Niels Wedemeyer

Walfreiheit


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Übels zu sein.“ Obwohl der Tellerrand bereits vor abgeschobenen Pflanzenstücken rot leuchtete, schienen im Essen immer mehr von ihnen aufzutauchen. Resignierend stellte Klaas fest, dass er diesen Kampf wohl verlieren würde.

      „Klaas, ich finde das jetzt etwas widerlich. Dann lass es doch lieber stehen.“

      „Ich habe aber verdammt noch mal Hunger“, antwortete Klaas lauter als geplant. Und wieder kamen die neugierigen Blicke von den benachbarten Tischen.

      Das nächste Bier wurde geleert und ein doppelter Whisky bestellt.

      Nachdem wieder minutenlang schweigend gegessen wurde, legte Rieke plötzlich ihr Besteck ab und schaute Klaas ernst an.

      „Du meinst also, ich würde Dich vernachlässigen?“

      Klaas stocherte weiter in seinem Essen, als hätte er die Frage nicht mitbekommen.

      „Hast Du etwa das Gefühl, Du würdest noch besonders viel in diese Beziehung investieren?“, entgegnete er leise, ohne aufzublicken. Rieke machte einen sichtlich erschrockenen Eindruck und lehnte sich zurück. Obwohl sie versuchte, es zu unterdrücken, füllten sich ihre Augen mit Tränen.

      „Geht es hier wieder um Anneke?“

      „Nein“, sagte Klaas hektisch, als wollte er dieses Thema auf jeden Fall vermeiden, „hier geht es darum, dass Du Dich in den letzten Jahren geändert hast. Zum Nachteil für unsere Beziehung. Meiner Meinung nach bist Du diejenige, die sich fragen muss, wie sie noch zu unserer Beziehung steht. Nicht ich.“

      „Du machst es Dir sehr leicht, Klaas“, antwortete Rieke mit brüchiger Stimme, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. „Ich habe Dich gebraucht, aber Du warst nicht da“, flüsterte er, „Du hast Dich weiter in Deine Arbeit geflüchtet, während ich zuhause mit meinen Gedanken eingesperrt war. Ich hätte auch gerne eine Karriere gehabt, die meinem Leben in dieser Situation Sinn und Halt gegeben hätte, aber die hatte ich nicht. Ich hätte auch gerne eine Zukunft, an der ich mein Leben neu ausrichten kann, aber ich habe scheinbar keine.“

      „Dein Selbstmitleid kotzt mich manchmal an“, entgegnete Rieke wütend, „was tust Du denn bitte schön, um wieder eine berufliche Perspektive zu bekommen? Ich kann mich an keine Bewerbungsschreiben erinnern, an Telefonate mit ehemaligen Kollegen, um neue Möglichkeiten auszuloten.“

      „Spar Dir Deine Arroganz!“, zischte Klaas sie wütend an, „Du weißt genau, wie gering die Chancen für einen Übervierzigjährigen in der Wissenschaft sind.“

      „Dann schau Dich im Ausland um“, unterbrach ihn Rieke.

      „Das hättest Du wohl gerne.“

      „Immer noch besser, als Dich zuhause zu verkriechen und die Welt um Dich herum zu verfluchen, denn die ist nicht Schuld an Deiner Situation.“

      „Ach nein? Du meinst also, die Art, wie man mich aus dem Institut entfernt hat, wäre fair abgelaufen?“

      „Das habe ich nicht gesagt, aber …“

      „Ich hatte eben keinen Protegé“, warf Klaas wütend ein, „der mir den Weg ebnet. Vermutlich biete ich für so eine solche Unterstützung zu wenig sexuelle Anreize.“ Den letzten Satz sagte er eher unbedacht und bereute ihn sofort wieder. Dennoch war in Riekes Augen deutlich die Bestürzung darüber zu erkennen.

      „Du sprichst mir also die Fähigkeiten ab, durch meine Leistungen als Ärztin und Forscherin meine Karriere selbst voranbringen zu können?“

      „So habe ich das nicht gemeint. Aber Deine unbestrittenen Leistungen sind sicherlich für diesen hinterhältigen geilen Bock von Wensing nicht der einzige Grund gewesen, Dich zu fördern. Es würde mich nicht wundern, wenn er als Gegenleistung erwartet, dass Du mit ihm schläfst.“ Klaas lachte zynisch und kippte sich einen weiteren Whisky hinunter. Dann fiel ihm plötzlich Riekes Gesichtsausdruck auf, der sich innerhalb eines winzigen Augenblicks geändert hatte. Da war nicht mehr dieser trotzige Ausdruck in ihren Augen, die wütend zusammengekniffenen Augenbraun, der schmale Mund. Jetzt war in diesem Blick Angst und Verzweiflung. Ihre Lippen zitterten und das Gesicht war puterrot. Klaas versuchte diese unerwartete Veränderung richtig zu deuten, versuchte, sich jedes seiner Worte noch einmal in Erinnerung zu rufen. Einem unkontrollierten Impuls folgend formten sich seine Lippen und die Worte verließen seinen Mund, ohne von ihm noch einmal auf mögliche Folgewirkungen überprüft worden zu sein.

      „Schläfst Du mit ihm?“

      Klaas meinte, Riekes Augen hätten sich noch mehr geweitet. Es vergingen wenige Sekunden, die ihm wie eine ewig andauernde Folter vorkamen. Rieke schüttelte den Kopf, während ihr Ströme von Tränen über das Gesicht liefen und ihre Kopfbewegung Lügen straften.

      „Oh Gott“, entfuhr es ihm und er raufte sich die Haare. Es war, als würde der letzte Faden, der ihn vor dem endgültigen Absturz bewahrt hatte, jetzt wie in Zeitlupe zerreißen. Nun gab es nichts mehr als die Dunkelheit. Ihre Fingerspitzen berührten seinen Arm und brannten auf seiner Haut wie ein glühendes Eisen, so dass er zurückzog. Wie konnte sie ihn nur so verraten. Und dann noch mit so einem Schwein wie Wensing. Wie in Trance stand er auf und taumelte. Rieke sagte noch etwas, doch er wiegelte ab. Nein, nein, zu spät. Jetzt ist alles aus. Er bahnte sich stolpernd den Weg zum Ausgang. Vorbei an all den glücklich grinsenden Pärchen, an all dieser unerträglichen Fröhlichkeit.

      13. August 1972, Kiel, Deutschland

      Wie so oft in diesem Sommer saß er auch jetzt hoch oben in der großen Rotbuche und schaute hinab auf sein Königreich, wie er es im Geheimen nannte. Die schattige Rasenfläche, die ausladende Terrasse und die kiesbedeckte Einfahrt. Mit ein wenig Anstrengung konnte er sogar noch die Passanten beobachten, die gelegentlich an der langen weißen Mauer vorbeischlenderten. Er selbst aber war hinter den starken Ästen und dem dichten Blattwerk vor allen Blicken verborgen. Das ungewöhnlich starke Längenwachstum des letzten Jahres hatte es ihm endlich ermöglicht, auch die höheren, bislang unzugänglichen Stockwerke des alten Baumes zu erreichen. Und dort wartete ein wahres Paradies auf ihn. Hier gab es nicht nur eine üppige Verzweigung mächtiger Äste, die ihm ein bequemes, stundenlanges Sitzen ermöglichte, sondern auch ein tiefes Astloch, in dem sich vortrefflich kleine Kostbarkeiten wie Schokolade, Sammelkarten oder Murmeln verstecken ließen. Andere Kinder hätten das Versteck vermutlich sofort ihren Freunden gezeigt. Aber Klaas Petersen war nicht so ein Kind. Es gab nicht viele, die er guten Gewissens Freunde nennen konnte, und diesen wenigen hätte er sicherlich nicht seine geheime Welt offenbart. Er blieb lieber für sich allein und beobachtete das Treiben der Welt, ohne sich daran zu beteiligen.

      An diesem Tag gab es noch einen weiteren Grund, die Welt außerhalb seiner Baumkrone zu meiden. Seine Eltern hatten sich mal wieder lautstark gestritten, geschrien, Türen zu geschmissen, geweint, sich eingeschlossen. Klaas konnte diese Streitigkeiten, die mindestens einmal im Monat scheinbar aus dem Nichts aufbrandeten, nicht ertragen. Eltern sollten sich nicht streiten, das wusste er genau, zumindest nicht so oft und so laut, wie es seine Eltern für gewöhnlich taten. Gerne wäre er dazwischen gegangen und hätte versucht, zu schlichten, aber er verstand den Grund der Streitereien nicht. Manchmal glaubte er, es würde gar keine Gründe dafür geben, ohne sich vorstellen zu können, wie so etwas funktionieren sollte.

      Der Streit an diesem Tag hatte direkt nach dem Mittagessen begonnen. Klaas Mutter hatte plötzlich etwas wie „unerträglich“ und „Ignorant“ gebrüllt und in der Küche lautstark einen Teller zerschmissen. Bei dem Geräusch war Klaas zusammengezuckt und hatte schleunigst sein Zimmer im ersten Stock aufgesucht. Auf der Treppe war ihm sein Vater begegnet, der ihn mit wutverzerrtem Gesicht angestarrt hatte, als hätte Klaas selbst etwas mit dem Streit zu tun gehabt. Der Junge hatte die geschwollene Ader gesehen, die dem Vater quer über die Stirn lief. Wenn Vater nicht wütend war, konnte man sie nicht sehen. Sie war für Klaas so etwas wie ein unzweideutiges Alarmsignal. Nachdem er die Tür seines Zimmers behutsam geschlossen hatte, um den Zorn seiner Eltern nicht auf sich zu ziehen, hatte er sich etwas sicherer gefühlt. Hier oben gab es keinen Streit. Hier war die Welt noch, wie sie sein sollte. Klaas hatte sich an den breiten weißen Schreibtisch am Fenster gesetzt, um sich mit dem Malen eines Bildes abzulenken. Wie so oft hatte er das Segelschiff