Niels Wedemeyer

Walfreiheit


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Herausforderungen. Als ihm an diesem verregneten Nachmittag die Kinder gestatteten, mit ihnen zu kommen, schien das Ende der alltäglichen Tristesse endlich gekommen zu sein. Wie ein Forscher auf einem fremden Kontinent beobachtete Dimitrij fasziniert jede Regung, jede Äußerung, jede Tat der ihm so fremden Kinder. Nachdem er ihnen versprach, am nächsten Tag mit Essen und Geld zurückzukommen, gewährten sie ihm einen weiteren gemeinsamen Tag. Schließlich akzeptierten sie ihn trotz seiner offensichtlichen Andersartigkeit als so etwas wie ein inoffizielles Mitglied. Sie nahmen ihn mit auf ihre Beutezüge auf den vornehmen, häufig von Touristen besuchten Plätzen der Stadt und zeigten ihm sogar ihr gut verstecktes Zuhause, einem fensterlosen dreckigen Raum im labyrinthischen Kanalsystem der Stadt. Dimitrij hingegen beteiligte sich weder an den Diebstählen noch an dem ausgiebigen Schnüffeln von Plastikklebstoff nach getaner Arbeit. Er begleitete sie nur, sah ihnen zu und genoss ihre Gegenwart. Es war vor allem ihre uneingeschränkte Kameradschaft, die er vollauf bewunderte. In seiner Welt behandelte man sich scheinbar respektvoller und höflicher, doch aufrichtige Loyalität und Liebe fand man dort nur selten.

      Wie an jedem Tag war auch heute Kolja der Anführer der Gruppe, der selbstsicher den Weg durch die Stadt bestimmte. Dimitrij bewunderte den kräftigen Jungen unverhohlen, und ihn schreckten auch nicht die Geschichten, nach denen Kolja angeblich seinen Vater erstochen haben sollte und nun auf der Flucht vor der Polizei wäre. Die Gruppe ging den Newski-Prospekt entlang, vorbei am prächtigen Beloserskij-Palast und einigen teuren Geschäften, die sich in den letzten Jahren in den prächtigen goldfarbenen Häusern aus der Jahrhundertwende eingenistet hatten. Es waren vor allem exquisite westliche Firmen, die hier ihre für den Großteil der Bevölkerung gänzlich unerschwinglichen Waren anboten. Vor einigen dieser Geschäfte standen schwarz gekleidete Wachmänner und musterten die Kinder misstrauisch - nicht ohne Grund, denn die Gruppe war offensichtlich auf Beutezug. Kasha stieß schon bald Kolja in die Seite und wies auf ein westlich aussehendes Touristenehepaar, das sichtlich beeindruckt die imposanten Gebäude beidseits der Prachtstraße bestaunte. Die Gruppe folgte dem Paar nun in Sichtweite, als es auf den von mehreren wuchtigen Theatern gesäumten Ostrowski-Platz abbog, in dessen Mitte die überlebensgroße Statue von Katharina der Großen zu bewundern war. Die beiden Touristen blieben schließlich vor dem Denkmal stehen, um einige Fotos zu machen. Auf ein geheimes Kommando hin teilte sich die Gruppe wie ein hungriges Wolfsrudel auf der Jagd auf. Kolja nickte anschließend dem kleinen Alexej zu, der sich daraufhin sofort zu den Touristen auf den Weg machte.

      „Habt Ihr mal ’n paar Rubel für mich?“, fragte er in niedlichem Russisch-Englisch und riss dabei seine braunen Augen weit auf.

      Die Frau reagierte wie erwartet und bückte sich lächelnd zu dem zarten Jungen herunter.

      „Oh, Du bist aber ein Süßer“, sagte sie auf Englisch und wollte ihm gerade mütterlich über den Kopf streicheln, als Kasha von hinten den Verschluss ihrer Handtasche öffnete und hineingriff. Der Mann aber war offensichtlich nicht so naiv wie seine Frau und registrierte den Diebstahl aus den Augenwinkeln.

      „Wirst Du wohl Deine dreckigen Finger da weg nehmen!“, brüllte er aufgebracht, woraufhin seine Frau aufschreckte und instinktiv die Tasche an sich riss. Dabei entleerte sich deren Inhalt auf dem verschneiten Platz. Noch ehe das Pärchen ihrer Sachen wieder habhaft werden konnte, hatten die Kinder bereits zugegriffen und rannten zurück zum Newski-Projekt. Überraschenderweise folgte ihnen der Mann schnellen Schrittes und schrie permanent nach der Polizei. Die Kinder hatten fast wieder die Hauptstraße erreicht, als der kleine Alexej auf dem glatten Gehweg ins Rutschen kam und der Länge nach auf dem matschigen Boden landete. Doch bevor der Mann den weinenden Jungen ergreifen konnte, stürmte Kolja zurück und schlug den um einen Kopf größeren Touristen mit einem gezielten Schlag ins Gesicht. Der sichtlich verblüffte Mann begann daraufhin zu torkeln und fiel rücklings auf den Gehsteig. Während der Mann wimmernd am Boden lag und sich unentwegt in das verletzte Gesicht fasste, hob Kolja den Kleinen hoch und rannte mit ihm davon. Dimitrij beobachtete die Szene gleichermaßen mit Schrecken und Faszination. Einerseits entsetzte ihn die unerwartete Brutalität des Anführers, andererseits verblüffte ihn dessen Loyalität gegenüber dem kleinen Alexej. Kolja ging selbstlos ein großes Risiko ein, nur um einem Schwächeren zu helfen, mit dem ihn nichts anderes verband, als die Mitgliedschaft in einer elenden Zweckgemeinschaft. Lediglich Kasha missbilligte das Verhalten des Anführers, denn sie raunzte Kolja giftig an, sobald die beiden Jungen den Rest der Gruppe erreicht hatten.

      „Musste das sein?“

      Kolja aber winkte aggressiv ab und bahnte sich weiter seinen Weg in eine weniger stark frequentierte Nebenstraße des Newski-Prospekts. Die anderen blickten sich stumm an und folgten anschließend ihrem Anführer. Am Tor zu einem schäbigen Hinterhof hielt Kolja an und wartete, bis alle zu ihm aufgeschlossen hatten.

      „Lasst ma sehn, was wir so gezockt habn“, sagte er, ohne noch einmal auf das vorangegangene Ereignis einzugehen.

      Kasha fand bei der Beute einen roten Lippenstift und bemalte sich damit sofort großflächig die Lippen. Unter dem Johlen der Gruppe stolzierte sie anschließend auf und ab wie eine Straßenhure. Ein Handy, zwei Kugelschreiber und ein kleines Nageletui verschwanden in den dreckigen Taschen einiger Kinder, während Kolja konzentriert das kleine ledereingebundene Portmonee durchstöberte.

      „Immerhin 200 Rubel und 50 Dollar“, war sein Fazit, das von der Gruppe mit lautem Geschrei gefeiert wurde, wie der Sieg über eine feindliche Armee. Kolja stemmte seine Arme in die Hüften und fragte:

      „Was sollen wir mitm ganzen Zaster anfangn?“

      „Was zu Essen kaufn“, rief Kasha.

      „Süßigkeiten“, warf Alexej unter dem Gelächter der anderen ein. Schließlich meinte Iwan, ein schüchterner Junge mit Silberblick, sie könnten sich doch jetzt auch eine Flasche Wodka kaufen. Sofort trat Kolja auf ihn zu und schüttelte ihm demonstrativ die Hand.

      „Spitzenidee, Alter“, sagte er laut.

      „Was solln daran spitze sein?“ fragte Kasha ärgerlich.

      „Warum bist `n Du heut` so zickig? Wir wollen doch nur `n wenig Spaß hab`n, eye“, antwortete Kolja mit sanfter Stimme, „oder etwa nich´?“

      Die Gruppe begann wieder lauthals zu schreien und Kasha begriff, dass sie heute mit Vernunft wenig erreichen würde.

      Dimitrij aber schaute dem Ganzen nur amüsiert zu. Er registrierte eine deutliche Veränderung in der Gruppe, die offensichtlich durch den gewaltsamen Angriff auf den Touristen ausgelöst worden war. Bisher waren die kleinen Raubzüge eher harmlose Kinderstreiche als Verbrechen gewesen. Außer dem Verlust von ein paar Rubeln oder Dollars geschah den Opfern üblicherweise nichts. Heute jedoch trat die gefährliche Wildheit der Kinder offen zutage und er war gespannt, wozu diese Kinder noch imstande waren.

      Die Gruppe setzte ihren Weg aus dem Zentrum fort und betrat eine schmale graue Gasse, in der sich um diese Tageszeit keine Passanten aufhielten. Alsbald machte Kolja vor einem kleinen Geschäft mit dreckigen Scheiben halt und nickte den anderen zufrieden zu. Auf einem vergilbten Schild über dem Eingang waren in abgeblätterten Buchstaben die Worte „Newski-Supermarkt“ zu lesen. Doch im Inneren erinnerte rein gar nichts an einen Supermarkt. Lediglich einige verbeulte Dosen fanden sich in den staubigen Regalen sowie einige Spirituosen. Es stank nach kaltem Rauch und altem Schweiß. Dimitrij wunderte es nicht, dass außer dem Besitzer, einem alten mürrischen Mann mit gelber Haut, keine anderen Leute im Laden waren. Während sich die anderen gelangweilt umschauten, ging Kolja zielstrebig auf das Spirituosenregal zu und nahm sich eine Flasche billigen Wodka. Als er damit zu der antik anmutenden Kasse trat und sie auf die Theke stellte, räusperte sich der Alte lautstark.

      „Ich verkaufe keinen Wodka an Gören.“

      „Das is nich für uns“, berichtigte ihn Kolja, „das is für mein`n Vater.“

      „Dann soll Dein Vater gefälligst selbst vorbeikommen und es kaufen“, sagte daraufhin der Alter unfreundlich.

      „Bitte, lieber Mann“, erwiderte Kolja mit gespielt sanfter Stimme, „mein Vater wird mich schlagn, wenn ich dem nicht `n Wodka bringe.“

      „Das ist mir egal. Vermutlich hast Du es