Rudolf Jedele

Königreich der Pferde


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dazu bei, Shandras Verstand zu erhalten, ihn vor dem Wahnsinn der Nacht, der Kälte und der Einsamkeit zu bewahren.

      Shandra überließ es den Rentieren vor seinem Schlitten, die Reisegeschwindigkeit zu bestimmen. Er sorgte nur dafür, dass sie in Bewegung blieben und den Schlitten in die von ihm gewünschte Himmelsrichtung schleppten.

      Am frühen Nachmittag des neunzehnten Reisetages erreichte er trotz seines durchschnittlich gemächlichen Tempos zum vierten Mal das Ufer des womöglich gewaltigsten Stroms, den ein Mensch je zu Gesicht bekommen haben mochte. Der Jenizzei mäanderte durch die Tundra wie eine gewaltige Schlange und sein Bett stellte auch jetzt, da der Strom immer noch von einer mehrere Klafter dicken Eisschicht gefangen gehalten wurde, eine unübersehbare Landmarke dar und zugleich ein Hindernis auf dem Weg, das überwunden werden wollte.

      Eine unendliche weiße Fläche, eine unfassbare Weite, scheinbar ohne jede Unebenheit erstreckte sich bis an den Horizont. Eine Ebene, die jedem Betrachter zu sagen schien:

      „Komm, trau dich und betritt mich. Dringe ein in mein Reich und erlebe, wie ich dich vernichte, ohne dass ich mich dazu auch nur im Geringsten rühren müsste.“

      Neunzehn Tage waren vergangen, seit Rollo im Rauch des Feuers zu seinen Ahnen gegangen war. Neunzehn Tage auch, da sich zum ersten Mal ein rosaroter Streifen am östlichen Horizont des Himmels der Polarnacht gezeigt hatte und nun lag die Tag- und Nachtgleiche des Frühjahrs nicht mehr fern. Jeder Tag wurde durch ein wenig mehr Licht erhellt und die Lufttemperatur stieg ganz allmählich bis in den Bereich, da das Eis zu schmelzen beginnen würde.

      Shandra erkannte, dass die Zeit vorüber war, da er in gemütlichem Tempo durch die im Frost erstarrte Tundra bummeln und zugleich seinen Gedanken nachhängen konnte.

      Vier Tage, so schätzte er, müssten genügen, um den Jenizzei ein letztes Mal zu überqueren und danach sollte er in der Lage sein, in höchstens zehn Tagen den Anstieg zum Waldland, zur Taiga zu überwinden und den Saum des Urwaldes zu erreichen.

      Dort würde er seinen Schlitten entladen und all sein Hab und Gut zu vier Packlasten bündeln müssen, welches er den Rentieren auf den Rücken schnallte. In der Taiga war es unsinnig, sich mit einem Schlitten auf eine Reise zu begeben.

      Die Taiga stellte eine weitere Herausforderung für Geist und Körper eines Reisenden dar. Niemand vermochte das Alter der Bäume auch nur zu erahnen, die in diesem Gebiet wuchsen. Sicher war nur, dass das Alter dieses gewaltigen Urwalds nicht in Jahrhunderten sondern in Jahrtausenden zu bemessen war. Die Bäume ragten bis in den Himmel und das Unterholz war zumeist so dicht, dass ein Wanderer froh sein musste, wenn er zu Fuß und mit Packtieren durch kam.

      Shandra war mehrfach bis tief in die Taiga hinein vorgestoßen, doch dann hatte er immer wieder umkehren müssen, weil der Bannzauber der Hexe Sungaeta ihn dazu gezwungen hatte.

      Jetzt, da er am Ufer des Stroms stand, erzeugte der Gedanke an Sungaeta ein grimmiges Lächeln auf Shandras Gesicht. Ein Lächeln allerdings, das selbst unter wohlmeinendsten Umständen niemals als Ausdruck der Freundlichkeit zu deuten gewesen wäre.

      Rollo war gegangen und damit hatte der Bann der Hexe den größten Teil seiner Wirkung auf Shandra verloren.

      Während die Rentiere den schweren Schlitten in flottem Tempo über das Eis des Jenizzei zogen, hing Shandra seinen Gedanken nach.

      Sungaeta war vermutlich die mächtigste unter den zahlreichen Hexen der Rentiervölker. Sie war eine Schamanin, die in innigster Verbindung zu den Welten der Geister und Dämonen stand, so sagte man und sie war uralt. Vielleicht sogar älter als Shandra. Sie wusste von Ereignissen aus angeblich eigenem Erleben zu berichten, die schon weit in der Vergangenheit lagen, als Shandra geboren worden war und sie schien allwissend zu sein. Sie kannte unzählige Einzelheiten aus Shandras Leben. Sie wusste um seine Herkunft und sie wusste um den Verbleib von Shaktar und Sombra. Sie wusste um die Schlachten und Kriege mit den Anglialbions und um Shandras Siege.

      Sie wusste aber nichts über den Verbleib der magischen Klingen und das war es vermutlich gewesen, was sie zu Shandras erbitterter Feindin werden ließ.

      Als die vier Freunde auf ihrer Reise nach Süden das Land Sibirsk durchwanderten und eines Tages die Siedlung Karakorum erreichten, ein Städtchen mit ein paar hundert Einwohnern und zwei Dutzend Handelsposten verschiedener Pelzhändler aus aller Herren Länder, waren sie von Sungaeta bereits erwartet worden.

      Sungaeta war nicht nur Schamanin, sie war zugleich die Herrscherin über Karakorum und über die nördlichen Sippen der Rentiervölker. Ihr Ziel aber war es, die Herrschaft über alle Rentiervölker zu gewinnen und dazu wären die magischen Klingen –wenigstens eine von ihnen – mehr als nur gute Helfer gewesen.

      Die Freunde waren in Karakorum zunächst gut empfangen und im Hause der Schamanin untergebracht worden. Sungaeta hatte große Bankette veranstaltet, um ihre weitgereisten Gäste zu ehren und sie hatte Shandra ins Vertrauen gezogen und ihm ihre Pläne offenbart. Ohne jeden Zweifel war sie von der Ausstrahlung des Kriegers zutiefst beeindruckt gewesen und ließ nichts unversucht, um ihn an ihre Seite zu bringen.

      Sungaeta bewies Geduld und Einfühlungsvermögen und sie akzeptierte, dass Shandras Bindung an Shakira und seine Zusammengehörigkeit mit Rollo und Jelena von größerer Bedeutung waren als alles andere.

      Sie bewies aber auch taktisches Geschick, denn ohne dass es den Freunden bewusst geworden wäre, hatte sie einen Bannzauber gewoben und dafür Sorge getragen, dass keiner ihrer Gäste auch nur auf die Idee kam, Sibirsk wieder zu verlassen. So vergingen die Monde und die Jahre und dann kam, was kommen musste.

      Jelena begann zu altern und starb.

      Rollo trauerte zusammen mit Shandra und Shakira viele Jahre lang um die Gefährtin, doch dann begegnete er der jungen Kithuri und begann sich langsam über den Verlust der blonden Reusin hinweg zu trösten.

      Sungaeta beobachtete und versuchte immer wieder an das Geheimnis der magischen Klingen zu gelangen, doch was immer sie anstellte, sie biss auf Granit. Weder Rollo noch Shakira – von Shandra ganz zu schweigen – gaben ihr auch nur den kleinsten Hinweis über den Verbleib der Schwerter.

      Da begann Sungaeta ärgerlich zu werden.

      Eines Tages verschwanden die beiden wertvollsten Besitztümer Shandras spurlos aus dem Zelt der Freunde. Sowohl die kleine Rolle mit der magischen Haut als auch das Horn Olifant wurden am hellen Tag entwendet und tauchten nicht mehr auf.

      Dann begann es Shakira schlecht zu gehen.

      Zuerst war es nur eine einfache Erkältung, doch aus dieser wurde innerhalb kurzer Zeit ein echtes Siechtum und da die Haut verschwunden war, besaß Shandra keine Möglichkeit, seiner Gefährtin zu helfen.

      Sungaeta ließ keinen Zweifel daran, dass sie Shakira zwar hätte helfen können, aber sie war nicht bereit dies ohne Gegenleistung zu tun.

      „Geh und hole die magischen Klingen aus ihrem Verlies und übergib sie in meine Hände, dann mag deine Geliebte wieder gesund werden und noch viele Jahre an deiner Seite leben. Andernfalls …“

      Ein gelangweiltes Achselzucken ließ offen, was die Alternative zu Sungaetas Forderung sein mochte.

      Shakira starb innerhalb eines Jahres und Shandras Wut auf die Hexe war groß. So groß, dass er, nur um die Hexe zu ärgern, innerhalb weniger Monate eine andere Urenkelin Sungaetas in sein Bett holte. Sorcha war in vielen Dingen eine getreue Kopie Shakiras und ihr gelang, was Shakira nie gelungen war. Sie wurde von Shandra schwanger und gebar in sieben aufeinander folgenden Jahren sieben Kinder.

      Auch Kithuri wurde von Rollo zur Mutter gemacht und mit jedem Kind, welches die beiden jungen Frauen zur Welt brachte, wurde Shandras Weigerung zur Preisgabe seines Geheimnisses konsequenter.

      „Diese Schwerter dürfen niemals wieder in die Hände von Menschen gelangen, denn kein Mensch ist stark genug, der ungeheuren Macht der Klingen auf Dauer zu widerstehen. Eine der Klingen in deiner Hand wäre eine Bedrohung für dein Volk. Zwei der Klingen stellten bereits eine Bedrohung für die Menschheit dar und der Besitz aller Klingen würde diese Welt