Niels Wedemeyer

Walfreiheit


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über die Meere treiben ließ und auf diese Weise viele noch unentdeckte Länder ansteuerte. Vielleicht könnte er selbst eines Tages auf einem solchen Schiff als Schiffjunge anheuern. Vielleicht gäbe es dort einen brummigen alten Kapitän, der ihm alles über die Seefahrt beibrachte, und vielleicht auch eine unerschrockene, aber freundliche Mannschaft, mit der er spannende Abenteuer erleben durfte.

      Der Streit hatte sich inzwischen in den ersten Stock verlegt und das hysterische Gebrüll seiner Eltern war auch in Klaas Zimmer gedrungen. Er hatte versucht, sich die Ohren zuzuhalten, doch die Geräusche aus den Nachbarzimmern konnte er nicht aussperren. Im Geiste hatte er die verheulten Augen seiner Mutter vor sich und die Ader auf der Stirn seines Vaters. Als er gehört hatte, dass niemand mehr im Flur war, war er aus dem Zimmer gerannt, die Treppe hinunter und hinaus in den Garten.

      Und nun saß er oben in seinem Baum und schaute durch die Lücken zwischen den Blättern auf die friedliche Welt unter ihm. Klaas sah die Libellen über dem kleinen Gartenteich tanzen, die Spatzen in Scharen aus dem Haselnussbusch herausflattern und voller Lebensfreude wieder zurückkehren. Er sah eine getigerte Katze geschmeidig über die weiße Gartenmauer schleichen und die weiße Wäsche auf der Wäscheleine der Nachbarn wie Segel im warmen Sommerwind flattern. Nein, dachte er, in seinem Königreich gab es keinen Streit.

      Plötzlich öffnete sich die Haustür und seine Mutter trat heraus. Sie hatte offensichtlich aufgehört zu weinen.

      „Klaas“, rief sie mit sich überschlagender Stimme und blickte sich um. Klaas verwarf den ersten Impuls, sich zu erkennen zu geben, und beobachte neugierig, wie sie hilflos im Garten herumging und seinen Namen rief.

      „Klaas, bist Du da? Klaas, Du müsstest einmal zu mir kommen.“

      Da war ein merkwürdiger Ton in ihrer Stimme, der ihn zurückhielt, ihrer Bitte sofort Folge zu leisten. Wenn er es richtig bedachte, klang es sogar wie eine Falle.

      „Klaas, bitte!“ Die Stimme seiner Mutter nahm an Schärfe zu. Widerwillig kletterte er von dem Baum herunter und lief ihr mit einem unguten Gefühl in der Magengegend entgegen.

      „Was ist denn los, Mama?“, fragte er mit betont unschuldiger Stimme. Erst jetzt bemerkte er einen Ausdruck in ihren Augen, den er bei ihr nie zuvor gesehen hatte. Als sie ihn auch noch in ihre Arme schloss, was sie für gewöhnlich nicht zu tun pflegte, war sich Klaas sicher, dass etwas nicht stimmte. Sie beugte sich zu ihm herunter, packte ihn an den Schultern und sah ihn mit einer Intensität an, die er kaum ertragen konnte.

      „Geh bitte hoch in Dein Zimmer und pack Deine Spielsachen und Deine Schulsachen in den Koffer auf Deinem Bett!“

      „Wieso? Verreisen wir denn?“, fragte er voller Unverständnis.

      „So etwas in der Art“, sagte die Mutter weinend, „so etwas in der Art.“

      Sie nahm ihn schließlich an der Hand und führte ihn zurück ins Haus. Als sie am Wohnzimmer vorkamen, sah er seinen Vater regungslos im Sessel sitzen und aus unerfindlichen Gründen die Stehlampe anstarren. Die Mutter aber zog ihn weiter, die Treppe hinauf.

      Auf seinem Bett lag tatsächlich ein großer aufgeklappter Lederkoffer. Die Mutter bemerkte, dass ihr Sohn nicht recht wusste, was er tun sollte, und umfasste seine schmalen Schultern erneut.

      „Pack nur das Notwendigste ein. Den Rest werde ich später abholen lassen.“

      „Wohin fahren wir denn?“, fragte Klaas und seine Augen füllten sich mit Tränen.

      „Weg“, sagte seine Mutter nur und machte Klaas damit mehr Angst, als wenn sie gesagt hätte, dass sie auf den Mond fliegen würden.

      „Kommen wir denn nicht wieder?“

      Die Mutter sah in scharf an und begann hektisch Bücher und Spielzeug in den Koffer zu werfen.

      „Tu einfach, was ich Dir aufgetragen habe.“

      Klaas begann zu weinen. Er verstand das alles nicht. Obwohl er ahnte, dass ihr Handeln schlimme Folgen für ihn haben würde, half er seiner Mutter, verschiedene Dinge aus seinem Schrank in den großen Koffer zu packen und seine Verzweiflung wuchs mit jedem Gegenstand, der in dem Koffer verschwand. Nachdem der Koffer bis zum Rand mit seinen Habseligkeiten angefüllt war, verschloss ihn die Mutter mit zittrigen Händen und trug ihn stöhnend aus dem Zimmer. Klaas aber blieb stehen und blickte sich noch einmal in seinem Zimmer um.

      „Komm schon!“, ermahnte ihn die Mutter scharf, woraufhin er ihr die Treppe hinunter folgte. Seine letzte Hoffnung war nun sein Vater. Vielleicht würden sich beide jetzt wieder versöhnen, wie so oft, und alles wäre wieder gut. Aber Vater saß noch immer mit versteinertem Gesicht in dem Sessel und starrte vor sich hin.

      „Papa“, rief Klaas, doch der Vater zeigte keine Reaktion.

      Auf der Kieseinfahrt wartete bereits ein Taxi auf sie. Der Koffer wurde verladen und Klaas von der Mutter auf die Rückbank gezerrt. Das Taxi drehte und fuhr zum breiten Tor hinaus. Klaas starrte zurück und sah auf die große Rotbuche.

      25. Dezember 2004, Bang Tao Beach, Thailand

      „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Wie sehr Klaas diesen Spruch doch hasste. Wer bitte schön war schon so anmaßend, zu glauben, dass jeder aus eigener Kraft das Glück erlangen könnte. Kein Blinder wird jemals von der Magie eines Sonnenuntergangs gerührt werden können, so sehr er es auch versuchte. Und welcher Mensch, der sein Leben in elendster Armut fristet, wird jemals ohne Sorge leben können. Klaas dachte an die gerne verwendete Legende vom Aufstieg eines Tellerwäschers zum Millionär. Er war sich sicher, dass dieses naive Märchen nur erfunden wurde, um das triste Schicksal der allermeisten Menschen auf dieser Welt einigermaßen erträglich zu machen. Ansonsten würde doch jeder Benachteiligte irgendwann gegen die Ungerechtigkeit dieser Welt aufbegehren. „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Klaas nahm noch einen Schluck aus der Whiskyflasche, die er bei einem Straßenhändler in Patong erworben hatte, und schnaubte verächtlich. Der Umkehrschluss dieses beschissenen Sprichworts war sogar noch schlimmer. Es bedeutete nämlich nichts anderes als das auch jeder für sein persönliches Unglück selbst verantwortlich war. Schließlich könnte er sich ja jederzeit sein Glück selbst schmieden, wenn er sich nur genügend anstrengte. Also Ihr Armen, Verkrüppelten, Einsamen und Ausgebeuteten, Ihr Hässlichen, Verlassenen und Todkranken, reißt Euch endlich zusammen und nehmt Euer Schicksal selbst in die Hand und werdet verdammt noch mal glücklich!

      In finsteren Gedanken verstrickt schaute Klaas aus der offenen Seite des Tuk Tuks auf den bedrohlich schwarzen Dschungel, der an ihm vorbeirauschte. Gelegentlich blitzte in der Ferne das silbrig funkelnde Meer zwischen den Bäumen auf und verschwand wieder, wie ein feiger Spitzbube, der geduldig auf seine Chance wartete. Die Flasche war bereits zur Hälfte geleert und Klaas spürte, wie seine Sinne allmählich auseinanderfetzten. Die penetranten Zweitackterabgase taten ein Übriges. Aber es war genau das, was er in diesem Moment brauchte. Er konnte diese Welt nicht mehr nüchtern ertragen.

      Es war nicht so sehr die Tatsache, dass das Leben nicht immer schön war und auch von Krisen und Langeweile, Trauer und Tristesse geprägt war. Nein, darin war Klaas geübt. Es war vielmehr die Verlogenheit, die ihn so verzweifeln ließ. Und die größte Lüge dieser Welt war die Liebe. Vielleicht war ja der Mensch von Natur aus nicht dazu geschaffen, dauerhaft zu lieben. Aber warum veranstaltete dann alle Welt dieses Brimborium um ewige Liebe und nicht enden wollender Treue, wenn es letztendlich doch nur eine naive Illusion darstellte? Aber anscheinend reichten vierzigtausend Jahre Menschheitserfahrung nicht aus, um diese offensichtliche Fehleinschätzung ernsthaft zu hinterfragen, dachte Klaas bitter. Im Gegenteil. Jedes Jahr gibt es Millionen neuer Brautkleider in weißem Brokat, Millionen neuer gold glänzender Eheringe und Berge frisch gedruckter Heiratsurkunden, um wieder und wieder Heere von hoffnungslosen Romantikern ihrem unentrinnbaren Unglück zuzuführen. Warum das alles? Klaas nahm einen weiteren Schluck. Er wusste, warum sich die Menschen dem Wunschtraum von der Liebe anhingen, wie der Verdurstende der Hoffnung auf die rettende Oase. Weil wir ohne Liebe nichts anderes sind als emotionale Krüppel, deren Existenz eine einzige Farce ist. Und so ist es nur begreiflich, dass uns nichts mehr antreibt als das Gefühl des Verliebtseins. Auch er hatte Rieke bedingungslos geliebt. Immer schon. Und tat es noch.