Niels Wedemeyer

Walfreiheit


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endete. Klaas saß in der Falle. Kurze Zeit später erreichte er das Ende des Stegs und starrte auf das Wasser. Hinter ihm kam das Geschrei der Jungen näher und näher. Ohne weiter zu überlegen, sprang Klaas mit einem großen Satz in die letzte Jolle am Steg und schlug dabei hart gegen die Bordwand. Sekunden später versammelten sich die Verfolger über ihm auf dem Steg und verdunkelten die tief stehende Sonne. Doch anstatt zu ihm herunter zu steigen, schrien sie nur weiter ihre Drohungen und Verwünschungen. Klaas verstand diese Reaktion erst, als sich etwas am Heck der schaukelnden Jolle regte und eine tiefe Stimme den Lärm wie ein scharfes Beil zerschnitt.

      „Haltet endlich die Klappe und verschwindet, sonst mach ich Euch Beine!“

      Erst jetzt wurde Klaas des alten Mannes gewahr, der dort ruhig neben dem Ruder saß. Trotz seines Alters schien der Mann ungewöhnlich muskelbepackt zu sein. Doch das, was auf die Jugendlichen wohl den meisten Eindruck gemacht hatte, war dieses harte Gesicht. Inmitten der unzähligen tiefen Furchen funkelten zwei brennende blaue Augen und der hart geschnittene Mund kräuselte sich bedrohlich.

      „Wir wollen nur den Jungen dort“, sagte Tarik schließlich mit heiserer Stimme.

      „Du kleines Arschloch hast hier gar nichts zu wollen“, erklang wieder die Stimme des Alten. Tarik funkelte noch einmal zu Klaas hinüber und gab seinen Gefährten schließlich das Zeichen zum Aufbruch. Klaas starrte noch lange den Jungen wie in Trance nach, noch immer nicht begreifend, wie er dieser aussichtlosen Situation entkommen konnte.

      „Und? Geht’s wieder?“, fragte der Alte nun mit viel sanfterer Stimme. Klaas hätte sich jetzt bedanken müssen oder zumindest die Situation erklären müssen. Stattdessen sagte er nur: „Ich habe heute Geburtstag.“

      „Na dann mal herzlichen Glückwunsch. Ich bin übrigens Heinz“ Der harte Mund krümmte sich zu einem wohlwollenden Lächeln. Klaas erwiderte schüchtern das Lächeln.

      „Hättest Du Lust auf eine kleine Segeltour?“

      Klaas hatte größere Angst vor der Rückkehr an Land, als vor dem seltsamen Alten, denn er zweifelte nicht daran, dass die Jungen vor dem Bootshafen auf ihn warten würden. So nickte er schließlich und schaute dem alten Mann fasziniert zu, wie dieser mit ruhiger Hand die Leinen löste und scheinbar mühelos die Segel setzte. Augenblicke später glitt das Boot lautlos aus der Flussmündung auf die in die frühe Abendsonne glänzende Ostsee hinaus. Klaas spürte den kühlen Wind auf seinen Wangen und die rollenden Bewegungen des Bootes. Er lauschte gespannt dem Schlag der Wellen und dem Flattern der Segel. Und plötzlich gab es für ihn keinen Vater mehr, der ihm nicht gratulierte, kein Hochhaus, das er hasste, keine einsamen Nachmittage, kein verlorenes Königreich. Jetzt gab es nur noch das Meer. Er blickte zu Heinz hinüber, der ruhig am Ruder saß. Klaas wollte ihm so vieles sagen, doch kein Wort kam über seine Lippen. Stattdessen nickte der alte Mann, als verstünde er nur zu gut, was Klaas jetzt meinte. Große Schiffe kamen ihnen entgegen und glitten teilnahmslos vorbei. Das Boot aber nahm unerschrocken Kurs auf das offene Meer. Wie gerne hätte er dem alten Mann jetzt zugerufen, er solle einfach weiter segeln, hinaus in die Welt. Weiter als die zarte Linie, an der das Meer mit dem Horizont verschmolz. Denn Klaas hatte an diesem Abend zum ersten Mal in seinem Leben begriffen, was Freiheit bedeutete.

       2. Ein Kurier mit leeren Händen

      26. Dezember 2004, Bang Tao Beach, Thailand

      Der junge, vornehm gekleidete Mann stand wie verabredet nahe der Mündung des Bang Tao-Kanals und wartete geduldig im Schatten der Palmen auf das kleine Motorboot, das sich lautstark der Küste näherte. Der teure dunkle Anzug und die seidene hellblaue Krawatte des Mannes saßen tadellos, waren aber für die Hitze, die bereits schwer über diesem frühen Morgen lag, gänzlich unpassend. Lediglich die etwas schäbig anmutende graue Umhängetasche wollte nicht so recht zu diesem nahezu perfekten Erscheinungsbild passen. Reglos verfolgte der Mann die Ankunft des Motorboots, in dem zwei mürrisch dreinblickende Thais saßen, die ihm beim Näherkommen ein wortloses Zeichen gaben. Der Mann stieg daraufhin die Treppe zum Kanal herab und schwang sich elegant in das Boot. Ohne dass auch nur ein einziges Wort gewechselt wurde, brauste es von neuem in Richtung Meer davon. Vor dem Strand lagen neben einigen friedlich in den seichten Wellen schaukelnden Fischerbooten auch mehrere luxuriöse Yachten, von denen eine besonders imposant war. Sie maß nicht weniger als fünfundzwanzig Meter und besaß drei Decks, auf denen mehrere Personen gespannt die Ankunft des kleinen Motorbootes beobachteten. Der vornehme junge Mann erklomm als erster die Treppe an Bord, wo bereits vier Thais auf ihn warteten. Ein dicker Mann mit Schnurbart löste sich aus der Gruppe und ging einen Schritt auf den Mann zu.

      „Mr. Petrenko?“ Der Mann im Anzug nickte lächelnd. Diese Frage war völlig überflüssig gewesen, da er vermutete, dass sie ihn bereits schon seit Tagen beobachteten. Ein anderer Mann trat daraufhin vor und tastete Petrenkos Körper gründlich ab, während dieser kooperativ die Arme zur Seite streckte. Nachdem die lästige Prozedur beendet war, gab der dicke Mann dem Russen ein Zeichen, ihm zum oberen Sonnendeck zu folgen. Dort saß lässig in einem übergroßen Rattansessel gelehnt ein älterer Mann in Tenniskleidung, umringt von zwei großgewachsenen Männern mit Sonnenbrillen und zwei hübschen thailändischen Mädchen im Bikini. Die Mädchen entfernten sich sofort.

      „Mr. Petrenko, schön, dass Sie kommen konnten“, sagte der Alte in überraschend akzentfreiem Oxfordenglisch und nickte dem Gast höfflich zu, ohne sich zu erheben. „Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Er wies auf einen freien Rattansessel. Dimitrij Petrenko setzte sich lächelnd und platzierte seine Umhängetasche auf den Knien. Ein Mädchen kam mit einem Tablett zurück und der Alte nahm sich ein Glas, während der Russe dankend ablehnte.

      „Ich bin froh, dass … die Übereinkunft doch noch zustande gekommen ist“, fuhr der Alte fort. Petrenko dachte, wie unschuldig der alte Mann doch jetzt wirkte. Er kannte aber auch andere Geschichten über Phannipha, schreckliche Geschichten, die er nicht weiter auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen wollte. Er glaubte sie einfach.

      „Ich denke, es wird zum beiderseitigen Vorteil sein“, pflichtete ihm Petrenko mit breitem russischen Dialekt bei. Nun kam der Moment, vor dem Petrenko die größte Sorge gehabt hatte. Doch die Anweisung aus Sankt Petersburg, die er überraschend am gestrigen Abend erhalten hatte, war unmissverständlich gewesen.

      „Dennoch, sehr geehrter Mr. Phannipha, gibt es da einen Punkt, den wir noch einmal genauer besprechen sollten“, begann er diplomatisch. Sofort verschwand das onkelhafte Lächeln aus Phanniphas Gesicht und eine spürbare Anspannung legte sich auf die Unterredung.

      „Wir haben ein ähnliches Angebot aus Ko Samui erhalten, ein sehr Gutes, muss ich an diese Stelle erwähnen, das eine geringfügige Nachverhandlung erforderlich macht.“

      „Wir haben Absprachen, verstehen Sie? Feste Absprachen!“, rief Phannipha ärgerlich und die beiden Männer mit den Sonnenbrillen, die offensichtlich nicht verstanden, was hier besprochen wurde, nahmen eine auf mögliche Kampfhandlungen ausgerichtete Stellung ein.

      „Sicher“, versuchte ihn Petrenko zu beruhigen, „dennoch scheint der Marktwert der Ware momentan deutlich niedriger zu liegen, als bislang verhandelt.“

      Phannipha stand auf und schritt ein paar Schritte auf Petrenko zu. Dieser blieb ruhig und gelassen in seinem Sessel sitzen und lächelte weiter freundlich.

      „Marktwert? Soll ich Ihnen mal etwas sagen? Dieser Scheisskerl von Deng versucht nur mit seinen Fantasiepreisen unsere Kooperation kaputt zu machen. Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass er tatsächlich einen niedrigeren Preis als ich akzeptieren würde?“

      „Herr Phannipha“, antwortete Petrenko gelassen, „lassen Sie sich versichern, dass Deng einem deutlich niedrigeren Preis bereits zugestimmt hat. Da wir von ihm eine absolut gleichwertige Ware wie von Ihnen beziehen können, wissen wir nicht, warum wir jetzt noch einen höheren Preis zahlen sollten.“ Er lächelte Phannipha weiter freundlich an, wusste jedoch sehr wohl, in welcher Gefahr er gerade schwebte.

      „Vielleicht wird es Ihre Organisation verstehen, wenn ich ihnen ihren Kurier in Einzelteilen zurückschicke“, zischte Phannipha mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass er meinte,