Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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Schrecklichste an Harpya waren jedoch die Wunden auf ihrem Rücken.

      Direkt neben den Schulterblättern war die Haut zerfetzt worden und das rohe, blutige Fleisch bildete eiternde und schwärende Stellen. Aus diesen tiefen, von Maden wimmelnden Wunden waren einst die Schwingen einer Dämonin gewachsen und wer immer es gewesen war, der Harpya gefangen nahm, er – oder sie - hatte diese Schwingen abgetrennt. Sie lagen gut zwei Dutzend Schritte von der gefangenen Dämonin entfernt auf dem Boden. Auch diese Teile einer einstmals eine mordend durch das Land ziehenden Dämonin lebten immer noch. Vielleicht tausend Jahre waren seit Harpyas Gefangennahme vergangen, doch die Wunden würden sich niemals schließen und die Schwingen warteten nur auf den Augenblick, da sie wieder an ihren ursprünglichen und angestammten Platz zurückkehren konnten. Harpyas Körper verzichtete nicht freiwillig auf diesen wesentlichen Teil seiner ursprünglichen Gestalt. Dann aber, wenn dies geschah, mochte der Menschheit selbst der grausamste Tod wie eine göttliche Gnade erscheinen.

      In der Höhle herrschte ein grauenerregender Gestank.

      Der Gestank von Verwesendem und Verwestem, der ätzend scharfe Gestank nach Vogelkot und einer ganzen Reihe anderer, undefinierbarer Gerüche lag in einer solchen Schärfe und Dichte in der Luft, dass die Geruchsorgane eines, die Luft atmenden Wesens, schon beim ersten Einatmen verätzt worden wären.

      Über dem Wesen gab es eine kleine Nase im Fels und von dieser tropfte mit der Regelmäßigkeit eines mechanischen Werkes Wasser herunter. Die einzelnen Wassertropfen fielen dem Wesen auf den nach vorne hängenden Schädel und zerplatzten, rannen als kleine Bäche an den Schläfen des hässlichen Geierkopfes herab, benetzten die Schultern und Oberarme des Wesens, um dann irgendwo zwischen den Kielen des seltsamen Gefieders zu verschwinden.

      Der Rhythmus des herabfallenden Wassers war absolut gleichmäßig und stellte in der Regel das einzige Geräusch in der Höhle dar. Nur dann, wenn das Wesen den Kopf hob, die Augen öffnete und die schwarzen Lichtbahnen durch die Höhle schweifen ließ, wenn es nach einem Rundumblick den Kopf in den Nacken legte und einen seiner schrecklichen Schreie ausstieß, nur dann wurde der Rhythmus des fallenden Wassers unterbrochen.

      Das Wesen war vor langen Jahrhunderten von einem anderen Lebewesen gefangen genommen, in die Höhle gebracht und an den Felsen geschmiedet worden. Ob dieses andere Lebewesen mehr Mensch gewesen war als Harpya, war ein Geheimnis, das vielleicht niemals enthüllt werden konnte.

      Harpya verkörperte das Böse in dieser Welt.

      Der Name des Helden, der dieses Böse in Fesseln geschlagen hatte, war in Vergessenheit geraten. Ebenso hatten die Menschen vergessen, woher er stammte, ob er Mann oder Frau gewesen war, welches seine Sprache war und ob er selbst tatsächlich das Gute verkörpert hatte. Der Held war aus einem fernen Land gekommen und wieder in den Weiten der Welt verschwunden, sobald er sein Werk getan hatte.

      Die Höhle lag im Gestein einer kleinen Insel und diese Insel lag mitten in den menschenfressenden Fluten eines ungebärdigen, wilden und eiskalten Meeres. Die Insel zu erreichen erforderte größtes seemännisches Können, denn nur an wenigen Tagen eines Jahres zeigte sich das Meer von einer Art, die es vorstellbar machte, ein von Menschenhand gebautes Gefährt seinen Wogen anzuvertrauen. Die Insel selbst, kaum mehr als ein Eiland, wurde den größten Teil des Jahres von einer mehr als mannshohen Schicht aus Schnee und Eis bedeckt. Nur die riesigen weißen Bären des hohen Nordens betrachteten diese Insel als einen Teil ihrer Heimat. Die weißen Bären und eine Handvoll derer, die sich selbst Menschen – Inuit – nannten.

      Es hatte eine Zeit gegeben, da war Harpya frei gewesen und in der Lage überall hinzugehen, wonach ihr der Sinn stand. Harpya hatte diese Freiheit weidlich genutzt.

      Sie war es gewesen, die diese Welt in Atem gehalten hatte und immer und überall für Spannung sorgte. Es gab keinen Regierungssitz und keinen Fürstenhof auf der Welt, an dem sie nicht wieder und immer wieder aufgetaucht wäre, um allein mit ihrer Anwesenheit die Atmosphäre bei Hofe zu vergiften. Wenn Harpya auftauchte, brachte sie Neid und Missgunst, Hass und Streit, Mord und Totschlag, heimliche Intrigen und brutale, öffentliche Gewaltakte mit sich und niemand vermochte sich vor Harpyas Einfluss zu schützen oder sich diesem zu entziehen. Von der armseligsten Hütte bis zum vornehmsten Palast, kein Haus und kein Heim waren vor ihr sicher.

      Harpya, so hatten die Menschen das Gefühl, war allgegenwärtig, denn wenn sie an einem Platz für den Moment genug Unfrieden gestiftet hatte, breitete sie ihre gewaltigen Schwingen aus, erhob sich in die Luft und sauste davon, um nur Augenblicke später an einem anderen Platz aufzutauchen, an dem es sich lohnen mochte, das Böse zu schüren und stark zu machen.

      Harpya war die Dämonin des Bösen und sie hatte ein riesiges Betätigungsgebiet.

      Das Land war aufgeteilt. Zahllose kleine Grafschaften und Fürstentümer bildeten eigene Herrschaftsbereiche, die sich untereinander bekriegten und bekämpften. Oft stammten die Herrscher aus demselben Familienschoß und waren eng verwandt. Sie waren Vettern und Basen, auch Brüder und Schwestern und dennoch bekämpften sie einander mit wilder Wut und ohne jedes Erbarmen, denn Harpya war da und sorgte dafür, dass die Boshaftigkeit immer genügend Nahrung fand. Nur wenn stets und ständig irgendwo im Land gekämpft und getötet wurde, fühlte Harpya sich wohl, denn nur dann wurde ihr Blutdurst annähernd gestillt.

      Harpyas gesamte, ihr noch verbliebene Lebenskraft hing an den Erinnerungen an eine Vergangenheit, in welcher sie die Welt mit ihrer Boshaftigkeit beherrscht hatte. Aus diesen Erinnerungen schöpfte die Dämonin ihre Kraft, ihnen verdankte das Wesen, dass seine Brust sich unablässig weiter hob und senkte, dass die Lungen funktionierten und das Herz schlug. Von diesen Erinnerungen wurde der brennende Hass auf alles menschliche Leben auf dieser Welt wach gehalten. In diesen Erinnerungen war der brennende Wunsch verborgen, eines Tages die Fesseln zu zerbrechen und aus der Höhle hinaus in die Welt der Menschen zurück zu kehren.

      Harpya wäre bereit gewesen, alles dafür zu tun, wozu ein Dämon in der Lage ist, hätte sie damit ihre Freiheit wieder gewonnen. Doch die Fesseln an ihren Hand- und Fußgelenken, die stählernen Bänder an Hals und Taille, die Ketten, mittels derer ihre Fesseln am Stein der Höhle befestigt waren, widerstanden allen Versuchen Harpyas, als handelte es sich um die Bemühungen eines kleinen Kindes.

      Wenn der Frust zu groß wurde, wenn sie einmal mehr ihre Ohnmacht hatte eingestehen müssen, dann warf Harpya ihren bizarren Geierschädel in den Nacken und stieß ihre höllischen Schreie aus und jeder dieser Schreie sollte die Menschen erreichen und sie daran erinnern, dass das Böse nicht von dieser Welt verbannt war, sondern nur in einem trügerisch sicheren Gewahrsam gefangen gehalten wurde.

      Doch Harpya war nicht immer allein.

      Es gab Zeiten, da näherte sich ein lebendes Wesen der Höhle und schlüpfte durch den bestens verborgenen und für menschliche Augen absolut unauffindbaren Eingang in die Heimstatt des Bösen und dann geschah etwas, das jeder Vorstellung Hohn spricht. Harpya wurde in einem heftigen und zügellosen Akt von einem kleinen, menschenähnlichen Wesen zu einer ekelhaften Vereinigung gezwungen und wenn dieses Wesen die Höhle wieder verließ, war Harpya schwanger.

      Kurze Zeit später kehrte das Wesen zurück und entfernte die Leibesfrucht durch uralte Magie und geheimnisvolle Chirurgie aus Harpyas Körper und verschwand erneut, um sich lange Zeit nicht mehr wieder zu zeigen.

      Es gab Inuit, die beobachtet hatten, wie sich dieses kleine Wesen dem Berg mit der Höhle näherte und dann plötzlich wie vom Erdboden verschluckt verschwunden war. Keiner dieser Menschen war alt geworden, doch der eine oder andere hatte noch lange genug gelebt, um seine Beobachtungen weiterzugeben.

      So war im Laufe der Zeit eine Sage entstanden.

      Die Sage von einem unermesslichen Schatz im Schoße des Berges?

      Nein, die Sage vom Schoß des Bösen….

      Nordwind

      Die beiden Männer saßen in einem gar nicht einmal so kleinen Zelt, dessen Außenhaut aus zwei Lagen schwerem