Niels Wedemeyer

Walfreiheit


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Jetzt nach all den Jahren war er plötzlich allein. Sie hatte ihre Liebe für nichts anderes als eine profane Karriere als Klinikärztin geopfert. So wenig war ihr ihre Liebe am Ende noch wert gewesen. „Klaas, Du Trottel, Du hättest alles für diese Liebe geopfert, selbst Dein Leben, und hast einfach nicht erkannt, dass Deiner Frau diese Liebe letztendlich nichts mehr bedeutete.“

      Voller Wut schleuderte Klaas die Flasche aus dem offenen Tuk Tuk. Der Fahrer vor ihm zeigte jedoch keine Regung, sondern starrte weiter auf den nächtlich schwarzen Asphalt. In der Ferne tauchten die ersten Lichter der Hotelanlagen auf, die sich wie Perlen an einer Kette am Strand von Bang Tao aneinanderreihten. Das Tuk Tuk verließ schließlich die Hauptstraße und nahm Kurs auf ein großes angestrahltes Gebäude in einem Meer aus Palmen. Als der Fahrer vor dem Hauptportal zum Stehen kam und den Motor abstellte, traf Klaas die plötzliche Stille der Nacht wie ein Schlag. Stark wankend stieg er aus, wühlte er in seinem Portmonee nach den passenden Scheinen und verabschiedete sich unartikuliert von dem freundlich lächelnden Fahrer. Nachdem er sich mit einiger Mühe an der Rezeption den Schlüssel seines Cottage besorgt hatte, torkelte er auf einem kleinen gepflasterten Pfad durch die parkähnliche Anlage. Von überall her drangen Fetzen westlicher Musik und leises Stimmengemurmel. Die kleinen Scheinwerfer entlang der Fußwege, tauchten die Anlage in ein eigentümliches Licht. Klaas wusste nicht mehr genau, wo er sich befand. Schließlich bemerkte er eine kleine Frau mit halblangen dunklen Haaren auf einem der parallel verlaufenden Wege. „Rieke“, durchfuhr es ihn voller Freude und er bahnte sich taumelnd den Weg quer durch die Bepflanzung. Als er mehrmals lauthals ihren Namen rief, drehte diese sich endlich um und blickte ihn mit erschrockenem Gesicht an. Nein, es war nicht Rieke, stellte er enttäuscht fest und entschuldigte sich unbeholfen. Klaas blickte sich irritiert um und erkannte zu seinem Leidwesen, dass er nun völlig die Orientierung verloren hatte. In der Dunkelheit sahen alle Cottages gleich aus. Die gleichen orange-braunen Außenmauern, die gleichen Holzterrassen, die gleichen Bepflanzungen mit exotischen Gewächsen. Klaas nahm den Schlüssel aus der Hosentasche und versuchte im schwachen Schein der Wegbeleuchtung die Nummer zu identifizieren. Vergebens. Irgendwas mit Neun am Ende, dachte er und spürte allzu deutlich, wie ihm der Verstand die Gefolgschaft verweigerte. So marschierte er einfach los und nahm die vielen Cottages auf seinem Weg näher in Augenschein. Schließlich stand er vor einem Haus, das ihn vage an sein Feriendomizil erinnerte. Zu Klaas Verwunderung brannte innen Licht und seine Hoffnung auf Riekes Rückkehr wurde aufs Neue entfacht. Bereits auf der Veranda rief er ihren Namen, doch aus dem Inneren des Hauses kam keine Reaktion. Schließlich öffnete er die nicht abgeschlossene Tür. Aufgrund der Inneneinrichtung meinte er sein Cottage wiederzuerkennen. Die hohe Decke mit den dunklen Holzstreben, das breite Rattanbett mit der großen Truhe davor und das quadratische erdfarbene Bild mit dem abstrakten Schneckenmuster über dem Bett. Doch als Klaas sich den Raum näher besah, fanden sich zu seiner Verwunderung ihm unbekannte Kleidungsstücke auf dem Sessel. Und auf dem Bett lag ein schmaler aufgeklappter Koffer, an den er sich partout nicht erinnern konnte. Er taumelte näher an das Bett und warf einen unsicheren Blick in das Innere des Koffers. Zu Klaas Überraschung war er bis zum Rand mit fein säuberlich gestapelten Bündeln von Dollarnoten angefüllt. Er starrte mit offenem Mund auf diese unfassbar große Menge Geld, ohne das sein Verstand diesen Umstand in irgendeinen logischen Zusammenhang bringen konnte. Erst ein Geräusch aus dem Badezimmer ließ Klaas aufschrecken. Im nächsten Moment stürzte sich ein junger Mann in Unterwäsche auf ihn und schlug ihn mit einem gezielten Schlag auf das Kinn zu Boden. Keine Sekunde später waren Klaas Arme schmerzhaft auf den Rücken gedreht, während der Fremde ihn auf einer unbekannten Sprache anschrie. Vermutlich russisch, dachte Klaas, während der Schmerz in seiner Schulter an Heftigkeit zunahm. Der junge Mann schrie weiter ohne Unterlass auf ihn ein und Klaas bekam allmählich Angst, nicht mehr mit heiler Haut aus dieser Situation herauszukommen. Immer wieder keuchte er ein verzweifeltes „No, I’m sorry“, bis der Fremde ihn schließlich auf die Beine zerrte und grob in Richtung der Tür schob. Der junge Mann öffnete die Tür elegant mit dem Fuß, ohne Klaas aus seinem gnadenlosen Griff zu entlassen, und stieß den Betrunkenen anschließend hinaus. Klaas schlug der Länge nach auf die Holzplanken der Veranda. Ehe er sich wieder aufrappeln konnte, war die Tür bereits wieder zugeschlagen.

      Klaas fragte sich noch immer, in was er da wohl gerade hineingeraten war. Am wenigsten verstand er dabei die ungewöhnlich aggressive Reaktion des jungen Mannes, zumal es doch offensichtlich war, dass er sich lediglich im Haus geirrt hatte. Unter Schmerzen rappelte er auf und blickte noch eine Weile auf die verschlossene Tür, wobei er sich sicher war, dass der Russe ihn immer noch beobachtete. Nachdem er sich einigermaßen gesammelt hatte, machte er kehrt und gelangte wenig später an den breiten Stand von Bang Tao, der gespenstisch hell im Mondlicht leuchtete. Einem spontanen Impuls folgend zog er sich seine Kleidung aus und ging geradewegs in das lauwarme Wasser, dass inzwischen glatt wie ein Binnensee war. Während er auf das offene Meer hinausschwamm, wich allmählich die Trunkenheit aus seinem Körper, doch das Gewirr seiner Gedanken blieb. Da waren die Gefühle für Rieke. Das Bedürfnis, sich bei ihr für sein Verhalten zu entschuldigen, ihr den Fehltritt zu vergeben. Da war aber auch der Wunsch, sie endgültig zu verlassen und sein Leben von Grund auf neu zu beginnen. Und dann war da der Anblick des vielen Geldes, der ihm immer wieder ins Gedächtnis kam. Klaas fragte sich, wie viel Geld das wohl gewesen sein mochte und was der junge Russe damit wohl anfangen wollte. Und schließlich, wozu er selbst das Geld wohl benutzen würde. Er wusste es nicht, er wusste nichts mehr. Klaas stoppte seine Schwimmbewegungen und blickte zurück. Vor ihm lag die große Bucht von Bang Tao mit den vielen kleinen Lichtern, der exklusiven Hotelanlagen stammten. Dahinter erhoben sich die bewaldeten Hügel von Phuket, in denen es Affen und wilde Elefanten gab. Ein wahres Paradies, dachte Klaas, nur nicht meins. Vielleicht gibt es nirgends ein Paradies für mich und das bisherige Unglück war das Beste, was mir jemals passieren würde. Während er zurückschwamm, überlegte er, was passieren würde, wenn ihn das schwarze Meer in diesem Moment einfach hinunterziehen würde. Was würde von ihm bleiben? Ein paar Erinnerungen an ihn vielleicht, ein paar seiner wissenschaftlichen Artikel in irgendwelchen Büchereien, die wahrscheinlich nie mehr jemand lesen würde. Vermutlich würde Rieke um ihn trauern, eine Weile zumindest, ehe auch sie sich wieder ihrem Leben widmen würde. Nein, dachte er niedergeschlagen, die Welt würde ihn nicht vermissen, wenn ihn das Meer jetzt verschlingen würde. Aber die See war ruhig an diesem Abend und machte keinerlei Anstalten, ihn in die Tiefe zu ziehen. So erreichte Klaas wohlbehalten den Strand, nahm sich seine Kleidung und ging zurück in die Hotelanlage. Ohne Schwierigkeiten erreichte er sein Cottage zwischen Palmen und den exotisch duftenden Büschen. Kein Licht brannte. Kein Geräusch drang aus dem Inneren. Vielleicht war Rieke inzwischen heimgekehrt und hatte sich schlafen gelegt. Doch als er aufschloss und das Licht anknipste, war das Zimmer leer. Die Uhr auf dem kleinen Nachttisch zeigte fünf Minuten vor Mitternacht. Erst wollte er einer spontanen Eingebung folgen und nach Patong zurückzufahren, um nach Rieke zu suchen, doch dann überwältigte ihn die Müdigkeit. Er fühlte sich plötzlich so unendlich entkräftet, dass er nur noch mit Mühe in der Lage war, seine nassen Sachen abzustreifen und ins Bett zu fallen. Er würde auf Rieke warten und sich für sein Verhalten entschuldigen, dachte Klaas, ehe er in tiefen Schlaf fiel.

      21. April 1973, Kiel, Deutschland

      Das Schlimmste an seinem neuen Zuhause war nicht etwa das winzige Kinderzimmer, das ewig dunkle Wohnzimmer oder das feuchte fensterlose Bad. Nein, es war der Ausblick. Wenn Klaas aus seinem Kinderzimmerfenster hinausschaute, sah er hinter der Förde die dunklen Hügel von Düsternbrook, dem vornehmen Kieler Stadtteil, in dem sein verlorenes Königreich lag. Er konnte es nicht verhindern, aber sobald er am Fenster stand, schaute er wie von einer geheimnisvollen Kraft angezogen über das Wasser und dachte sehnsüchtig an seine Rotbuche, die jetzt einsam im Garten seines Vaters stand. Er hatte lange gehofft, sein Vater würde ihn gelegentlich zu sich holen, so dass er wie früher im Garten spielen konnte, aber das tat Vater nicht. Fast jede Woche war inzwischen ein neuer Gerichtstermin angesetzt, und zu einigen davon musste auch Klaas erscheinen. Doch sein Vater würdigte ihn dann keines Blickes, so sehr es Klaas sich auch wünschte. Obwohl sein Vater immer schon eher streng als freundlich, eher pflichtbewusst als liebevoll gewesen war, vermisste ihn der Junge sehr. Wie alles aus seinem früheren Leben in Düsternbrook. Aber der Ehekrieg hinterließ nicht nur bei Klaas seine Spuren, sondern auch bei seiner Mutter. Sie wirkte ausgemergelt und war ständig gereizt. Manchmal weinte sie ganze Nächte hindurch, so dass sich Klaas unwillkürlich