Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


Скачать книгу

in ihm hoch.

      Es war in jener Zeit gewesen, als Shakira gerade von ihnen gegangen war und sich bei Rollo die ersten Anzeichen der geheimnisvollen Krankheit zeigten, die ihn am Ende so jämmerlich hatte sterben lassen. Sungaeta hatte es verstanden, sich in Shandras Vertrauen einzuschleichen und so konnte sie ihn dazu bewegen, ihr die Haut zu überlassen, denn nur mit Hilfe dieser Haut in Verbindung mit ihren eigenen, überragenden Fähigkeiten als Heilerin bestünde eine kleine Chance, Rollo wieder gesund zu machen. Als sie die Haut aber erst einmal in ihren Händen hielt, fiel es ihr nicht mehr besonders schwer, ihm eines nachts auch das Horn von seinem alten Wehrgehenk zu stehlen.

      Shandra hatte den Diebstahl erst Tage später bemerkt, denn solange sie sich im unmittelbaren Umfeld Sungaetas bewegten, war ihm stets, als wäre sein Gehirn in Watte gepackt und seine Reaktionen erfolgten immer langsam und mit großer, zeitlicher Verzögerung. Er hatte nicht die Kraft aufgebracht, sich gegen Sungaeta zu wehren. Wie gelähmt in seiner Kraft, unfähig eine andere als die von der Hexe gewollte Entscheidung herbeizuführen, hatte er den Diebstahl hingenommen und war seiner Wege gegangen. Rollo hatte ihm deswegen Vorhaltungen gemacht, doch nichts was der Bruder hätte anführen können, wäre zu Shandra durchgedrungen.

      Jetzt, da er in absoluter Einsamkeit wie ein düsterer Schatten durch die Taiga wanderte, wurde ihm nach und nach bewusst, was er der Hexe Sungaeta alles zu verdanken hatte. Natürlich hatte die Hexe niemals auch nur den kleinsten erkennbaren Versuch unternommen, Rollo zu heilen oder ihm wenigsten mit Hilfe der Haut das Leben leichter zu machen. Sungaeta benützte die Haut vielmehr ausschließlich dazu, ihre verschiedenen Liebhaber wieder auf Vordermann zu bringen, wenn sie durch die Ausschweifungen und Orgien mit der Hexe erschöpft waren.

      Die Erinnerungen an Sungaetas Verrat und an ihren Diebstahl, die Erinnerung an ihre Hinterlist und an Rollos unendlich langes Leiden und seinen qualvollen und einsamen Tod trugen nicht dazu bei, Shandras Hass und Wut zu verringern.

      Die Rückkehr des Bärengeistes in Shandras Gefühlsleben festigte die Grundlage für all seine Wut und all seinen Hass. Auf diese Weise stellte sich mehr und mehr die richtige Gefühlsbasis ein, um die Rache an Sungaeta vorzubereiten und später zu vollziehen. Allerdings erinnerte sich Shandra an eine alte Weisheit, die er während seines Heranwachsens immer und immer wieder von seinem Ziehvater Ragnar gehört hatte. Rollos leiblicher Vater hatte seinen Zöglingen eingebläut, dass Rache schon immer eine Speise gewesen war, die man vorzugsweise kalt zu sich nehmen sollte. Aus diesem Grund musste er alles daran setzen, mit den immer stärker werdenden Gefühlen fertig zu werden, sie zu zähmen, zu kanalisieren und in Bahnen zu lenken, auf welchen sie ihm nicht zur Gefahr wurden, sondern ihm halfen, seine Rache wahr werden zu lassen.

      Die Kälte seiner Gedanken, die ihn vor Jahrhunderten zu einem derart erfolgreichen Strategen gemacht hatten, sie begann nach und nach die Oberhand in Shandras Geist zu gewinnen und diese Kälte führte ihn wieder nach oben, an die Spitze, dorthin, wo der Planer und Schlachtenlenker stets seinen Platz gefunden hatte.

      Shandra nutzte die Gelegenheit, da er eine kleine Lichtung fand, sich wieder einmal zu orientieren.

      Es war später Nachmittag und die Strecke, die er an diesem Tag noch zurücklegen konnte, ehe die Nacht hereinbrach, war nicht von irgendeiner Bedeutung. Er war auch an diesem Tag weitergekommen, als er geplant hatte.

      Er beschloss also auf dieser Lichtung sein Camp aufzubauen und hier die Nacht zu verbringen.

      Mittlerweile war das Frühjahr schon so weit fortgeschritten, dass selbst im dichten Schatten der Bäume kaum mehr Schnee lag. Nur in ganz versteckt liegende Kuhlen und Senken fand man noch Reste der weißen Masse, die Shandra zuerst so verabscheut hatte und die ihm doch im Laufe der Jahrhunderte seines Lebens vertraut genug geworden waren. Er lernte auch ihre guten Eigenschaften kennen und zu schätzen. Solange noch Schnee zu finden war, gab es zum Beispiel keinen Mangel an Trinkwasser und in den schneegefüllten Senken konnte man wunderbar Fleisch und andere Nahrungsmittel aufbewahren. Dinge, die leicht verderblich waren, blieben in den mit Schnee gefüllten Senken und Mulden über viele Tage hinweg genießbar. Für die Rentiere hatte die Zeit der Fülle begonnen, sie fanden überall genug junge Triebe, frisches Gras und blühende Kräuter, Moose und Farne, die den Hunger von ihnen fern hielten und alle Mangelerscheinungen des langen Winters rasch kompensierten. Innerhalb weniger Tage hatten sie den kompletten Fellwechsel vollzogen und ihr Fleisch begann, das Sommerfell glatt zu ziehen und mit Glanz zu füllen. Dennoch fühlten sich die vier starken Bullen in der Düsternis der Taiga genauso unwohl, wie Shandra. Die einzigen, denen die Taiga wirklich Spaß zu machen schien, waren Geri und Freki, die beiden starken Schwarzwölfe. Die Jagd im Urwald wurde ihnen um ein Vielfaches leichter gemacht, als draußen auf der Tundra. Hier konnten sie sich wie die Raubkatzen an die Beute anschleichen und blitzschnell zupacken. Beute machen, ohne dass es dazu langer, kraftraubender Hetzjagden bedurft hätte, das gefiel den beiden großen Rüden.

      Auch an Wasser herrschte niemals Mangel und als es rasch noch wärmer zu werden begann, fanden sie immer einen kühlen Platz, an welchem sie sich verstecken und ausruhen konnten. Shandra gewann den Eindruck, die Wölfe wären möglicherweise sogar gerne im Urwald geblieben.

      Shandra nahm den Rentieren die Traglasten ab und fesselt ihnen die Vorderbeine zusammen. So konnten die Hirsche äsen und sich ziemlich frei bewegen, doch wegzulaufen vermochten sie nicht. Dann baute er schnell und routiniert sein kleines Zelt auf, welches er sich aus Teilen der großen Jurte gebastelt hatte, ehe er diese als Scheiterhaufen für seinen Freund und Ziehbruder benutzt hatte. Als das Zelt stand, streifte er unter den nächsten Bäumen herum und hatte rasch genügend Totholz gesammelt, um ein kleines aber sehr heiß brennendes Kochfeuer zu errichten. Aus seinen Vorräten holte er das letzte Stück einer Hirschlende und bereitet sie vor, über den Flammen gebrutzelt zu werden. Er holte mit seinem Wasserkessel genügend Schnee aus einer naheliegenden Kuhle und hängte den Kessel über die Flammen, damit der Schnee schmelzen konnte. Shandra bereitete sich allabendlich einen kräftigen Kräutersud zu, der seine Abwehrkräfte stärkte und Erkältungen zu vermeiden half.

      Shandra hatte sich aus einem Rentierfell ein Sitzkissen zusammen gefaltet. Auf diesem hockte er jetzt entspannt am Feuer, beobachtete den Waldrand entlang der kleinen Lichtung und ließ seine Gedanken schweifen, während seine Sinne, sein Unterbewusstsein nicht aufhörte, die Geräusche des Waldes zu registrieren und den Rand des Schattens zu beobachten. Er hörte die Annäherung der Wölfe viel früher, als er die erste Bewegung unter den Bäumen wahrnehmen konnte. Er begrüßte die beiden schönen und starken Tiere wie gewohnt liebevoll und er freute sich, dass sie offenbar die Absicht hatten, die Nacht bei ihm im Camp zu verbringen. Er mochte es, wenn die beiden Wölfe sich an seinen Flanken nieder taten und ihm während der Nacht das Gefühl gaben, er sei doch nicht ganz allein auf dieser Welt.

      An diesem Abend schien sich etwas ganz Besonderes anzubahnen, denn die Wölfe suchten seine Nähe auf eine Art, die ganz und gar ungewöhnlich war. Sie schmiegten sich besonders eng an ihn und hielten ihre goldfarbenen Lichter wie hypnotisiert auf ihn gerichtet. Die Wölfe warteten auf etwas, das war unübersehbar. Ein Ereignis von hoher Bedeutung stand unmittelbar bevor.Shandra war satt und entspannt.

      Der Nachthimmel wölbte sich über ihm und es war eine der Nächte, die über der Frühjahrstaiga besonders seltenen sind. Der Vollmond überzog den Himmel mit seinem samtenen Glühen und kein einziges Wölkchen behinderte die Sicht auf die Flammenpunkte der Sterne. Es war dunkel auf der Lichtung und nur das Knacken der brennenden Zweige in Shandras Feuer und die fernen Geräusche des nächtlichen Urwalds störten die Stille minimal und da geschah es.

      Shandra hatte vergessen wie es sich anfühlt, wenn sich Geist und Körper plötzlich voneinander zu trennen beginnen. Jetzt kehrte die Erinnerung zurück, der Geist des Bären war in ihm und übernahm plötzlich das Kommando. Shandras Körper wurde still und steif und dann begann sich sein Geist vom Körper zu lösen und schwebte als ein beinahe transparentes, silbern schimmerndes Abbild seiner realen Gestalt hoch oben auf der Höhe der Baumwipfel über der kleinen Lichtung. Shandra fühlte sich ausgesprochen wohl, obwohl er nackt und die Nacht alles andere als warm war. Er sah sich neugierig um und ihm war so, als müsste er jeden Augenblick Besuch bekommen. Tatsächlich,