Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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mich danach, diese Welt verlassen zu können und endlich meine Ruhe zu finden. Auch ich habe genug von all den Kämpfen, der ewigen Unrast, den unendlichen Wanderungen und der vielen Verluste, die wir erleiden mussten. Doch mir ist es scheinbar noch nicht vergönnt und so fällt es mir schwer, dass ich einen Weg ohne dich zu Ende gehen muss, wo du doch seit meinem ersten Schrei bei mir warst. Bruder, ich wünsche dir deshalb eine bessere letzte Reise, als du sie mit mir hattest. Gib mir noch einmal deine Hand und dann mach dich auf den Weg. Lass die Schmerzen und Qualen hinter dir und grüße mir unser Land.“

      Der alte Mann nickte bedächtig und antwortete wieder erst nach einer langen Pause:

      „So soll es sein Bruder. Ich bitte dich aber noch um eines. Nimm meine Schwerter an dich und trage sie, bis du einen würdigen Platz findest, sie ebenfalls zu bestatten. Ich will nicht, dass sie in diesem verfluchten Land bleiben. Nimm auch meinen Dolch an dich, denn in ihm steckt immer noch ein Teil meiner Seele. Meinen Bogen aber verbrenne und wärme dich an seinem Feuer, vielleicht hilft dir dies, die Kälte zu überstehen. Bestelle den Wölfen meinen letzten Gruß, falls sie wieder kommen und nun soll es genug der Worte sein. Lass mich gehen.“

      Der Alte reckte seine einstmals mächtige und nun seltsam dürr gewordene Pranke über das Kohlebecken und der Jüngere ergriff sie mit beiden Händen und hielt sie mit festem Druck lange fest. Dann sagte er leise:

      „Leb wohl, mein Bruder, die Sonne mag dich küssen, wenn du dein Ziel erreicht hast.“ „Leb wohl mein Bruder und hör nicht auf den Weg zum Leben zu suchen.“

      Die Hand des alten Mannes entglitt den Fingern des Jüngeren, dann legte sich der Alte mit einem Seufzen zurück und schloss die Augen, um sie nie mehr zu öffnen.

      Der Jüngere starrte mit blinden Augen vor sich hin und kam sich unsäglich einsam und hilflos vor. Beinahe eintausend Jahre lang war er über die Erde gewandert und stets war sein Bruder an seiner Seite gewesen. Sie hatten wilde Schlachten geschlagen, ein mächtiges Reich zerstört und waren um die ganze Welt gezogen. Sie hatten Länder gesehen und Wunder, von deren Existenz nur wenige Menschen wussten und sie hatten Ereignisse überstanden, die ihnen auch dann niemand geglaubt hätte, wenn es lebende Zeugen dafür geben würde.

      Diese Zeiten waren vorbei, denn sein Bruder war von ihm gegangen, jetzt war er endgültig der letzte Überlebende der Grazalema und des Clans.

      Er hätte weinen wollen, doch wer hat jemals einen Krieger weinen sehen? Er hätte sich in seinem Bärenfell verkriechen wollen, doch selbst der Bär hatte ihn seit langem schon verlassen. Auch in die Erde konnte er sich nicht eingraben, denn diese war zu eisenhartem Stein gefroren und selbst mit den Schwertern seines toten Bruders wäre es ihm schwer gefallen, eine Grube auszuheben.

      Er starrte blicklos vor sich hin und war außerstande, einen Sinn für die Fortführung seines eigenen Lebens zu erkennen. Doch da, ganz so als stellte es eine Antwort auf seine unausgesprochenen Fragen dar, ertönte draußen ein Geräusch, das selbst im Sturmgeheul noch zu hören war. Der zweistimmige Gesang von Wölfen drang in das Zelt und mit einem Mal wusste der Mann, dass es für ihn noch nicht an der Zeit war, zu gehen.

      Er hatte noch eine Reihe von Aufgaben vor sich, die es zu erledigen galt.

      Die Jurte brannte lichterloh und in ihren steil in den kalten Himmel der Tundra aufsteigenden Rauch mischte sich der Geruch von brennendem und vergehendem Fleisch. Die Rauchsäule verfärbte sich zu einem öligen Schwarz und dann war der Mann sich plötzlich ganz sicher, dass die schwarzen Schlieren in der senkrecht aufsteigenden Säule die Form eines Mannes annahmen. Eines mächtigen Riesen, dessen gewaltiger Brustkorb von einem außerirdischen Lachen gedehnt wurde und aus dessen rauchgrauen Augen Blitze der überschäumenden Freude schossen.

      „So hast du den Weg also gefunden Bruder? Grüße mir die Heimat, lass sie wissen, dass auch mein Weg sein Ende finden wird und wir schon bald wieder gemeinsam jagen werden.“

      Der Mann hatte einen großen Schlitten mit seinen Habseligkeiten bepackt und vor diesem Schlitten warteten vier starke Rentiere darauf, eine lange Reise zu beginnen.

      Vor zwei Tagen war der alte Mann in den Abendstunden gestorben. Eine Nacht lang hatte der Überlebende sich seiner Trauer hingegeben, dann, als am nächsten Morgen die blasse Sonne des bevorstehenden Frühjahrs sich ihren kurzen Weg entlang des östlichen Horizontes bahnte, als die seit Monden anhaltende Mittwinternacht eine erste wahrnehmbare Unterbrechung erfuhr, war der Mann aus der Lethargie seiner Trauer erwacht und hatte begonnen, seinen endgültigen Abschied vom Freund und Bruder vorzubereiten.

      Die vier Rentierbullen waren ihnen seit langer Zeit treue Weggefährten gewesen. Je zwei von ihnen hatten einen Schlitten gezogen, doch der Mann benötigte für sich allein nur noch einen Schlitten. Er packte seine Habe zusammen, seine Jagdwaffen und Felle und alles, was noch an Essensvorräten vorhanden war. Er packte den Schlitten sorgfältig und deckte die Last mit dem großen, silbergrauen Bärenfell ab, welches ihn auf all seinen Wegen begleitet hatte. Er hüllte sich in die zwar zerschlissene aber immer noch halbwegs warme Reisekleidung aus Rentierfellen, die ihm seine letzte Gefährtin, die mandeläugige Sorcha genäht hatte, dann legte er Feuer an der Außenhaut der Jurte und sah zu, wie die Rauchsäule aufstieg und sich mit den dichten und tiefhängenden Wolken der zu Ende gehenden Polarnacht vereinigte. In seiner Linken hielt er einen mannslangen, geraden Stab, der von zahllosen Kerben übersät war. Der Stab war aus dem Holz einer andalusischen Korkeiche geschnitten worden und seine Kerben sagten dem Wissenden, welche Zeit seit seiner Herstellung vergangen war.

      Der Mann mochte es selbst nicht so recht glauben, aber er wusste, dass er diesen Stab seit seinem Abschied von Al Andalus, immer sehr sorgfältig geführt hatte. Am frühen Morgen hatte er die Kerben wieder einmal gezählt und so wusste er, dass seit dem Tag, an dem er bei Cadiz den Drachen bestiegen hatte, welcher ihn zusammen mit einer kleinen Streitmacht zur nebligen Insel gebracht hatte, ganz genau achthundertsechsundneunzig Jahre vergangen waren. Damals war er vierundzwanzig Jahre alt gewesen und somit bestand kein Zweifel daran, dass sein aktuelles Lebensjahr das neunhundertundzwanzigste war.

      Ein unfassbares Alter.

      Nur sein Bruder war ihm noch ein paar Jahre – sieben an der Zahl – voraus gewesen und wenn er nun zurückblickte, wusste er, dass es kein Segen gewesen war, so alt werden zu dürfen. Die Reihe der Menschen und anderer Lebewesen, die er auf seinem Weg durch die Jahrhunderte hatte zurücklassen müssen, war ungeheuer lang und voller schmerzlicher Erinnerungen.

      „Eigentlich ist mir nur der ewige Himmel geblieben. Nur er war mir treu, nur er hat mich auf all meinen Wegen begleitet und mich niemals verlassen.“

      Während seine Blicke dem Rauch hinauf in den Himmel folgten, begann vor seinem inneren Auge die Zeit rückwärts zu laufen.

      Die Wölfe an seiner Seite hatten sich vierzehn Mal erneuert, seit sie im Tal der grauen Bären zum ersten Mal seinen Weg gekreuzt hatten.

      Shaitan, den wundervollen schwarzen Hengst von uraltem iberischen Blut hatte er bei seiner Abreise nach Anglialbion zurücklassen müssen und auch den prächtigen Vollblüter Dunbeath konnte er damals auf seine Reise nach Norden nicht mitnehmen.

      Eine Reise, die nur einem einzigen Zweck gedient hatte.

      Die Schwerter der Macht waren aus der Welt zu schaffen, denn ihre Macht war zu groß, um von Menschen beherrscht zu werden. Obwohl irgendwann eine Idee des Guten die Herstellung der Schwerter begünstigt hatte, waren sie in den Händen von Sterblichen zu Werkzeugen des Bösen verkommen.

      Shandra erinnerte sich an die Menschen, die ihn auf diesem Weg begleitet hatten.

      Jelena, die Reusin, die Gefährtin seines Bruders, die untrennbar mit ihnen verbunden gewesen war, zu ihnen gehört hatte wie die Haare zu einem Schädel, war nur knapp zweihundert Jahre alt geworden. Sie war eines natürlichen Todes gestorben, denn ihre Gene waren nicht auf eine ähnliche Langlebigkeit programmiert gewesen, wie die ihrer Gefährten.

      Seine geliebte Shakira war diejenige unter den Menschen gewesen, die - neben seinem nun ebenfalls von ihm gegangenen Bruder – am längsten an seiner Seite gewesen war. Mehr als sechshundert Jahre waren sie Seite