, wenn er die Grenze des Seins auf dieser Welt überschritt.

      Shandra hing seinen Gedanken nach, solange er die Rentiere bepackte.

      Immer wieder erinnerte er sich an die Worte des Bären und dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass er schon in seiner Jugend mit einem gewissen Fatalismus auf alles reagiert hatte, was an ihn heran getragen worden war. Ohne sich groß zu wehren hatte er Aufgaben übernommen und ohne groß zu fragen war er Wege gegangen, die andere ihm gewiesen hatten. Vielleicht wäre es ja doch besser gewesen, wenn er mehr Widerstand gegen seine Auftraggeber gezeigt und so manches intensiver hinterfragt hätte. Aber offenbar waren ihm diese Eigenschaften nicht mitgegeben worden. Seit unendlicher Zeit erinnerte sich Shandra wieder daran, wie und von wem er gezeugt worden war und er erinnerte sich an seine Mutter Sombra. Sie war eine geklonte und im Labor eines verrückten Wissenschaftlers hergestellte Frau gewesen. Trotzdem war sie ein Mensch mit einer überragenden Persönlichkeit und sehr starkem Willen gewesen. Aber – wie er selbst – mit einem ausgeprägten inneren Zwang, die übertragenen Aufgaben auch auszuführen. Ein Instrument letztendlich von Kräften und Mächten, die zu erfassen er auch jetzt, nach einem nahezu tausendjährigen Leben immer noch nicht in der Lage war.

      Alle Lasten waren gleichmäßig verteilt und sicher befestigt. Shandra griff die Führleine des ersten Rentiers und schnalzte kurz mit der Zunge, zum Zeichen, dass der Marsch beginnen konnte. Die Zeit des Sinnierens und Grübelns war vorüber, es war wieder an der Zeit, zu handeln.

      Je tiefer Shandra in die Urwälder der Taiga vordrang, desto unwegsamer wurde das Gelände. Am Anfang waren die Anstiege von der Tundra her nur flach gewesen, doch mittlerweile durchzogen Schluchten und Klippen die Taiga und die Anstiege zu den Pässen, die Shandra überwinden musste, waren stets um ein Stück länger, als der nachfolgende Abstieg. So stieg Shandra nach und nach immer höher, einem mächtigen Gebirge entgegen. Wuchtige, gewaltige Felsriesen, die allerdings noch weit von ihm entfernt waren. Es war mühsam, mit vier Rentieren durch diese Wälder zu wandern, doch Shandra hatte keine Idee, von welchen Teilen seiner Ausrüstung er sich trennen sollte, also plagte er sich weiter mit den vier Tieren ab.

      Er und Rollo hatten viele Jahre lang in der Tundra und an den Grenzen zur Taiga Pelztiere gejagt und ein wesentlicher Teil dieser Jagdausbeute stellte nun die Traglasten der Rentiere dar. Shandra nahm an, dass er die Felle brauchen würde, wenn er in die Nähe anderer Menschen gelangte. Dann musste er in der Lage sein, Tauschgeschäfte zu machen. Deshalb konnte er weder die Pelze von Vielfraß und Feh und erst recht nicht die schier unbezahlbar wertvollen schwarzen Zobelpelze zurücklassen. Nur mit dem Wert dieser Pelze, davon musste er ausgehen, würde ihm eine vertretbar einfache Rückkehr in die Gemeinschaften anderer Menschen gelingen. Er nahm also die Mühe mit seinen vier Rentieren hin und akzeptierte, dass er deswegen nur relativ langsam voran kam.

      Gefördert durch all die Plagereien und Mühen, schweiften Shandras Gedanken auch tagsüber immer wieder ab. Immer wieder überdachte er seine Situation und stellte seine Entscheidungen vor sich selbst in Frage.

      „So ist der Krieger in mir zurückgekehrt?

      Der Bär sagt, er hat ihn erkannt. Ich selbst habe ihn noch nicht wieder entdecken können. Ich ahne allenfalls, dass da etwas sein könnte, dass früher einmal Shandra el Guerrero gewesen war. Ich plane meine unmittelbare Zukunft nicht wie ein Krieger, sondern eher wie ein Händler. Ich fürchte mich davor, anderen Menschen mit leeren Händen gegenüber zu stehen und sie durch die Kraft meines Körpers, meines Geistes und durch meine Kampfkunst für mich zu gewinnen.

      Bin ich dennoch auf dem Weg, am Ende meines Lebens wieder der Krieger zu werden?“

      Shandra folgte einem Höhenzug, auf dem die Tannen etwas weniger dicht standen. So kam er ein wenig schneller voran, doch seine Tagesetappen waren immer noch unglaublich kurz im Vergleich zu den Strecken, die er in derselben Zeit auf der Tundra oder in einer Steppe hätte zurücklegen können. Aber er kam voran und war deshalb doch zufrieden. Die Taiga verlangte ihm zwar weiterhin vieles ab, aber da ihn niemand hetzte, da er ohne jeden Zeitdruck unterwegs war, was spielten da ein paar Tage mehr oder weniger, die er für eine Etappe seiner Reise benötigte, denn für eine Rolle?

      Am Abend saß Shandra wieder an seinem kleinen Kochfeuer.

      Er hatte am Nachmittag ein fettes Schneehuhn erlegen können und bereitete es nun in einer Kochgrube neben dem Feuer zu. Die Füllung aus jungem Huflattich, der gerade seine gelben Köpfe aus dem gefrorenen Boden zu schieben begann, würde ihm einen besonderen Genuss verschaffen und zugleich seiner Gesundheit nützen, seine Abwehrkräfte stärken.

      Während er am Feuer saß, waren Shandras Gedanken zu seiner Begegnung mit dem Geist des Bären zurückgekehrt. Er war immer noch zutiefst beeindruckt von der ungeheuren Präsenz des Bärengeistes nach so langer Zeit ohne Kontakt. Zugleich aber machte ihm die Forderung des Bären zu schaffen, dass er Sungaeta zwingend töten müsse.

      Woher, so fragte er sich, nahmen eigentlich die Geister, die sein Leben so sehr geprägt hatten, immer noch das Recht, ihm den Tod von Menschen abzuverlangen?

      Hatte er ihnen in seiner Zeit als Krieger, Stratege und Schlachtenführer nicht schon Menschenleben genug zu Füßen gelegt?

      Niemand in seiner Welt und in seiner Zeit mochte mehr Menschen getötet oder ihren Tod veranlasst haben, als gerade er, Shandra el Guerrero. Natürlich, niemals war ein Menschenleben unbegründet ausgelöscht worden. Aber seit vielen Jahrhunderten stellte sich Shandra immer und immer wieder dieselben Fragen.

      „Ist der Tod eines Menschen durch einen anderen Menschen überhaupt zu rechtfertigen? Welcher Mensch, ob allein oder im Verbund mit anderen Menschen, hat das Recht, sich zum Richter und Henker über andere Menschen zu erheben?“

      Es gelang ihm nicht, zu diesen Fragen auch passende Antworten zu finden. Nicht an diesem Abend, auch nicht an den folgenden Abenden, obwohl er sich unablässig darum bemühte. Stattdessen tauchte eine neue, zusätzliche Frage in seinem Geist auf:

      „Ob es zu all diesen Fragen überhaupt Antworten gab?“

      Viele Tage und Nächte waren vergangen, seit er dem Geist des Bären begegnet war und dessen Informationen empfangen hatte. Tage, während welcher er weiterhin in südwestlicher Richtung unterwegs war. Tage, während derer er wieder und immer wieder die Spur der großen Katze kreuzte, die unbeirrt in dieselbe Richtung wie Shandra wanderte und dabei auch noch nahezu dasselbe Marschtempo einhielt. Tage, verbunden mit Nächten, während derer er oft schlaflos auf seinen Fellen lag und über seine Begegnung mit dem Geist des Bären grübelte.

      Mittlerweile war der siebte Monat des Jahres seiner Wanderung nach Südwesten angebrochen. Der Weg durch die Taiga war in den letzten Tagen etwas leichter geworden, denn die permanenten Anstiege, das Überwinden immer neuer Höhen und Pässe führte Shandra ganz allmählich über die Baumgrenze hinaus. Die Bäume wurden immer niederer und gedrungener, dann wichen sie kräftigen, den Boden deckenden Sträuchern und als auch diese verschwanden, konnte Shandra eines Tages an einem frühen Vormittag endlich wieder den freien Blick in alle Himmelsrichtungen genießen. Vor ihm lag der Aufstieg zu einer Passhöhe und irgendwie stellte sich bei ihm das Gefühl ein, dass er mit dem Erreichen dieses Passes den höchsten Punkt seiner Reise durch die Taiga und das Gebirge erreicht hatte. Er drehte sich nicht um und sah zurück. Noch nicht. Erst wenn der die Passhöhe erreicht hatte, wollte er zurück in seine Vergangenheit schauen, ehe er die unmittelbare Zukunft in Augenschein nahm.

      Der Aufstieg über die mit kurzem Gras bewachsene Gebirgsflanke war steil und anstrengend und Shandra kam nur langsam voran. Doch bis zur Mitte des Nachmittags hatte er es geschafft. Auf dem höchsten Punkt des Passes ragte ein mindestens drei Mann hoher Monolith aus der Erde und am Fuße dieses Monolithen hielt Shandra an, sicherte seine Lasttiere und nahm sich endgültig die Zeit, sich umzudrehen und in das Land zu blicken, das hinter ihm lag, in seine eigene Vergangenheit.

      Er blickte über das schwarzgrüne Meer der Taiga. Einen Ozean aus Bäumen, welchen er in den letzten Monden durchquert hatte und er konnte weit draußen sogar den Saum des Urwaldes und den Beginn der Tundra noch recht deutlich im Schein der Nachmittagssonne erkennen. Die Tundra selbst aber versank im Dunst des Sommertages und so war Shandras Rückblick nur