Niels Wedemeyer

Walfreiheit


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Fall dabei zu sein. Plötzlich entschwand das Lächeln im Gesicht des Mädchens. Die Übergabe der letzten Urkunden und die anschließenden Reden erschienen ihr nun quälend lang. Wie gerne wäre sie jetzt aufgesprungen und hätte nach ihren Eltern gesucht, aber sie wusste, dass die Pflicht von ihr erwartete, brav sitzen zu bleiben. Eine halbe Stunde später verabschiedete der Vorsitzende der Juroren die Preisträger und Veranstaltungsbesucher mit ein paar freundlichen Worten und ein lebhaftes Gemurmel erhob sich. Die Jugendlichen rannten durcheinander und wurden von sichtlich stolzen Verwandten und Freunden herzlich in den Arm genommen. Von überall her hörte man einen Schwall von Gratulationen und Lobgesängen. In diesem Trubel aber stand ein kleines Mädchen und suchte mit rasendem Herzen nach ihren Eltern. Es konnte nicht sein, dass sie nicht gekommen waren. Es konnte einfach nicht. Nicht heute, am wichtigsten Tag ihres Lebens. Doch der Festsaal leerte sich rasch und eine ratlose Rieke blieb zurück. Ihr schossen tausend Erklärungen für das Fernbleiben der Eltern durch den Kopf. Eine schlimmer als die andere. Es hätte einen Unfall gegeben oder jemand wäre gestürzt. Riekes schmales Gesicht war bleich und matt, als sie durch die große holzverkleidete Vorhalle rannte, in der sich die letzten Besucher am Garderobenschalten drängelten. Inzwischen hatte es ausgiebig zu regnen begonnen, doch Rieke hatte jetzt ganz andere Sorgen. Sie nahm sich ihr Fahrrad und fuhr los. Als sie nach einer halsbrecherischen Fahrt über das glatte Kopfsteinpflaster der Düsternbrooker Straßen endlich das elterliche Haus erreichte, war sie nass bis auf die Haut und die Urkunde hing wie ein schlaffes Tuch in ihrer Hand. Zu ihrer Überraschung parkten vor dem Haus drei größere Transportfahrzeuge und durch die geöffnete Haustür marschierten mehrere Rieke unbekannte Leute hektisch ein und aus. Einige trugen Kameras und lange Mikrofone, während andere ungeduldig Anweisungen schrien. Im großen marmorgefliesten Hausflur breite sich ein Gewirr aus Kabeln und leeren Transportkisten aus. In der allgemeinen Betriebsamkeit bemerkte keiner das kleine Mädchen in der nassen Kleidung, das mit traurigem Gesicht durch das Haus schlich. Das Wohnzimmer war in grelles Licht getaucht und voller Menschen. In der Mitte aber saß, einem Engel gleich, ihre Zwillingsschwester Beeke lächelnd auf dem Sofa, als wäre dieser Trubel die normalste Angelegenheit der Welt. Ihr gegenüber hockte ein fremder spindeldürrer Mann in Vaters Sessel, der sich freundlich zu ihr beugte und Fragen stellte.

      „Wann hast Du festgestellt, dass Du Dinge kannst, die andere Kinder in Deinem Alter nicht können?“

      „Es war, glaube ich, mit Sieben Jahren“, antwortete Beeke brav. „Damals begann ich mich in der Schule zu langweilen. Ich nahm schließlich ein Buch meines Vaters mit in die Schule und lernte in den nächsten Monaten heimlich Französisch.“ Der Mann machte ein erstauntes Gesicht und nickte daraufhin wissend.

      „Das heißt, Du hast mit sieben Jahren Französisch gelernt und dann erst Englisch?“

      „Nein“, Beeke lächelte etwas beschämt, „erst habe ich noch Spanisch und Dänisch gelernt.“

      „Fantastisch“, brach es aus dem Fremden hervor, während der Kameramann bedächtig seine Position änderte.

      „Wenn ich richtig informiert bin, beherrscht Du inzwischen auch noch Portugiesisch, Holländisch und Japanisch.“ Beeke nickte.

      „Aber du bist nicht nur in Sprachen zu unfassbar talentiert, sondern auch in den Naturwissenschaften. Stimmt es, dass Du im Kopf die Wurzel sechsstelliger Zahlen ausrechnen kannst.“ Erneutes zaghaftes Nicken.

      „Wieviel ist zum Beispiel die Wurzel aus 120409?“ Der Reporter beugte sich weit nach vorne, als befürchtete er, etwas Entscheidendes zu verpassen, während Beeke zwei Sekunden lang gedankenversunken die Decke anstarrte.

      „347.“ Der Mann machte ein verblüfftes Gesicht.

      „Richtig. Das ist ja unglaublich.“ Applaus kam von allen Seiten und erst jetzt erkannte Rieke, dass ihre Eltern neben der Bücherwand standen und voller Stolz auf ihre interviewte Tochter blickten. Sie waren also nicht verunglückt, nicht gestürzt. In Rieke brandete in diesem Moment eine Wut auf, wie sie sie niemals zuvor gespürt hatte. Sie schaute bebend vor Zorn ihre bezaubernd schöne Schwester an, deren blonde Locken dekorativ auf die zarten Schultern fielen. Rieke sah die strahlend blauen Augen, die ebenmäßigen Züge ihres unschuldigen Gesichts und das perfekte Weiß ihrer perfekten Zähne. Rieke dachte, sie hätte sich inzwischen an die abnorme Einzigartigkeit ihrer Schwester gewöhnt, doch die Diskrepanz zwischen Beeke und ihrer eigenen plumpen Gewöhnlichkeit war in diesem Moment nur schwer zu ertragen.

      Plötzlich bemerkte Beeke die Schwester und winkte ihr fröhlich zu, worauf sich alle im Wohnzimmer zu Rieke umdrehten und das durchnässte kleine Mädchen mit dem matten Gesichtsausdruck überrascht anstarrten.

      „Wer bist Du denn?“, wollte der Reporter sofort wissen.

      „Das ist Rieke, die Zwillingsschwester von Beeke“, warf der Vater ein und ergänzte hastig, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: „Sie sind zweieiige Zwillinge.“

      „Unverkennbar“, erwiderte der Reporter und schüttelte vieldeutig mit dem Kopf, woraufhin einige der Fremden anfingen zu lachen. Dieses Lachen war es, dass Rieke endgültig zu Boden schlug. Es zermalmte sie regelrecht. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so gedemütigt gefühlt. Während sie weinend die Treppe zu ihrem Zimmer empor lief, rief der Vater wiederholt ihren Namen. Doch Rieke wollte ihn nicht hören. Sie erreichte ihr Zimmer und verschloss hastig die Tür hinter sich. Wenige Augenblicke später wurde die Klinke mehrfach hektisch heruntergedrückt.

      „Rieke, mach sofort auf!“ rief der Vater erbost.

      Doch Rieke kauerte sich nur auf dem Bett zusammen, weinend, fröstelnd, und verfluchte ihre Welt.

      „Wo wart Ihr denn?“ schrie sie, „Ihr hattet es mir versprochen.“

      „Kleine, das Fernsehen hatte sich kurzfristig angekündigt und deshalb …“

      „Beeke, Beeke, Beeke!“, kreischte sie, „immer geht es nur um sie.“

      Einen Augenblick lang herrschte Stille vor der Tür, dann ertönte wieder die strenge Stimme des Vaters.

      „Jetzt stell Dich nicht so kindisch an und mach sofort auf!“

      Doch Rieke mochte jetzt niemanden mehr sehen und schwieg trotzig. Wenig später kamen aufgeregte Stimmen aus dem Erdgeschoss und der Vater ging zurück. Das Mädchen aber blieb auf dem Bett liegen und schluchzte apathisch vor sich hin. Schließlich fiel ihr Blick auf den triefenden Lappen in ihrer Hand. Auf dem aufgeweichten Karton war inzwischen ihr Name so verwischt, dass man ihn nicht mehr erkennen konnte. Es war der letzte Beweis ihres Triumphes, der nun vor ihren Augen verschwand. Das Klavierspiel war das einzige, was sie besonders machte, sie von ihrer unnatürlich hoch begabten Schwester positiv abhob. Doch all das schien jetzt endgültig seine Bedeutung verloren zu haben. In den Augen ihrer Eltern war sie nur der weniger geglückte Zwilling. Nicht so hübsch, nicht so schlau, nicht so einzigartig. Enttäuschung und Zorn mischten sich in ihrem Kopf zu einem gefährlichen Gebräu. Sie stand auf und wankte zu dem weißen Schreibtisch. Wie in Trance zog sie eine Schublade auf, griff hinein und nahm den großen geschwungenen Brieföffner aus Messing heraus. Plötzlich wuchs in ihr der Wunsch, die Welt für erlittene Schmach zu bestrafen. Ohne nachzudenken öffnete sie die linke Hand, setzte die scharfe Klinge des Brieföffners zwischen Daumen und Zeigefinger an und zog die Klinge mit einer schnellen Bewegung zurück. Das Fleisch klaffte augenblicklich auseinander und offenbarte einen tiefen Blick in rosafarbiges Muskelgewebe und blasse Sehnen. Tief, so tief. Voller Entsetzen beobachtete Rieke mit weit geöffneten Augen, wie nach einer gefühlten Ewigkeit die Wunde zu bluten begann. Erst bedächtig, schließlich in Strömen. Dann erst rollte ein bislang nicht gekannter Schmerz heran. Ein Schrei verließ sie, dessen Lautstärke und Intensität sie selber erschrak. Kurze Zeit später wurde die Tür gewaltsam aufgebrochen und mehrere Personen kamen in das Zimmer. Durch die tränengetränkten Augen erkannte sie ihren Vater, der sich tief über sie beugte und mit besorgtem Gesicht ihre Hand begutachtete. Dann schaute er ihr in die Augen und Rieke wusste nicht, ob sie dort Enttäuschung oder Traurigkeit erkannte.

      „Oh, Rieke.“

      26. Dezember 2004, Bang Tao Beach, Thailand

      Es war eine kurze ruckartige Erschütterung,